Nach dem Vorbild der Russischen Revolution bildete sich auch in Österreich eine starke Rätebewegung. Julia Brandstätter beleuchtet dieses außergewöhnliche Kapitel der österreichischen Geschichte.
Mit dem Schwinden der vom Krieg längst ausgezehrten obrigkeitsstaatlichen Kräfte begann die Habsburgermonarchie 1918 in eine revolutionäre Krise zu schlittern. Der Massenstreik der MetallarbeiterInnen im Januar kündigte die Umwälzung der Gesellschaftsordnung an. Die ArbeiterInnen forderten nicht nur Maßnahmen gegen den Hunger und das sofortige Kriegsende, sondern bildeten auf Initiative der sogenannten „Linksradikalen“ (eine revolutionäre Strömung im „Verband Jugendlicher Arbeiter“, die in Auseinandersetzung mit Lenins Kritik an der 2. Internationale mit dem Reformismus gebrochen hat) im Zuge des Streiks Räte nach russischem Vorbild und schufen sich so eigene Kampforgane. Am Höhepunkt des Jännerstreiks legten ca. 750.000 ArbeiterInnen die Kriegsindustrie lahm. Die Sozialdemokratie erschrak im Angesicht der spontanen revolutionären Energie und stellte sich notgedrungen an die Spitze der neuen Räteorganisation. Ihre Aufgabe sah sie jedoch darin, die revolutionären Wogen zu glätten und die Massen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bringen.
Die Räte blieben zwar pro forma bestehen, doch hatten sie in den kommenden Monaten eher symbolischen Charakter als eine reale Funktion. Die politischen Weichenstellungen wurden nach der Niederlage der Juli-Streiks in Wien von der Sozialdemokratie ohne Miteinbeziehung der Massen getroffen. Als im Herbst 1918 die Revolution die Habsburgermonarchie hinwegfegte, spielten die Arbeiterräte keine Rolle. Der Zerfall der k.u.k. Armee und der Offiziersautorität hinterließ jedoch ein Machtvakuum, das die Soldatenräte, die sich nun spontan bildeten, zum Teil ausfüllten. In der Volkswehr, der neuen Streitkraft der bürgerlichen Republik, hatten sie großen Einfluss, womit sich eine Doppelherrschaft ergab. Die kommunistischen Teile dieser Bewegung wollten schon am 12. November 1918 eine sozialistische Republik erzwingen, scheiterten jedoch aufgrund ihrer sektiererisch-putschistischen Taktik.
Eine sozialistische Revolution lag allein schon aufgrund der internationalen Entwicklung auch in Österreich auf der Hand. Die Tatsache, dass die Republik und ein demokratisches Wahlrecht nur mit den Mitteln des Klassenkampfs von der Arbeiterklasse erkämpft werden konnten, setzte die soziale Revolution auf die Tagesordnung. Dass dem so war, lassen die warnenden Worte von Otto Bauer erahnen: „Die Massen sind von Ungeduld erfüllt, die Massen meinen, es sei Zeit, weiterzugehen und die zunächst rein politische Revolution weiterzuführen zu einer sozialen. Demgegenüber müssen wir besonnen und fest bleiben, wir müssen handeln wie ein Feldherr, der, wenn eine feindliche Stellung genommen worden ist, seine Truppen nicht sofort weiterstürmen läßt, sondern zunächst dafür sorgt, daß das, was erobert wurde, befestigt werde“. Diese sozialdemokratische Taktik des Verzögerns und Vertröstens auf eine künftig wie automatisch kommende soziale Umwälzung wird uns immer wieder begegnen.
Die Macht lag auf der Straße, doch die Sozialdemokratie weigerte sich, diese revolutionäre Situation zum Sturz des Kapitalismus zu nutzen und half den Bürgerlichen wieder auf die Beine. Die österreichische Revolution blieb daher im Stadium einer bürgerlich-demokratischen Revolution stecken, die mit proletarischen Mitteln und Methoden erkämpft wurde und aus eben diesem Grund eine mit weitreichenden sozialen und politischen Errungenschaften bestückte parlamentarische Republik formte.
In der ersten Etappe der Revolution, von November 1918 bis zu den ersten Wahlen im Februar 1919, festigte die Sozialdemokratie die bürgerliche Demokratie. Die Massen wurden auf die Parlamentswahlen orientiert. Gleichzeitig reagierte man auf den Druck von unten und begann mit der Umsetzung erster sozialer Reformen. Die Arbeiterschaft verlangte aber unmittelbare Antworten auf die soziale Not, was zum Ausbruch heftiger Klassenkämpfe führte. Hunger, Elend und massive Arbeitslosigkeit schürten das revolutionäre Feuer.
