Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und die Drittgrößte der Welt. Lange konnte es davon träumen, in der Weltliga mitzuspielen, doch dafür ist in Zeiten der Krisen und imperialistischen Rivalitäten zwischen USA und China kein Platz mehr. Eine Periode ökonomischer und politischer Zerrüttung, der Instabilität und des Klassenkampfs bricht an. Von Martin Halder.
Die deutsche Wirtschaft befindet sich bereits im zweiten Rezessionsjahr und auch für 2025 hat das Land die schlechtesten Wirtschaftsprognosen unter den 20 größten Industrienationen (G20). Im Vergleich zum Höchststand 2017/18 wird im gesamten produzierenden Gewerbe um rund 15% weniger produziert. In allen wichtigen Sektoren – Auto, Metall, Maschinenbau, Chemie etc. – kommt es zu Massenentlassungen und Werksschließungen. Die Kapitalisten fordern harte Angriffe und die Ampel-Regierung ist im November an dieser Krisensituation zerbrochen.
Sowohl die Herrschenden als auch die Arbeiterklasse und Jugend können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Doch was war bisher?
Exportweltmeister der Herzen
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der deutsche Kapitalismus unter der Schirmherrschaft der USA wieder aufgerichtet. Vor allem in den Sektoren Automobil, Maschinenbau und Chemie wurden riesige Wirtschaftsmonopole aufgebaut. Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sowie der Expansion nach Osteuropa (und dem Balkan) war der Optimismus der Herrschenden grenzenlos: Das deutsche Kapital wollte sich zur eigenständigen Weltmacht aufschwingen.
Zuerst schien dieser Traum aufzugehen. Obwohl Deutschland ein Bruchteil der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung der USA oder Chinas hat, konnte es sechs Jahre in Folge (2003-2008) mehr exportieren als jedes andere Land auf der Welt. Insbesondere billiges russisches Gas und die Vorherrschaft in der EU garantierten diesen Aufstieg. Zudem schuf die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (1998 – 2005) unter dem Schlagwort Agenda 2010 durch massive Kürzungen der Sozialleistungen einen der „besten Niedriglohnsektoren“ (Schröder) Europas.
Der Arbeitsdruck stieg, doch die Investitionen in Produktion und neue Technologien gingen zurück. Der VW-Konzern verkaufte zu dieser Zeit über 11 Mio. Autos mit manipulierten Abgaswerten („sauberer als sauber“ lautete der Werbeslogan damals). Ein treffendes Beispiel für die Fäulnis und Stagnation der imperialistischen Epoche.
Schwächste Glied der Weltimperialisten
Während Deutschland eine Zeit lang über seinem Gewicht boxen konnte, wurde die ökonomische Basis dafür immer hohler und die Industrie rutschte ab 2018 in eine Krise, die sich 2020 (Corona) und 2022 (Ukraine-Krieg) weiter verschärfte.
Im immer stärkeren Wettkampf der US-amerikanischen und chinesischen Imperialisten miteinander wird Deutschland zerrieben.
Die USA, die bereits 1972 (ergebnislos) versuchte, den Anschluss der BRD an russische Gas-Pipelines zu verhindern, schaffte es 2022 durch die Sprengung der Nord-Stream dieses strategische Ziel durchzusetzen. Seitdem exportiert die USA ihr Flüssiggas (LNG) ins Land und sorgt für deutlich höhere Energiekosten (Einfuhrpreise +50% seit Jänner 2021). Die Kappung der wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland mussten die deutschen Kapitalisten widerwillig akzeptieren.
China wiederum hat weltweit die größte Überproduktion, die es zu Lasten aller anderen am Weltmarkt exportieren muss. Während die deutsche Automobilindustrie 2023 so wenig produzierte wie seit den 1990er nicht mehr, sind die chinesischen Autohersteller inzwischen federführend in neuen Technologien (E-Autos, Plug-In-Hybrid). VW verkaufte 46% ihrer Autos 2023 am chinesischen Markt, aus dem sie nun immer weiter rausgedrängt werden. Weiters hat Trump bereits hohe Zölle für Mexiko angekündigt (wo deutsche Autos für den Export in die USA produziert werden). Die Krise der Automobilindustrie hat also gerade erst begonnen.
Das wichtigste Werkzeug im internationalen Konkurrenzkampf ist die Europäische Union. Hier finden zwei Drittel des deutschen Außenhandels statt. Von der Summe der Wirtschaftsleistung könnte es die EU mit den USA und China aufnehmen, doch sie besteht aus 27 verschiedenen Nationalstaaten mit letztlich unterschiedlichen Interessen.
Besonders im zunehmenden Kampf um Einflusssphären wurde die EU eine stumpfere Waffe für die deutschen Kapitalisten. So setzte eine Mehrheit der EU-Länder – mit Frankreich an der Spitze – Zölle auf E-Autos aus China durch – gegen den Willen Deutschlands.
