Revolution 1919. Nach der Erkämpfung der Republik erklärte die Sozialdemokratie, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf parlamentarischem Weg das Ziel sei. Doch was wurde daraus?
Nach der Vertreibung der Habsburger und der Ausrufung der demokratischen Republik am 12. November 1918 begann ein reger Prozess der Selbstorganisation und der Selbstermächtigung. ArbeiterInnen, Soldaten und Arbeitslose begannen Forderungen zur Lösung der dringlichsten sozialen Probleme zu erheben. In diesem Klima wurde der 8-Stunden-Tag durchgesetzt. Tausende proletarische Familien eigneten sich Land an und errichteten wilde Siedlungen. Die Soldatenräte wurden zu einem wichtigen Faktor der neuen Ordnung. Die Massen drängten darauf, ein für alle Mal mit den alten Unterdrückungsverhältnissen Schluss zu machen.
Gleichzeitig genoss die Sozialdemokratie jedoch eine hohe Autorität. Sie nutzte diese, um die Perspektive eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus zu zeichnen und die Arbeiterklasse im Winter 1918/19 auf parlamentarische Wahlen statt auf eine revolutionäre Umwälzung zu orientieren. Ein Wahlsieg sollte, dieser Orientierung zufolge, die politische Basis für die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum („Sozialisierung“) legen.
Adelheid Popp erklärte die Bedeutung dieser Losung: “Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist also die wichtigste Forderung der Sozialdemokratie. Sie strebt dahin, die Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit des Volkes zu überführen. Grund und Boden, Fabriken und Werkstätten sowie auch die Rohstoffe sollen der Gesamtheit gehören und alle Betriebe in Stadt und Land sollen nicht mehr durch die Kapitalisten und ihre Antreiber, sondern durch die Erwählten des Volkes geleitet und überwacht werden. Es soll nicht mehr durch abgeplagte Proletarier für den Profit reicher Leute gearbeitet werden, sondern durch gleichberechtigte Männer und Frauen für das Glück der Gesamtheit.”
Dabei war die theoretische Konzeption von der Sozialisierung generell nicht das Problem. In Worten stellte die Führung der Sozialdemokratie deutlich fest, dass nur eine politische Umwälzung zu wenig ist, um die Lebenszustände der Massen zu verbessern. Max Adler schrieb sogar am Wahlabend, dass die Idee der Demokratie bei gleichzeitiger Beibehaltung der kapitalistischen Eigentumsordnung eine Illusion bleiben muss. Oder wie er es ausdrückte: „Wir können zur Demokratie nicht anders gelangen als durch den Sozialismus.“ Doch in der Praxis akzeptierten sie die Dominanz des Bürgertums, das alles tat, um die eigene Macht zu bewahren.
Die Wahlen brachten zwar eine Mehrheit der Sozialdemokratie, aber keine absolute. Gestützt auf die Logik parlamentarischer Arithmetik blieb der Parteispitze nur der Gang in eine Koalition mit den Christlichsozialen. Die Bürgerlichen waren noch immer stehend k.o. und zu großen Zugeständnissen bereit, die ihnen die revolutionäre Arbeiterschaft abverlangte. Unter diesem Druck konnte der Arbeiterschutz massiv ausgebaut werden. Sie erkannten sogar die Sozialisierung als prinzipielles Ziel der neuen Republik an – aber nur in Worten. In der Praxis versuchten sie diesen Prozess, der ihr System grundlegend in Frage stellte, aufzuhalten.
„Nicht im Handumdrehen“
Schon wenige Tage nach der Wahl veröffentliche die Arbeiter-Zeitung einen Artikel von Karl Kautsky, der seine ganze Autorität in die Waagschale warf, um den Drang nach sofortigen Sozialisierungen entgegenzutreten. Er erklärte, die Verstaatlichung der Produktionsmittel sei eine so wichtige Aufgabe, dass „sie sich nicht im Handumdrehen durchführen [lässt]“. (AZ, 19.2.1919). In ihrem Aktionsprogramm forderte die SDAP nun die Einführung einer Sozialisierungskommission, die innerhalb von drei Monaten einen Vorschlag zur Neugestaltung der Wirtschaft ausarbeiten sollte. Dazu sollte die Vergesellschaftung wichtiger Wirtschaftsbereiche und die Idee der Mitverwaltung der Betriebe durch die Arbeiterschaft gehören.
