Europa: Wettrüsten in den Abgrund

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht es offen aus: „Das Zeitalter der Einflusssphären und des Machtwettbewerbs ist wieder da.“ Die Arbeiterbewegung muss reagieren. Von Lukas Frank.
Um mindestens 800 Mrd. € sollen die Rüstungsausgaben der EU-Mitgliedsstaaten in den nächsten vier Jahren zusätzlich erhöht werden. Das entspricht beinahe einer Verdopplung der Rüstungsausgaben.
Finanzieren sollen dies neue Staatsschulden der Mitgliedsstaaten (650 Mrd. €). Dazu werden Rüstungsausgaben von bestehenden EU-Verschuldungsreglungen ausgenommen. Für Rüstungskredite in Höhe von 150 Mrd. € haftet die EU selbst, dies soll bereits hochverschuldeten Staaten eine günstigere Teilnahme am Wettrüsten ermöglichen. Um die politische Ausgestaltung dieser Kreditlinie gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich, wobei sich letzteres durchsetzte: Mit EU-Geld dürfen nur europäische Waffensysteme finanziert werden. Der Waffenimport europäischer Länder hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, die USA haben hier einen wachsenden Marktanteil von 62 %. Die jetzige Entscheidung ist ein Vorteil für Frankreichs Rüstungsindustrie, die nach den USA das zweitgrößte Rüstungsexportland der Welt sind.
Den ersten Schritt hat Deutschland gemacht, wo die Schuldenbremse für Militärausgaben abgeschafft wurde und 500 Mrd. € in den nächsten 10 Jahren zusätzlich in Aufrüstung investiert werden soll. Die gleiche Summe fließt auch in die kaputte deutsche Infrastruktur, weil diese nicht mehr kriegsfähig ist.
Macrons Regierung gibt eine erste Rüstungsanleihe in der Höhe von 5 Mrd. € zur Finanzierung der 4.000 Rüstungsbetriebe des Landes aus. „Kapitalismus und Patriotismus ergänzen sich und müssen verbunden werden“, wirbt Verteidigungsminister Lecornue um das Geld von Kleinsparern.
Auch in Österreich hat die amtierende Faschingskoalition das Ziel gesetzt, Österreichs Rüstungsausgaben bis 2032 auf 2% des BIPs zu verdoppeln. Mit dem Aufbauplan, der schon von der Vorgängerregierung festgelegt wurde, sollen 17 Mrd. € in militärisches Equipment fließen. 200 zusätzliche Pandur Radpanzer wurden schon um 2 Mrd. € bestellt, genauso wie 36 Helikopter um 1 Mrd. €, und 6 Mrd. € für die Anschaffung der „Sky Shield“ Raketenwaffen.
Es ist klar: Diese Pläne in Stahl und Beton zu gießen, wird der Gesellschaft viel Schweiß und Blut abverlangen. Daher werden schon jetzt herkulesgleiche Anstrengungen europäischer Politiker, Medien und Staatsinstitutionen aufgebracht, um der Arbeiterklasse „den Ernst der Lage einzuhämmern“ (D. Tusk, Ministerpräsident Polens).
Die Propaganda lautet: Ein titanischer Kampf demokratischer gegen autokratische Gesellschaftssysteme intensiviere sich, mit der EU an vorderster Front. In fünf Jahren sei Russland bereit, die EU anzugreifen. Die USA – immer mehr im Lager der Autokraten – lassen die EU im Stich. Wir müssten uns gegen die äußeren Diktatoren verteidigen, dafür müsse die EU an einem Strang ziehen und jeder den Gürtel enger schnallen.
Die schmutzige Wahrheit liest man im Weißbuch zur europäischen Verteidigung der EU-Kommission:
„Der strategische Wettbewerb nimmt in unserer weiteren Nachbarschaft zu, von der Arktis über das Baltikum bis hin zum Nahen Osten und Nordafrika. Russland […] schürt immer wieder Spannungen und Instabilität in der europäischen Nachbarschaft, sei es auf dem westlichen Balkan, in Georgien, Moldawien oder Armenien, und hat einen wachsenden destabilisierenden Einfluss in Afrika.“
Es herrscht Wirtschaftskrise, der Weltmarkt kontrahiert. Um Profite zu machen, müssen sich Konzerne und ihre Nationalstaaten gegenseitig ins Gehege kommen. Immer mehr schlägt es darin um, den strategischen Konkurrenten handelspolitisch und militärisch aus dem Spiel zu nehmen.
