Zum hundertsten Jubiläum der russischen Revolution 1917 widmen wir den Ereignissen des Jahres eine Artikelserie. Dieses Mal beschäftigen wir uns mit der Vorgeschichte und den Ereignissen im Jänner. Von Florian Keller.
Vor hundert Jahren tobte der erste Weltkrieg. Millionen junge Arbeiter und Bauern wurden aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um in den Schützengräben Europas für König, Kaiser und Vaterland zu sterben. Mittlerweile dauerte dieses blutige Treiben bereits zweieinhalb Jahre an. Doch während zu Beginn des Krieges vielfach Euphorie und Siegeszuversicht herrschte, hatte die harte Realität des Krieges diese Stimmung sehr schnell zerstört. Zu Beginn des Jahres 1917 waren schon lange Wut und Hass auf die Verantwortlichen für das blutige Treiben bestimmend.
Soziale Gegensätze
Das galt besonders für Russland. Schon vor dem Krieg war das Land von sozialen Gegensätzen zerrissen. An der Spitze stand Zar Nikolaus der II. und seine Familie aus der Dynastie der Romanovs, die schon seit hunderten Jahren das Riesenreich absolutistisch beherrschten. Die Untertanen des Zaren lebten zum allergrößten Teil auf dem Land unter althergebrachten Bedingungen. Erst gut 50 Jahre zuvor war die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft worden, was jedoch nichts an den tiefen Klassengegensätzen auf dem Land änderte. Während die adeligen Großgrundbesitzer im Bündnis mit der Kirche immer noch unbeschränkt herrschten, waren die einfachen Bauern recht- und landlos wie eh und je. Doch mit den Reformen der 1860er Jahre war die Basis für eine Phase stürmischer industrieller Entwicklung gelegt worden. Damit war ein neuer Widerspruch in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, der im Westen Europas schon längst zum bestimmenden geworden war: Der zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen.
Der russische Kapitalismus war dabei angewiesen auf ausländisches Kapital und Geld aus den Ländereien des adeligen Großgrundbesitzes. Damit wurde in den Großstädten und Industriezentren des Landes Fabriken nach dem neuesten Stand der Technik aufgebaut, die teilweise – wie etwa die Putilov-Werke in St. Petersburg – zehntausende ArbeiterInnen beschäftigten. Diese Frauen und Männer, deren Eltern oder die selbst noch wenige Jahre zuvor Bauern gewesen waren, schufteten mit langen Arbeitszeiten für einen Hungerlohn, gedemütigt von den Fabriksherren, die sie wie Tiere behandelten und bis aufs Blut aussaugten. So waren viele der ersten Widerstandsaktionen der ArbeiterInnen nicht nur für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten geführt worden, sondern auch gegen die willkürlichen Strafen und die Forderung, nicht mehr geduzt zu werden – eine Anredeform, die in Russland eigentlich Tieren und Kindern vorbehalten war.
Die erste Revolution
Diese neue Gesellschaftsklasse war genau 12 Jahre zuvor endgültig auf die Bühne der russischen Geschichte getreten. Am 9. (nach heutiger Zeitrechnung dem 22. Jänner) 1905 zogen Massen von ArbeiterInnen aus St. Petersburg vor den Zarenpalast. Ihr Ziel war nicht etwa der Sturz des „Väterchen Zar“, sondern der Appell an ihn, ihr Leben zu verbessern. Angeführt von einem Priester und mit Heiligenbildern und Ikonen versehen, traten die russischen ArbeiterInnen ihm nicht als Revolutionäre entgegen, sondern mit einer Petition:
„Wir Arbeiter, Bewohner von Petersburg, kommen zu Dir. Wir sind elende, beschimpfte Sklaven, und erstickt von Despotismus und Willkür. Als die Grenze der Geduld erreicht war, stellten wir die Arbeit ein und baten unsere Herren, uns nur das zu geben, ohne das das Leben eine Qual ist. Aber alles wurde abgelehnt, alles ist nach der Meinung der Fabrikanten ungesetzlich. Wir hier, viele Tausende, sowie das ganze russische Volk, haben keine Menschenrechte. Durch Deine Beamten sind wir Sklaven geworden. […] Kaiser! Hilf Deinem Volke! Vernichte die Scheidewand zwischen Dir und dem Volke! … Befiehl die Erfüllung unserer Bitten, und Du machst Rußland glücklich; wenn nicht, so sterben wir hier. Wir haben nur zwei Wege: Freiheit und das Glück oder das Grab.“ (1)
