Zum hundertsten Jubiläum der russischen Revolution 1917 widmen wir den Ereignissen des Jahres eine Artikelserie. Anschließend an den Artikel der letzten Ausgabe wird es dieses Mal um die Zeit unmittelbar nach der Februarrevolution gehen. Martin Halder und Florian Keller beleuchten den Charakter der Doppelherrschaft und die Rolle der
verschiedenen politischen Parteien.
Die Februarrevolution entsorgte den reaktionären Zarismus auf den Abfallhaufen der Geschichte. Es kam allerdings nicht unmittelbar zu einer stabilen, neuen Ordnung – die alten Widersprüche waren auf keinen Fall aufgelöst.
Auf der einen Seite standen die revolutionären Massen. Sie sahen das Ende des Zarismus nur als ersten Schritt und als Mittel, um die drängendsten Probleme zu lösen – namentlich wollten sie ein Ende des Kriegs und des Elends. Sich stützend auf die großen Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 begannen die ArbeiterInnen, Soldaten und später auch die Bauernschaft schon in den ersten Tagen des Aufstandes damit, Delegierte zu wählen, die sich in Sowjets (russisch für Räte) auf lokaler, regionaler und auch nationaler Ebene organisierten und sofort damit begannen, die praktischen Probleme der Ernährung, der Sicherheit etc. zu organisieren. Die Sowjets wurden zum klarsten Ausdruck, zum Dreh- und Angelpunkt Abermillionen Unterdrückter. „Die Arbeiter, Soldaten und bald auch die Bauern“, schrieb Trotzki „werden sich von nun an nur noch an den Sowjet wenden…“(1)
Auf der anderen Seite standen die alten Großgrundbesitzer und Industriellen. Diese Kräfte waren bis zum Letzten bemüht, sich an den stürzenden Zaren zu klammern. Erst als der Umsturz unbestreitbar wurde, versuchten sie die Revolution in „sichere Bahnen“ zu lenken. Ihr Weg dazu führte über die Duma, das russische Parlament. Aber erst nachdem ein gewaltiger Demonstrationszug von ArbeiterInnen und Soldaten im Moment des siegreichen Aufstandes zum Sitz der Duma marschiert, wird unter Todesangst der Ältestenrat damit beauftragt, ein „provisorisches Komitee“ zu bestimmen – für Wahlen blieb den vor den Massen zitternden Abgeordneten keine Zeit mehr. Dieses Komitee benannte sich später zur „provisorischen Regierung“, um das Machtvakuum zu füllen. Es war eine Regierung des Bürgertums, das sich hauptsächlich rund um die Partei der Kadetten (Konstitutionell-Demokratische Partei) formierte. Die Bürgerlichen verachteten die Revolution und sahen sie richtigerweise als Bedrohung für die kapitalistische Herrschaft. So verfolgte die Regierung vor allem das Ziel den Krieg weiterzuführen und die Revolution so weit wie möglich einzudämmen, gab sich auf der Oberfläche jedoch gezwungenermaßen revolutionär.
Diese entstandene Situation der „Doppelherrschaft“ war jedoch keine stabile, dauerhafte, mit einem „Gleichgewicht der Kräfte“ oder einer „Arbeitsteilung“ zwischen beiden Polen. Die Macht auf den Straßen lag bei den bewussten, sich organisierenden Massen, die auf die Sowjets blickten und die die provisorische Regierung bestenfalls duldeten. Diese Tatsache mussten auch die Bürgerlichen zugeben. So schrieb ein gewisser Schidlowski: „Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrograder Bahnhöfe, alle Druckereien, so dass man ohne seine Erlaubnis weder ein Telegramm abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.“(2) Wie konnte sich also, trotz dieses Kräfteungleichgewichts die provisorische Regierung halten, obwohl sie ein Programm im klaren Gegensatz zu den Massen vertrat? Der Grund dafür ist allein in der Führung der Sowjets zu suchen.