Der Imperialismus europäischer Staaten ist im Wettstreit der Großen schwach aufgestellt. Erfolgreich auf der großen weltpolitischen Bühne ist er nur als Juniorpartner der USA. Das wird bei den „Friedensverhandlungen“ zur Ukraine deutlich, die aktuell exklusiv zwischen den USA und Russland stattfinden. Auf Basis militärisch getesteter Kräfteverhältnisse versuchen die amerikanischen und russischen Räuber ihre Beute „fair“ zu teilen. Es geht um Fragen wie die Kontrolle des Schwarzen Meeres, wer in den Wiederaufbau der Ukraine investieren darf, welche Rationen (insbesondere Erdgas) Europa von wem bekommt, die Aufhebung der 3000+ Sanktionen gegen Russland und ob die USA freie Hand bekommt, um den Iran und seine Verbündeten im Nahen Osten weiter zurückzudrängen
Die europäischen Staatenlenker versammeln sich, aufgeregt wie ein Hühnerstall, wöchentlich in London, Paris und Brüssel um teils unterschiedliche, teils ähnliche militärische Koalitionen zu schmieden, die es ihnen erlauben, am reich gedeckten Gabentisch namens Ukraine Platz zu nehmen. Diese Geschäftigkeit hat einen Grund: Sie haben an die 150 Mrd. € in diesen Krieg investiert, jetzt drohen sie um ihr Investment samt Zinseszins umzufallen.
In Gier vereint, zeigt sich hier aber auch große Uneinigkeit zwischen den europäischen Staaten. Die großen Pläne von EU-Außenministerin Kallas, eine Falkin (Hardlinerin) im Krieg gegen Russland, das drohende Aus von US-Rüstungslieferungen durch EU-Lieferungen zu kompensieren sind vorerst gescheitert. Frankreichs Präsident Macron hat die Hand über dem von den USA gekündigten Präsidenten Selenskyj, London setzt eher auf den abgesetzten ukrainischen Armeechef Saluschnyj (aktuell Botschafter in London), Italiens Ministerpräsidentin Meloni unterstützt tendenziell Trump.
Gemeinsam schmieden sie Pläne, dass europäische Truppen wichtige Häfen, Städte und Verkehrsknotenpunkte der Ukraine besetzen, um das wachsende strategische Gewicht Russlands in Europa wieder auszugleichen. Blöd gelaufen: Ein Jahrzehnt versuchten sie, die Ukraine zum Rammbock gegen Russland aufzurüsten, doch am Schlachtfeld neigte sich das Schicksal zugunsten des Kremls.
Aber die EU ist eben keine geeinte imperialistische Macht, eine europäische Militärmission in der Ukraine ist ohne Zustimmung der USA nicht möglich.
Das erste Problem Europas ist politischer Natur und liegt in der Gespaltenheit und der Konkurrenz der EU-Kapitalisten untereinander. Dann der seit Jahren stagnierende Lebensstandard der europäischen Arbeiterklasse. „Kanonen statt Butter“ hat das Potential, viel politischen Unmut in der Arbeiterklasse auszulösen.
Weiters ist der militärisch-industrielle Komplex Russlands bereits vollständig auf Kriegsproduktion umgestellt und produziert genug Material in 6-12 Monaten, um eine Armee im Umfang der gesamten deutschen Bundeswehr auszurüsten.