Doch „Väterchen Zar“ hörte sich die Forderungen nicht an, sondern ließ das Militär aufmarschieren und die friedlichen und unbewaffneten ArbeiterInnen brutal angreifen. Über tausend Menschen starben und tausende mehr wurden verletzt bei dem Ereignis, das als Blutsonntag in die Geschichte eingehen sollte und dem Zaren den Spitznamen „Nikolaus der Blutige“ einbrachte. Dieser Tag wurde aber gleichzeitig zum Ausgangspunkt einer Revolution, die zum ersten Mal in der Geschichte von der Arbeiterklasse angeführt wurde. Und ebenfalls zum ersten Mal wurde der massenhafte Streik die wichtigste politische Waffe. Die Zahl der Streikenden war im Jänner 1905 so hoch wie in den 10 Jahren davor insgesamt. Höhepunkt der Bewegung waren Generalstreiks in St. Petersburg und vor allem in Moskau im Dezember 1905, welcher zu einem Aufstand anwuchs. Die Bewegung der ArbeiterInnen ermutigte die Bauernschaft, sich gegen die Grundbesitzer zu erheben. Die Bewegung erfasste auch die Armee.
Durch die Revolution wurden auch diverse revolutionäre Parteien und Organisationen innerhalb kürzester Zeit zu Massenorganisationen. Die russische Sozialdemokratie, die davor aus einem überschaubaren Haufen lokaler Gruppen mit wenigen tausend Mitgliedern bestand und politisch tief zerstritten war, organisierte nun mehrere Zehntausend Mitglieder und diente Millionen ArbeiterInnen als politischer Referenzpunkt und Führung. Doch die Bewegung blieb zu zersplittert, und durch eine Mischung aus taktischen Zugeständnissen und brutaler Unterdrückung konnte sich die alte Autokratie weiterhin an der Macht halten. Stück für Stück wurden die Zugeständnisse wie der 8-Stunden-Tag für viele ArbeiterInnen oder das Versprechen einer Verfassung wieder zurückgenommen, die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen sowie die Presse der ArbeiterInnen stark geschwächt und wieder zurück in die Illegalität getrieben, welche durch die revolutionäre Bewegung zuvor de facto aufgehoben worden war.
Die Bewegung war weit zurückgeworfen. Enttäuschung, Zynismus und Inaktivität machte sich breit. Doch die Revolution von 1905 verankerte nicht nur das Bewusstsein bei den russischen ArbeiterInnen, dass Verbesserungen nicht von oben gewährt werden, sondern von unten erkämpft werden müssen. In Wirklichkeit war eine wichtige Erkenntnis aus der Periode der Reaktion für die breiten Massen genauso wichtig, auch wenn in der Situation selbst Enttäuschung dominierte. Keine Reform, kein Zugeständnis wird von Dauer sein, wenn es nicht zu einer Änderung des politischen Regimes, zu einem Wechsel derjeniger kommt, die die tatsächliche Macht in ihren Händen halten.
Doch die Periode der Enttäuschung dauerte nicht lange an. Bereits 1912 kam es wieder zu einem Aufschwung der Bewegung. 1914 stand das Land vor einer neuen Revolution. In der ersten Hälfte des Jahres nahmen über eine Million ArbeiterInnen an politischen Streiks teil. Und auch wenn die Bewegung mit Kriegsbeginn zusammenbrach: Die Widersprüche waren alles andere als gelöst.
Jahresbeginn 1917
Dass der „Fisch vom Kopf her stinkt“, zeigte sich im Zarenreich ganz besonders. Im Reigen der Mächtigen standen in einem endlosen Gewirr von Intrigen neben Zar und Zarin „die umfangreiche Familie der Romanows, die ganze habgierige, schamlose, von allen gehaßte Meute der Großfürsten und Großfürstinnen“ (2). Daneben gab es die diversesten Günstlinge des Hofes – Scharlatane und Heilige aller Art, die, den Aberglauben einer überkommenen herrschenden Schicht ausnützend, sich ins gemachte Nest setzten. Sie alle führten in Petrograd – der neue, patriotisch einwandfreie Name St. Petersburgs seit 1914 – ein Leben in Luxus.
