Zum hundertsten Jubiläum der russischen Revolution 1917 widmen wir den Ereignissen des Jahres eine Artikelserie. Dieses Mal widmen wir uns den Vorgängen in der revolutionären Partei der Bolschewiki und den Ereignissen der sogenannten „Apriltage“. Von Martin Halder und Florian Keller.
Die bolschewistische Partei, der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie, hatte sich durch jahrelangen Kampf auf eine Revolution vorbereitet. Doch die Februarrevolution fand sie in einem Zustand vor, der es ihr unmöglich machte, die Revolution geschlossen anzuführen. Während die geschulten Arbeiterbolschewiki in den einzelnen Betrieben tatsächlich die revolutionären Prozesse vorantrieben und sich an ihre Spitze stellten, war das Zentrum der Partei schwach und durch die lange Phase der Illegalität desorganisiert. Beispielsweise gab das Komitee der Partei in der Hauptstadt Petrograd erst am letzten Tag der Februarrevolution (12. März), an dem der Sieg der Massen schon besiegelt war, sein erstes Flugblatt heraus.
Doch auch nach dem Sturz des Zaren endeten die Probleme der Partei nicht. Welche Position sollte zu den anderen Parteien, zum Krieg und zu der provisorischen Regierung eingenommen werden? Hierauf fand die Partei bis zu Lenins Rückkehr aus dem Exil keine klare Antwort. Die Februarrevolution hatte eine widersprüchliche Situation der Doppelherrschaft hinterlassen (siehe Funke Nr. 152). Die Führung der Partei in Petrograd, die in der ersten Zeit nach der Revolution noch aus Persönlichkeiten aus der zweiten oder dritten Reihe der Partei zusammengesetzt war, war der Situation nicht gewachsen und verfiel oft in eine opportunistische Haltung.
Kurs nach Rechts?
Die Situation der allgemeinen Verwirrung über die richtige Linie wurde durch die Ankunft von Kamenew und Stalin aus dem sibirischen Exil weiter verkompliziert und nach rechts verschoben. Am 28. März übernahmen beide zusammen mit dem Abgeordneten Muranow die Redaktion der Prawda und verdrängten die alte, „zu linke“ Redaktion. Sie setzten sich für eine kritische Unterstützung der provisorischen Regierung und für die Eindämmung der Antikriegspropaganda ein. Der Kurs der neuen Redaktion rief schnell den Protest der bolschewistischen ArbeiterInnen hervor. Auf der anderen Seite wurde er von den Bürgerlichen und den ReformistInnen als „Sieg der gemässigten, vernünftigen Bolschewiki über die Extremen“ gefeiert, wie der Bolschewik Schljapnikow schrieb. (1)
Der Gegensatz zwischen reformistischen Menschewiki und revolutionären Bolschewiki, zwischen Vaterlandsverteidigung und revolutionäre Führung der Arbeiterklasse, wurde unter dieser Führung so stark verwischt, dass die gesamtrussische Konferenz der Bolschewiki kurz vor der Ankunft Lenins sogar die Frage der Vereinigung dieser zwei Parteien aufwarf.
Lenin war im (noch) erzwungenen Exil außer sich vor Wut über diesen Kurs und schickte der Parteiführung in Petrograd eine Flut an Briefen. Schon am 19. März telegraphierte er: „Unsere Taktik vollständiges Mißtrauen, keine Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski besonders verdächtig; Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie; sofortige Wahlen zu der Petersburger Duma (Stadtrat); keine Annäherung zu anderen Parteien; telegrafieren Sie dieses nach Petrograd.“ (2) Später stellte er klar: „Ich werde sogar einen sofortigen Bruch, mit wem auch immer aus unsrer Partei, vorziehen, als dem Sozialpatriotismus nachgeben.“ (3)
Lenins „Aprilthesen“
Am 16. April schaffte es Lenin aus seinem Schweizer Exil endlich zurück nach Russland. Schon am nächsten Tag präsentierte er sein politisches Programm, das als „Aprilthesen“ in die Geschichte einging, vor einer Konferenz des Petrograder Sowjets.