Politische Erschütterung
Ein weiterer wichtiger Grund für die dominante Stellung Deutschlands war seine politische Stabilität. Während Europa nach 2008 politisch zerrüttet wurde (gr. Staatsbankrott, BREXIT, franz. Krisenregierungen etc.) regierte in Deutschland 16 Jahre lang Angela Merkel (2005 – 2021). In ihrer letzten Phase überdeckte ihre politische Statur die aufkeimenden Widersprüche nur noch. Wäre Merkel nicht in die Politpension gegangen, wäre sie bei den Wahlen 2021 abgestraft worden. Seither führte die „Ampel“ (SPD, Grüne, FDP) das Land durch die Krisen.
Der Unmut geht tief, besonders die Jugend hat Angst vor Krieg in Europa (81%), Armut (67%) und Umweltzerstörung (64%) und wenig bis kein Vertrauen in Parteien (78%), Bundestag (62%) oder Medien (54%).
Durch das vollständige Versagen der Arbeiterparteien (SPD, Linke), den Klassenkampf zu organisieren, sprechen ausschließlich demagogische Kräfte die Wut der Bevölkerung an.
Die AfD ist in den Umfragen inzwischen zweitstärkste Partei auf Bundesebene und erreichte bei den letzten drei Landtagswahlen im Osten – in Brandenburg (29,2%), Sachsen (30,6%) und Thüringen (32,8%) – ihre besten Ergebnisse. Aufgrund ihrer Positionierung gegen EU und Euro sowie ihrer Verbindungen zu Russland und rechtsextremen Netzwerken ist sie ein destabilisierender Faktor für die Bürgerlichen, den sie mit allen Mitteln aus jeder Regierungsverantwortung heraushalten wollen.
Auf der anderen Seite hat sich dieses Jahr das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als Abspaltung der Linkspartei gegründet, welches bei den erwähnten Landtagswahlen zwischen 11,8 und 15,8% erreichte. Doch während die AfD zu Recht behaupten kann, eine reaktionäre Anti-Establishment-Partei zu sein, besteht das BSW aus einer Reihe etablierter Politiker – aus der Linken, den Gewerkschaften und teils aus der SPD – die bereits in der Vergangenheit auf regionaler Ebene die Staatsgeschäfte mitverwalteten und dies auch weiter tun möchten.
Dies brachte das BSW schnell in innere Widersprüche: Während Wagenknecht versuchte, ihre Partei aus jeder Regierung herauszuhalten, um weiter auf dem Anti-Establishment-Kurs dazugewinnen zu können, hatten die Landeschefs in Thüringen und Brandenburg eine kurzsichtigere Perspektive und gingen vor Ort sofort Regierungsverhandlungen ein. Das zuvor deklarierte Nein zur Stationierung von US-Mittelstrecken-Raketen in Deutschland wurde als Koalitionsbedingung fallen gelassen.
Das Kapital fordert Agenda 2030
Der deutsche Kapitalismus muss unter dem enormen Druck der Krise verzweifelt versuchen, sich völlig neu auszurichten. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat bereits im September ein Programm für eine „neue industriepolitische Agenda“ vorgelegt – eine Agenda 2030, die die sozialen Angriffe von Schröder bei weitem in den Schatten stellt.
Der Plan verlangt ein gigantisches Investitionsprogramm von 1.400 Mrd. bis 2030. Dafür soll die Arbeiterklasse zahlen: durch massive Einsparungen der Sozialausgaben, Deregulierung des Arbeitsrechts und der Kollektivverträge, Kürzungen bei Wohngeld, Pflege und Pensionen sowie durch die Erhöhung der Arbeitszeit. Der BID-Präsident dazu: „Bei 42 Stunden fällt doch nicht jeder tot von der Stange.“
In der Investitionssumme nicht inkludiert sind die Militärausgaben, die bis 2028 auf 2% (plus Ukrainehilfen und Sondervermögen) der Wirtschaftsleistung angehoben werden, um die Profite am Weltmarkt auch materiell absichern zu können.
Klassenkampf am Horizont
Die Ampelregierung hat sich als für das Kapital handlungsunfähig herausgestellt – zu langsam und inkonsequent waren die Einsparungen und Investitionen. Egal, welche Konstellation bei den Neuwahlen im Februar die Regierungsgeschäfte übernimmt (aktuell führt die CDU die Umfragen an), ihr Programm wurde von der BDI bereits vorgezeichnet: Harte Angriffe auf die Arbeiterklasse.
Doch dies werden die Massen nicht kampflos akzeptieren. Im Dezember streikten knapp 100.000 bei VW für mehrere Stunden, für Jänner sind 24 Stunden Streiks geplant. Unter den Hammerschlägen der Krise formt sich eine neue Schicht von Klassenkämpfern, die keine Illusionen hat, dass der Kapitalismus je wieder eine schöne Zeit für uns bereithält. Die kommende Regierung wird die Wut über den Status-quo zum Explodieren bringen – nicht nur in Form von Streiks, sondern auch in Form von spontanen Ausbrüchen des Volkszorns, ähnlich zur Gelbwestenbewegung in Frankreich 2018.
Nur die Arbeiterklasse kann der kapitalistischen Dauerkrise ein Ende bereiten, indem sie die großen Monopole enteignet und sie frei von Profitinteressen einem demokratischen Plan unterwirft.
(Funke Nr. 229/12.12.2025)