Dieses durchlauchte Gesindel fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen bebte. Doch sie konnten den Grund darin natürlich nicht in der Existenz der kapitalistischen Ausbeutung oder spezieller ihrer Existenz als verrottete herrschende Schicht erkennen. Sie suchten nach einem Sündenbock und fanden ihn in Rasputin, den verhassten Wanderprediger und Günstling der Zarin. Diese glaubte, dass er übernatürliche Kräfte hätte und ein Wunderheiler sei, der ihren Sohn, den Thronfolger von der Bluterkrankheit heilen könne. Diesen Glauben nutzte Rasputin gekonnt aus. In der Öffentlichkeit war er dagegen vor allem durch seine ganz und gar unchristlichen Eskapaden und Trunksucht bekannt und verhasst als Symbol der Verfaultheit der Monarchie. So machte sich ein Bündnis aus Großfürsten und Vaterlandstreuer aller Art daran, den Mann zu beseitigen. Er wurde schließlich am 30. Dezember 1916 ermordet.
Dieses Ereignis versetzte die ganze feine Gesellschaft, blaublütige Offiziere wie liberale Kapitalisten gleichermaßen in Freude. Sie hofften, dass diese Tat die Explosion von unten aufhalten würde können. So kamen Rasputins Mörder auch so gut wie straffrei davon – nur zwei von ihnen wurden durch Verbannung auf einen adligen Landsitz bzw. Versetzung „bestraft“. Auch die ArbeiterInnen und die in die Armee gepressten Bauern weinten Rasputin keine Träne nach. Doch der Unmut nahm dadurch nicht ab. Der Grund für die Wut auf die Herrschenden war in letzter Instanz nicht dieser oder jener ihrer vielen Skandale.
An der Front starben Soldaten, durch Korruption und Misswirtschaft ohne ausreichend Waffen, Munition und Nahrung und im tiefsten Winter teilweise ohne Winterbekleidung. In den ungeheizten Fabriken mussten die ArbeiterInnen immer länger schuften. Vom Lohn konnte man sich immer weniger kaufen, zu Beginn des Jahres 1917 hatten sich die Preise im Vergleich zu 1913 bereits verfünffacht. Und selbst für das Bisschen, das sich ArbeiterInnen noch leisten konnte, musste man oft stundenlang in der Kälte anstehen – nicht selten wechselten sich Frauen, die selbst arbeiteten, mit ihren Kindern ab, wenn sie zur Arbeit gehen mussten.
Auf dieser Basis bereiteten sich gewaltige Explosionen vor. Auf Streiks und Demonstrationen reagierte der Staat mit äußerster Brutalität – Streikende wurden meist sofort in die Armee eingezogen und an die Front zum Sterben gebracht. Trotzdem ließ sich der Unmut nicht mehr länger unterdrücken. Am 22. Jänner brach in Petrograd der größte Streik seit Kriegsbeginn aus. Etwa 145.000 ArbeiterInnen beteiligten sich daran mit Massenversammlungen und Demonstrationen. In den Arbeitervierteln Vyborg und Newski war die Arbeitsniederlegung vollständig. Doch so groß diese Aktionen auch waren, sie sollten nur der Auftakt einer viel mächtigeren Bewegung werden, die den Lauf der Geschichte Russlands entscheidend ändern würde.
(1) Lenin, Ein Vortrag über die Revolution von 1905
(2) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Band I, Kapitel 6
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Ein zerrissenes Land
- Teil 2: Die Februarrevolution
- Teil 3: Der Zar ist gestürzt! Was nun?
- Teil 4: Der Kampf um eine revolutionäre Partei
- Teil 5: Der Frühsommer
- Teil 6: Die Julitage
- Teil 7: Putschversuch von Rechts
- Teil 8: Die Oktoberrevolution
- Teil 9: Die Sowjets ergreifen die Macht
- Teil 10: Der Funke fliegt