Diese Thesen stellten einen Paukenschlag dar. Lenin legt in ihnen dar, dass der Krieg auch nach der Revolution nicht aufhört, ein grausamer, imperialistischer Raubzug zu sein. Die Aufgabe stellt sich folgendermaßen: Man muss „den Nachweis führen, daß es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrieden zu beenden.“ (4)
Die erste Phase der Revolution brachte das Bürgertum in Form der provisorischen Regierung an die Macht, weil die Arbeiterklasse nicht organisiert genug, nicht bewusst genug war. Keine der drängenden Fragen – „Brot, Land und Frieden“ – war gelöst oder konnte im Kapitalismus gelöst werden. Deswegen ist ein klarer Bruch mit dem Bürgertum notwendig. Keine Unterstützung der Provisorischen Regierung, stattdessen: „Entlarvung der Provisorischen Regierung statt der unzulässigen, Illusionen erweckenden „Forderung“, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören imperialistisch zu sein.“ (5)
Dafür muss der alte Staatsapparat aus dem Weg geräumt und durch die Herrschaft der Sowjets ersetzt werden: „Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben“ (6)
Diese Machtübernahme der Sowjets ist die zweite Etappe der Revolution, die „die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muß.“ (7)
Wie Lenin schon hier beschrieb und wenig später in seiner Schrift „Staat und Revolution“ genauer ausführte, muss die alte Herrschaft durch einen Arbeiterstaat ersetzt werden, wo VertreterInnen und BeamtInnen jederzeit wähl- und abwählbar sein müssen und nicht mehr verdienen als einen „gewöhnlichen Arbeiterlohn“. (8) Gleichzeitig verknüpfte Lenin das Schicksal der russischen Revolution in seinen Thesen unmissverständlich mit der internationalen Revolution – die 10. und abschließende These fordert die Gründung einer neuen, revolutionären Internationalen.
Diese Thesen wurden in ihrer Klarheit und Unmissverständlichkeit zur programmatischen Basis für die Umorientierung der Bolschewistischen Partei auf einen revolutionären Kurs und nur wenige Monate später für die Machtübernahme der Sowjets.
Die Schicht in der Führung rund um Kamenew und Stalin, die „alten Bolschewiki“, leisteten gegen diesen von Lenin geforderten Kurswechsel mit unterschiedlicher Intensität Widerstand. Während Stalin sich still und heimlich von seinen Positionen zurückzog, gab sich Kamenew nicht so leicht geschlagen.
Auf der Aprilkonferenz der Bolschewiki entfachte ein kurz aber hart geführter Kampf in der Partei. Es wurde so dargestellt, als ob Lenin im Exil verrückt geworden sei und den Gang der Ereignisse nicht verstehen würde. Tatsächlich waren es die führenden, „alten“ Bolschewiki, die die Ereignisse nicht verstanden und vor dem Druck der öffentlichen Meinung und der Zusammenarbeit mit dem Bürgertum kapitulierten, dem sie ohne eine feste theoretische Basis nicht widerstehen konnten.
Gerade Stalin war immer ein Partei-Praktiker, ein „Komitee-Mann“, wie Trotzki diesen Typus beschrieb, gewesen. Für ihn waren die theoretischen Auseinandersetzungen der „Exilanten“ über den Charakter und die Aufgaben der Russischen Revolution nichts anderes als ein „Sturm im Wasserglas“ (9) eine Ablenkung und ein Hindernis im praktischen Aufbau der Revolutionären Partei und Bewegung. So überraschte ihn die tatsächliche Revolution nur mit „allgemeinen Wahrheiten“ bewaffnet und völlig unfähig dazu, die konkrete Situation aus einem revolutionären Blickwinkel zu erfassen.
Lenin stützte sich bei seinem Kampf gegen die Parteiführung auf die Basis der Arbeiter-Bolschewiki, welche wie so oft in der Geschichte viel revolutionärer waren als ihre eigene Führung. So sprach sich ein Bezirk nach dem anderen für Lenins Politik aus und der harte Kampf um die Neuorientierung der Partei auf eine Machtübernahme der Arbeiterklasse war relativ kurz – nicht zuletzt, da der Fortgang der Revolution selbst die Perspektiven Lenins bestätigte.