Diese Kommission wurde auch tatsächlich – und zwar auf Antrag bürgerlicher Abgeordneter – per Gesetz beschlossen. Die Bürgerlichen, die in dem Gremium eine Mehrheit hatten, sahen darin eine Chance, die Sozialisierung hinauszuzögern und die gesellschaftliche Dynamik hinter dieser Forderung zu hemmen. Die Sozialisierung sollte demnach dort erfolgen, wo es für den Wiederaufbau der Wirtschaft sinnvoll erschien, weil privates Kapital dazu nicht imstande war.
Betriebsrätegesetz
Im parlamentarischen Klein-Klein konnten die Bürgerlichen viele Vorschläge der Sozialdemokratie verhindern oder deutlich abschwächen. Das galt auch für das Betriebsrätegesetz, in dem ein wichtiger Schritt zur Vorbereitung auf die Sozialisierung gesehen, und das im Mai 1919 beschlossen wurde. In allen Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten sollten Betriebsräte gebildet werden können, und diese erhielten das Recht auf Einsicht in das Geschäftsgebaren der Unternehmen. Die Bürgerlichen mussten zähneknirschend zustimmen, hatten aber die Hoffnung (die die rechten Führer der Sozialdemokratie teilten), dass durch diese „Änderung der Betriebsverfassung … Beruhigung in die industriellen Betriebe zu bringen“ (Gewerkschaftsvorsitzender Hueber) sei. Angesichts des Aufschwungs der Arbeiterräte, die das Potential einer sozialistischen Revolution wie in Russland verkörperten, war dieses Zugeständnis für die kapitalistische Ordnung in Österreich lebensrettend. In mehreren Fällen verhinderten die neu geschaffenen Betriebsräte sogar „wilde Sozialisierungen“ durch die Arbeiterschaft. Damals brodelte es in Wien und die Revolution erlebte einen neuerlichen Aufschwung. Die Wahlen zum Wiener Gemeinderat, die der SDAP eine Absolute brachten und den Grundstein für das Experiment des späteren „Roten Wien“ legte, waren da nur eine Randnotiz.
Leere Versprechungen
Die Bürgerlichen legten unter dem Druck der Rätebewegung weitere Versprechen ab, doch wie die Arbeiterinnen-Zeitung schrieb: „Von Teilsozialisierung wollen die Arbeiter nichts mehr hören! Die Ursache unseres Elends, die Trennung des Proletariats von den Produktionsmitteln, muss vollständig beseitigt werden.“ (AIZ, 3.6.1919) Diesen radikalen Tönen folgten aber keine entsprechenden Taten – im Gegenteil.
Unter dem Vorwand einer drohenden Intervention des Imperialismus lehnte die Führung der Sozialdemokratie die Machtübernahme der Arbeiterklasse entschlossen ab, was jedoch den Effekt hatte, dass die Konterrevolution in Österreich selbst Kraft sammelte und ihrerseits in die Offensive ging. Im Parlament brachte sie alle Bestrebungen zu Fall.
Die Vorgangsweise der Sozialdemokratie in der Sozialisierungsdebatte 1919 scheiterte. Statt eines „Hinüberwachsen“ in den Sozialismus trat das genau Gegenteil ein – die Reaktion gewann in den folgenden Jahren an Stärke und die Weigerung der Sozialdemokratie entschlossen mit dem Kapitalismus zu brechen führte die Arbeiterklasse direkt in den Faschismus.
(Funke Nr. 174/Juni 2018)
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Die revolutionäre Geburt der Republik
- Teil 2: Revolutionäre Fieberschübe
- Teil 3: Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut
- Teil 4: Luxemburg, Liebknecht und die deutsche Revolution
- Teil 5: Zwischen Republik und Rätedemokratie
- Teil 6: Die Revolution befreit die Frauen
- Teil 7: Die Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik
- Teil 8: Die gescheiterte Sozialisierung
- Teil 9: Als in Bayern die Kommunisten regierten
- Teil 10: Linksradikale Kinderkrankheiten