Die USA haben knapp 80.000 Soldaten in Europa stationiert. Selbst mit erhöhten Rüstungsausgaben würde es die EU fünf bis zehn Jahre kosten, um die Kapazitäten der USA zu ersetzen – Nuklearwaffen ausgenommen. Militärisches High Tech Equipment kommt vorwiegend aus den USA, z.B. 1108 aller 2064 Kampfflugzeuge. Ohne Zustimmung der USA können diese Maschinen keinen einzigen Kampfeinsatz fliegen. Angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Interessensgegensätze zwischen EU und USA fragt die Financial Times besorgt „Können die USA die Waffen Europas ausschalten?“
Die EU-Staaten wollen massiv rüsten, um beim Plündern der Welt vorne mit dabei zu sein. Die Kosten dafür wird die Arbeiterklasse in voller Härte spüren.
Das verdeutlicht die derzeitige Umstellung der Industrie auf Kriegsproduktion. In Deutschland wurde kürzlich in Görlitz eine neue Panzerfabrik eingeweiht, wozu ein Werk des Zugherstellers Alstrom zur Panzerschmiede umfunktioniert wurde. Statt Regionalzügen und Straßenbahnen werden dort nun Komponenten für den Kampfpanzer Leopard hergestellt.
Arbeit und Ressourcen, die in Zügen stecken, sind nicht verschwendet, sondern tragen zu besserer Infrastruktur und damit Produktivität der Gesellschaft bei. Rüstungsproduktion ist aber staatlich organisierte Verschwendung gesellschaftlicher Arbeit und materieller Ressourcen.
Finanzierung unproduktiver Ausgaben durch eine neue Staatsschuldenorgie bedeutet, dass die Inflation weiter angeheizt wird und das Potential für Wirtschaftswachstum sich reduziert.
Staatsschulden werden von „Investoren“ nicht geschenkt, sondern sie werden mit Zinseszins zurückgezahlt. Schon jetzt ächzen wichtige EU-Staaten unter hohen Zinszahlungen, 2028 soll Frankreich 5,2 % des gesamten Budgets an Zinsen zahlen, in Italien sollen es 8,2 % sein. Die EU-Kommission stellt eine nüchterne Wahrheit fest: „Die Mitgliedstaaten würden das Niveau der höheren Ausgaben durch schrittweise Repriorisierungen innerhalb ihrer nationalen Budgets aufrechterhalten müssen“ – also der militaristischen Anschubfinanzierung folgt härteres Sparen oder höhere Massensteuern.
Während die Arbeiterklasse den Gürtel enger schnallen soll, reiben sich die Kapitalisten die Hände.
Rheinmetall konnte in den letzten 3 Jahren seine Profitrate um 50% steigern, erhöhte die Dividende im selben Zeitraum um denselben Wert und der Preis seiner Aktien versechtzehnfachte sich. Preistreiberei macht es möglich: Der Preis für eine 155mm Artilleriegranate stieg vom Beginn des Ukrainekrieges von geschätzt 800€ pro Stück auf aktuell 5000€. Der Einkaufspreis des Pandur-Panzers für das österreichische Bundesheer hat sich von 2021 bis 2024 um 128 % erhöht.
Auch die Banken schneiden kräftig mit. Dank der hohen Nachfrage nach Staatsschulden ließen Investoren die Zinsen auf 10-jährige deutsche Staatsanleihen auf den höchsten Wert seit 1990 steigen.
Kurz: Die Ausgaben für Rüstung sind eine unproduktive Umverteilungsorgie von der Arbeiterklasse hin zu Banken und Konzernen.
Militarisierung nach außen bedeutet auch Militarisierung nach innen. Nichts fürchten die Herrschenden mehr, als dass die nationale Einheit gegen den äußeren Feind entlang von Klassenlinien aufbricht. Wer die sozialen und politischen Interessen der Arbeiterklasse ernsthaft vertritt, wird als ausländischer Agent gebrandmarkt.
Das neue Regierungsprogramm ist hier sehr explizit: „Österreichs Sicherheit und Wehrhaftigkeit gegenüber feindlichen Einflüssen von innen und außen müssen auf allen Ebenen verbessert werden.“ Dafür soll das Vereinsgesetz verschärft, Anmeldungen von politischen Kundgebungen erschwert und die Befugnisse der Polizei erweitert werden.
Auch die Medienfreiheit soll eingeschränkt werden, denn „die Verbreitung von falschen Narrativen, Fake News und manipulativen Inhalten untergräbt das Vertrauen in unsere Institutionen und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, so Staatssekretär Jörg Leichtfried (SPÖ).