„Apriltage“
Anfang April traten die USA in den Krieg ein. Der Druck der Verbündeten Russlands stieg, den Krieg weiterzuführen. Während am 1. Mai hunderttausende ArbeiterInnen und Soldaten nicht zuletzt für Frieden demonstrierten, übermittelte der Außenminister der provisorischen Regierung und Vorsitzende der bürgerlich-liberalen Partei der „Kadetten“ (kurz für „Konstitutionelle Demokraten“), Miljukow, eine Note an die Alliierten, in der er Russlands Bündnistreue bestärkte und einen Friedensschluss Russlands ausschloss. Kurz nach der Veröffentlichung der Note kam es zu bewaffneten Demonstrationen der Soldaten und Matrosen sowie Protesten der ArbeiterInnen. Die Slogans waren: „Nieder mit Miljukow!“ und „Nieder mit der Annexionspolitik!“. Auf der anderen Seite mobilisierten die Kadetten ihre konterrevolutionären Kräfte und wirkten bewusst eskalierend. Es kam zu Zusammenstößen und Schießereien. Dies war das Bild eines Landes, das zutiefst entlang von Klassenlinien gespalten war.
Diese erste Kraftprobe stürzte die Regierung in eine tiefe Krise. Die Liberalen spürten, dass sich die Stimmung immer mehr gegen sie kehrte und wagten nicht mehr, alleine zu regieren. Mitte Mai kam es zu einer Regierungsumbildung. Die wegen ihrer kriegstreibenden Rolle verhassten Minister Miljukow und Gutschkow traten zurück. Die gemässigten Sozialisten, vor allem Menschewiki und die Partei der „Sozialrevolutionäre“, traten in diese Regierung der „großen Koalition“ ein.
Die Bolschewiki, welche nach der Neuorientierung im April nun eine klare, revolutionäre Linie verfolgten, waren die einzige größere Gruppe, die sich der Koalition nicht anschloss. Lenin kritisierte die „Diener und Verteidiger“ des Bürgertums für ihre Regierungsbeteiligung hart. Die Bolschewiki argumentierten für einen klaren Bruch mit dem Bürgertum („Nieder mit den 10 Minister-Kapitalisten!“) und erhoben ihren bekannten Slogan „Alle Macht den Sowjets“. Somit forderten sie die ReformistInnen, die die Mehrheit in den Sowjets innehatten, dazu auf, die Macht zu übernehmen. Die Sowjetführung weigerte sich und setzte ihre Unterstützung für die Liberalen fort, was bedeutete, die grundlegenden Probleme ungelöst zu lassen.
Die Bolschewiki gingen zusammen mit den Massen durch diese Ereignisse und erklärten ihnen immer wieder die Notwendigkeit der Machtübernahme und die verheerende Rolle der reformistischen Führung. Dies war das Wesen von Lenins Slogan: „Geduldig erklären“. So begannen sie, unter den ArbeiterInnen und Soldaten mehr und mehr Boden für sich zu gewinnen. Wie Trotzki berichtete, glaubte damals der Menschewik Suchanow, „dass Anfang Mai ein Drittel des Petrograder Proletariats hinter den Bolschewiki stand. Keinesfalls weniger, und außerdem das aktivste Drittel.“ (10)
Die Aprilthesen, das Programm der Oktoberrevolution, zeigten zum ersten Mal ihre volle Bedeutung.
(1) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 15 (2) Woods, Die Bolschewiki im Jahr der Revolution (3) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 15 (4)-(7) Lenin, Aprilthesen (8) Lenin, Staat und Revolution, Kapitel 3 (9) Woods/Grant, Lenin und Trotzki (10) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 17
Weitere Artikel in der Reihe:
(1) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 15 (2) Woods, Die Bolschewiki im Jahr der Revolution (3) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 15 (4)-(7) Lenin, Aprilthesen (8) Lenin, Staat und Revolution, Kapitel 3 (9) Woods/Grant, Lenin und Trotzki (10) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 17
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Ein zerrissenes Land
- Teil 2: Die Februarrevolution
- Teil 3: Der Zar ist gestürzt! Was nun?
- Teil 4: Der Kampf um eine revolutionäre Partei
- Teil 5: Der Frühsommer
- Teil 6: Die Julitage
- Teil 7: Putschversuch von Rechts
- Teil 8: Die Oktoberrevolution
- Teil 9: Die Sowjets ergreifen die Macht
- Teil 10: Der Funke fliegt