Die Sowjets nach der Februarrevolution
In der Februarrevolution selbst spielten auf den Straßen hauptsächlich ArbeiterInnen eine führende Rolle, die Mitglieder der bolschewistischen Partei waren. Diese revolutionäre Strömung der russischen Sozialdemokratie hatte sich 1912 zu einer selbstständigen Partei konstituiert. Doch in den Sowjets, die aus dem Aufstand hervorgingen, waren die Bolschewiki eine kleine Minderheit. Vor allem die Soldaten und Bauern, die zum ersten Mal ins politische Leben eintraten, aber auch die ArbeiterInnen wählten mehrheitlich die sogenannten Sozialrevolutionäre und Menschewiki.
Diese hatten in dieser ersten Zeit nach der Revolution einige Vorteile gegenüber den Bolschewiki, wodurch sich ihre Mehrheit erklärt. Während der Herrschaft des Zaren hatten sie sich im Gegensatz zu den Bolschewiki auch in ihrem Programm immer mehr dem „Legalismus“ und Parlamentarismus verschrieben. Sie zogen deswegen eine große Anzahl von Intellektuellen an, Journalisten und Anwälte, die bald mit rhetorischem Talent und großen Ressourcen die Posten in den offiziellen Parlamenten und Komitees besetzten und einen großen Bekanntheitsgrad bei den Massen hatten. Doch trotz jedes Wortradikalismus waren sie sehr um die Sicherheit ihrer legalen Posten bemüht. Durch sie wurden die Parteien in der Praxis damit noch weiter nach rechts gerückt und bekamen einen klar gemäßigten und reformistischen Charakter.
So eine bekannte politische Persönlichkeit war Alexander Kerenski. Mit einem radikalen Image und hoher Bekanntheit wurde er zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. Die von der Revolution zum politischen Leben erweckte Menge war von offenem Hass gegenüber der alten Ordnung erfüllt und wollte sich deutlich von ihr abgrenzen. Deshalb wählten sie Parteien und VertreterInnen, welche sie als sozialistisch sahen. Doch sie begannen noch nicht ernsthaft zwischen ihnen zu differenzieren.
Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten also die Unterstützung der absoluten Mehrheit und somit die Macht in ihren Händen. Doch was machten sie damit? Sie misstrauten den „gewöhnlichen“ Massen und der revolutionären Dynamik. Für diese gemäßigten Kräfte war es wie ein Naturgesetz, dass die Herrschaft dem russischen Bürgertum gehöre – jener Klasse, die bis ins Mark mit der alten Ordnung verbunden war und sich schon mehrere Male offen auf die Seite der Konterrevolution gestellt hatte.
So traf sich am Abend des 14. März das Exekutivkomitee des Sowjets mit dem Dumakomitee. Auf diesem Treffen wurden die Bedingungen für die Unterstützung der provisorischen Regierung durch die Sowjets besprochen. Diese Bedingungen waren eine Farce. Nicht eine der großen Fragen wurde auch nur gestreift. „Das Programm der Demokraten ignorierte die Fragen des Krieges, der Republik, des Land und Bodens, des 8-Stunden-Tags völlig und lief nur auf eine einzige Forderung hinaus: den linken Parteien Agitationsfreiheit zu gewähren.“(3) So bekam die bürgerliche provisorische Regierung aus den Händen der „sozialistischen“ Führer der Sowjets die Macht „hinter dem Rücken des Volkes“ (4) Unterwürfig schrieb die menschewistische Zeitung Rabochaya Gazeta am 20. März: „Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten eure Befehle, um die Revolution zu konsolidieren und Russland zu einer Demokratie zu machen.“ (5)
Die Kluft zwischen Masse und reformistischer Führung beschreibt Trotzki als das Februarparadoxon: „Die Proletarier und Bauern gaben ihre Stimmen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären nicht als Versöhnlern, sondern als Feinden des Zaren, des Gutsbesitzers und des Kapitalisten. Doch indem sie sie wählten, schufen sie eine Scheidewand zwischen sich und ihren Zielen. Sie konnten jetzt nicht mehr vorrücken, ohne auf die von ihnen selbst errichtete Scheidewand zu stoßen und ohne diese zuvor niederzureißen.“ (6)