Mit der Ausrufung der Räterepubliken in Bayern und in Ungarn drängte sich auch in Österreich unweigerlich die Frage nach einer Machtübernahme durch die Räte auf. Fritz Adler, der an der Spitze der Arbeiterräte stand, erteilte dieser Perspektive jedoch eine Absage. Trotzdem spitzte sich die Nachkriegskrise im April in einer revolutionären Eskalation zu.
Die ArbeiterInnen drängten in den Industriezentren auf die grundlegende Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Die massive Mobilisierung der Massen zwischen April und Juni drückt sich nicht zuletzt in den hohen Beteiligungszahlen bei den Urwahlen in die Arbeiterräte aus: etwa 800.000 ArbeiterInnen gaben ihre Stimme ab.
Indes versuchte die Sozialdemokratie, die mit den Christlichsozialen eine Koalitionsregierung bildete, mit sozialpolitischen Reformen und dem Versprechen auf eine rasche Sozialisierung der Wirtschaft die revolutionäre Energie in „geordnete Bahnen“ im Rahmen der bürgerlichen Demokratie zu lenken. Gleichzeitig schürte sie Ängste vor der Übermacht der Konterrevolution und beschwor die Notwendigkeit, den bürgerlich-revolutionären Horizont nicht zu überschreiten.
Im Gefolge der Unruhen des Frühjahrs und Sommers 1919 spitzten sich die innerparteilichen Diskussionen zu. Eine „Neue Linke“ fand zusammen und formulierte folgende Prinzipien: Rätesystem statt Parlamentarismus, scharfe Oppositionspolitik statt Koalition, Einigung des Proletariats und Annäherung an die KP (sofern diese ihre ultralinke Taktik ablegte). Diese Strömung konnte ihren Einfluss in der von der Koalitionspolitik desillusionierten Basis des Arbeiterrats beträchtlich ausdehnen. Im Wiener Kreisarbeiterrat sympathisierte zeitweise ein Drittel der Arbeiterräte mit der „Neuen Linken“, die im Oktober 1919 die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Arbeiterräte (SARA) gründete. In ihrer Grundsatzerklärung verlautbarte sie: „Das Ziel der sozialen Revolution ist die planmäßige, vollständige und möglichst rasche Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn das Proletariat die politische Macht ergreift und sich als herrschende Klasse konstituiert. Das tauglichste Kampfmittel zu diesem Zwecke sind die revolutionären Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte.“ Doch sahen die Mitglieder der SARA den Zeitpunkt einer Machtergreifung noch nicht gekommen. Sie plädierten lediglich für den planmäßigen Ausbau des Rätesystems als „richtigste Vorbereitung des Sieges“ und waren nicht imstande, Fritz Adler und der Parteiführung ein vollständiges Gegenprogramm entgegenzustellen. Die SARA hat die Parteilinie in relevanten Punkten also nicht wirklich verlassen und repräsentierte somit nur die radikalere Version des Austromarxismus, dessen Hauptvertreter auf Biegen und Brechen den bürgerlichen Charakter der Revolution argumentierten und aktiv durchsetzen.
Die Enttäuschung und Frustration der ArbeiterInnen über die Koalitionspolitik wuchsen im Herbst 1919 schlagartig an und drängten die SARA zu einer konsequenteren Haltung. Als schließlich ein Streit in der Regierung über die geplante Vermögensabgabe entbrannte, wurden die Klassengegensätze im grellsten Licht offengelegt. Die eingezogenen Vermögensbestände der besitzenden Klasse sollten für das Notwendigste an Nahrungsmitteln und Rohstoffen aufgewendet werden, um die Not zu lindern und den Hunger zu beseitigen. Im Februar 1920 forderte die SARA die Abgabensätze der großen Vermögen auf ein Maximum anzuheben und Kriegsgewinne bis zu 96 Prozent einzuziehen. Letztlich brach die SARA mit der eigenen Partei.
Im Sommer 1919 hatte die österreichische Rätebewegung, unter dem Eindruck der ungarischen Räterepublik, den Höhepunkt ihrer politischen Wirkungsmacht erreicht. Wenngleich die meisten der dem Austromarxismus geistig verhafteten Arbeiter- und Soldatenräte eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft nicht erstrebten, so zeugte die Ausdehnung des direkten Einflusses auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse von der zumindest vorübergehenden Wirksamkeit der Räte, insbesondere der 12.500 gewählten Arbeiterratsmandatare an der Basis der Bewegung. Die Organe der proletarischen Selbstbestimmung und Selbstorganisation waren zu Organen der Kontrolle der staatlichen Verwaltung geworden und übernahmen in einzelnen Bereichen auch Exekutivfunktionen.