Unter dem Slogan der geistigen Landesverteidigung sollen dafür auch die Schulen mobilisiert werden. Die Interessenlage der eigenen herrschenden Klasse wird als Wahrheit verkauft. Etwa auf welcher Seite die Guten und die Bösen im Ukrainekrieg stehen, oder dass der Völkermord an den Palästinensern eine Aktion zur Befreiung von Geiseln sei. Damit soll militaristischer Geist gestärkt werden, für Herbst ist dann eine Verlängerung des Präsenzdienstes angekündigt.
Die Demokratie in Europa gegen Russland schützen, heißt also in erster Linie, Wahrheit unkenntlich zu machen und demokratische Rechte einzuschränken.
Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, erklärt, warum nur Waffen Frieden schaffen:
„Europa muss sich diesem Wettrüsten anschließen und es gewinnen. Ich bin überzeugt, dass Russland dieses Wettrüsten verlieren wird – so wie die Sowjetunion ein ähnliches Wettrüsten vor 40 Jahren verloren hat.“ Das sei der Weg, „um einen größeren, groß angelegten Konflikt zu vermeiden.“
Atomwaffen sind auch bereits Teil der Debatte, darüber „sollte man in der Öffentlichkeit aber nicht reden“, warnt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des EU-Parlaments Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) im ORF. Wir werden sehen, dass diese Zurückhaltung eine kurze Halbwertszeit hat. Neben der aktuellen Atommacht Frankreich gelten auch Polen und Deutschland als europäische Kandidaten für nukleare Aufrüstung, berichten die Financial Times (24.03.). Militärstratege Franz-Stefan Gady erklärte in besagter ORF Diskussion („Waffen für den Frieden“, 23.03.), dass Atomwaffen jedenfalls in der Hand einzelner europäischer Nationalstaaten sein müssten, um ihren militärischen Zweck zu erfüllen, EU-Atomwaffen sind angesichts der Rivalität zwischen den EU-Nationalsaaten militärisch zwecklos.
Dieses Wettrüsten wird die wirtschaftliche Krise befeuern und damit auch die Interessengegensätze der Imperialisten vertiefen. Kriegsfit zu sein heißt Kontrolle über Länder zu erlangen, die wichtige Ressourcen für die Rüstung besitzen oder von geopolitischer Bedeutung sind. Die EU-Länder importieren fast alle wichtigen Mineralien für die Rüstungsindustrie, weshalb sie „strategische Partnerschaften” mit Afrika anstreben. In Rumänien, wo mit Neptun Deep von der OMV eine wichtige Alternative zu russischem Gas erschlossen und die größte NATO-Basis Europas ausgebaut wird, intervenierte die EU in den Präsidentschaftswahlen, um einen pro-russischen Wahlsieger abzusäbeln. In Bosnien steigen gerade Spannungen entlang derselben Konfliktlinien.
Gelder fließen in die Rüstungsindustrie der verschiedenen EU-Nationalstaaten, weil eine gemeinsame europäische Rüstungsindustrie nur Teilprojekte entwickeln konnte. Die laufende Militarisierung Europas wird letztlich auch die Konflikte zwischen den Staaten der EU selbst verschärfen.
Die imperialistischen Kriege sind keine Kriege um moralische oder demokratische Werte, sondern Kriege zwischen Kapitalisten um ihre Profite. Die Arbeiterklasse keines imperialistischen Landes kann sich auf die Seite ihrer Herrschenden stellen, ohne gegen die eigenen Interessen zu handeln. Die europäischen Herrschenden sagen, „unterstützt uns in unseren Anstrengungen, um Sozialstaat und demokratische Rechte zu beschützen“ während sie beides zerschlagen, um besser ihre Interessen auf der Welt zu schützen. Es ist eine Sackgasse, die nur eine Schlussfolgerung zulässt: Der Kapitalismus muss überwunden werden. Erst auf dieser Basis können Europas Völker untereinander und mit der Welt friedlich kooperieren.
(Funke Nr. 232/24.03.2025)