Die Revolution lässt sich nicht bändigen
Doch im ersten Ansturm der Februarrevolution wurde einer Reihe von tiefgreifenden Umwälzungen des tagtäglichen Lebens durch die ArbeiterInnen und Soldaten einfach durchgesetzt, ohne auf einen Befehl von oben zu warten und oft auch gegen den erklärten Willen ihrer Führung. So wurde der 8-Stunden-Arbeitstag nach und nach bis zum April im ganzen Land durch Initiative von unten durchgesetzt, und das gegen den Widerstand der reformistischen Führer der Sowjets, die die ArbeiterInnen nach der Februarrevolution dazu aufforderten, ihren Streik zu beenden. Auch eine Hetzkampagne der Bürgerlichen, mit der versucht wurde, die Soldaten gegen die Arbeitszeitverkürzung mit dem Argument der „Versorgung der Truppen an der Front“ aufzuhetzen, beantwortete die Arbeiterschaft auf Initiative von unten: Führungen durch die Betriebe wurden für Soldaten organisiert, damit diese mit eigenen Augen die Bedingungen sehen konnten, in denen die ArbeiterInnen ihr täglich Brot verdienen mussten. Dadurch wurde die Hetzkampagne in der Praxis besiegt.
Als Maßnahme gegen den Versuch, die Armee für eine Konterrevolution zu benutzen, wurde auch „das einzige würdige Dokument der Februarrevolution“ (6) beschlossen, der berühmte „Befehl Nr. 1“ des Petrograder Sowjet. Verabschiedet wurde er am 14. März, nur 6 Tage nach dem Beginn der Revolution. In ihm enthalten sind ein Aufruf an die einfachen Soldaten aller militärische Einheiten, Komitees und Sowjetdelegierte zu wählen, die de Facto die Kontrolle über das Militär übernehmen – so sagt er aus, dass nur dann Befehle der späteren provisorischen Regierung durchgeführt werden sollen, wenn sie den Befehlen des Sowjets nicht widersprechen. Die Waffen sollten unter die Kontrolle der Soldatenkomitees gestellt und keinesfalls den Offizieren ausgehändigt werden. Darüber hinaus verkündete der Befehl volle persönliche und politische Freiheiten außerhalb des Dienstes für die Soldaten und schützte sie vor Demütigungen der Offiziere. Die Soldaten – oft mit mittelalterlichen Strafen (Auspeitschen war ab 1915 eine übliche Strafe im Heer) und brutalen Vorgesetzten konfrontiert – akzeptierten es nicht mehr, wie Vieh behandelt zu werden. Der Befehl breitete sich deswegen auch weit über Petrograd hinaus im ganzen Land aus und wurde zur Grundlage der Revolution in der Armee.
Die kommenden neun Monate zwischen Februar und Oktober stellen einen Lernprozess dar, in dem die Wünsche der Massen immer wieder auf den Widerstand der provisorischen Regierung und der reformistischen Sowjetführung stoßen werden. Noch hatten die Massen nicht genügend Erfahrungen gesammelt, vor allem aber gab es keinen bewussten Ausdruck dieser revolutionären Stimmung. Die Bolschewiki schwankten und waren sich selbst über ihre Rolle nicht im Klaren. Dies sollte sich erst im April ändern, als Lenin aus dem Exil zurückkehrte.
(1) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 9
(2) – (4) Ebd.
(5) Woods, Die Bolschewiki im Jahr der Revolution
(6) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band 1, Kapitel 9
(7) Ebd., Kapitel 14
Weitere Artikel in der Reihe:
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Ein zerrissenes Land
- Teil 2: Die Februarrevolution
- Teil 3: Der Zar ist gestürzt! Was nun?
- Teil 4: Der Kampf um eine revolutionäre Partei
- Teil 5: Der Frühsommer
- Teil 6: Die Julitage
- Teil 7: Putschversuch von Rechts
- Teil 8: Die Oktoberrevolution
- Teil 9: Die Sowjets ergreifen die Macht
- Teil 10: Der Funke fliegt