Die Arbeiterräte wirkten aufgrund der Gewichtigkeit und Dringlichkeit vor allem in zwei Bereichen: In der Ernährungswirtschaft (wegen der quälenden Lebensmittelnot) und im Wohnungswesen (wegen mangelndem Wohnraum und elenden Wohnbedingungen). Sie halfen bei der Aufbringung und Verteilung von Lebensmitteln sowie im Kampf gegen Wucher, Schleichhandel und „Rucksackverkehr“. Mit der Aufnahme ihrer Arbeit fanden von Juni bis Oktober 1919 täglich 78 Enteignungen statt. Diese Vorgehensweise war notwendig, um die Existenzsicherung der Bevölkerung zu gewährleisten. Nicht zuletzt war die Einbindung der Arbeiterräte in die Organisation der Ernährungswirtschaft aber auch aus bürgerlicher Sicht zweckmäßig, um Hungeraufständen vorzubeugen
Der zweite große Wirkungsbereich war das Wohnungswesen. Die Arbeiterräte wirkten in dieser Zeit vor allem im Bereich der „Wohnungsanforderung“, also der Nutzbarmachung von vorhandenem Wohnraum, übten Beratungstätigkeiten aus und wirkten bei Exekutionen mit. In Wien konnten zwischen 1919 und 1925 auf diese Weise 44.848 Wohnungen rechtskräftig angefordert und Wohnungslosen zugewiesen werden.
Das Zusammenwirken des Staatsapparates mit der Sozialdemokratie und der Führung des Arbeiterrates selbst, entsprach einer rechtlichen und faktischen Verkopplung von Räten und Parlament. Nun beweist die Geschichte der internationalen Rätebewegung nach dem Ersten Weltkrieg die Unmöglichkeit einer dauerhaften Koexistenz von Parlamentarismus und Rätesystem, wie es die Austromarxisten Max Adler und Otto Bauer argumentierten. Die Arbeiter- und Soldatenräte in Österreich blieben Keimorgane einer sozialistischen Rätedemokratie, da die Machtfrage in der Gesellschaft – trotz guter internationalen Bedingungen (Sieg der Revolution in Russland und Ungarn, revolutionäre Krise in Deutschland, Italien, …) nicht konkret gestellt wurde. Dafür mangelte es auch dem linken Flügel der Arbeiterbewegung an politischer Klarheit den Reformismus der eigenen Führer zu überwinden. Im Sommer und Herbst 1919 eroberten die Massen das Höchstmaß an sozialen Errungenschaften, was unter der Selbstbeschränkung auf den unmittelbar nur bürgerlich-parlamentarischen Charakter der Revolution erreicht werden konnte.
1920 gelang es den Bürgerlichen ihre Macht jedoch wieder zu stabilisieren. Antisemitische Großkundgebungen ab Herbst 1919 bildeten das erste Thema mit dem die Bürgerlichen in Wien wieder ihre von der Revolution völlig paralysierte soziale Basis mobilisieren konnte. Mit dem Koalitionsbruch im Juni 1920, mit der Annahme der Bundesverfassung und dem Wahlsieg der Christlichsozialen saß das reaktionäre Bürgertum wieder fest im Sattel.
Von nun an ebbte auch die Rätebewegung deutlich ab, und die nur noch ihrer Form nach bestehenden Arbeiterräte wurden schließlich am Parteitag der SDAP 1924 aufgelöst. Wenngleich die österreichischen Räte im Großen und Ganzen Instrumente der Sozialdemokratie blieben, waren sie doch die beachtlichste und schlagkräftigste Massenbewegung der österreichischen Revolution und die Verkörperung der sozialistischen Ambition der Arbeiterklasse.
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Die revolutionäre Geburt der Republik
- Teil 2: Revolutionäre Fieberschübe
- Teil 3: Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut
- Teil 4: Luxemburg, Liebknecht und die deutsche Revolution
- Teil 5: Zwischen Republik und Rätedemokratie
- Teil 6: Die Revolution befreit die Frauen
- Teil 7: Die Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik
- Teil 8: Die gescheiterte Sozialisierung
- Teil 9: Als in Bayern die Kommunisten regierten
- Teil 10: Linksradikale Kinderkrankheiten