110 Jahre Zimmerwalder Konferenz: Krieg, Revolution und Pazifismus

Vor 110 Jahren, im September 1915, fand im kleinen Schweizer Dorf Zimmerwald eine geheime Konferenz statt, die zum Brennpunkt der Konflikte innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg wurde. Von Sandro Tsipouras.
Entgegen allen vorangegangenen Beschlüssen stellten sich die sozialdemokratischen Massenparteien Europas mit Kriegsausbruch 1914 mehrheitlich hinter ihre eigenen Regierungen und Kapitalisten. Sie organisierten den „Burgfrieden“ und unterstützen den Krieg in jeder Hinsicht. Jene, die in diesem Kurs den Verrat am Internationalismus erkannten und einen anti-militaristischen Neubeginn der Arbeiterbewegung einleiten wollten, trafen sich auf Einladung des schweizer Arbeiterführers Robert Grimm in Zimmerwald: 37 Delegierte aus zwölf Ländern. Die Konferenz wurde zum Symbol des Widerstands, aber auch zum Schauplatz scharfer inhaltlicher Auseinandersetzungen: Sollte man den Weltkrieg hinnehmen und bestenfalls auf Verhandlungen für einen „demokratischen Frieden“ hoffen, oder die Erschütterungen des Kriegs für eine Revolution nützen?
Drei Hauptströmungen standen einander gegenüber. Der reformistische Flügel sah die Konferenz nur als einen abstrakten Aufruf zum Frieden. Der deutsche Delegierte Georg Ledebour drohte sogar, die Konferenz zu verlassen, sollte sie sich gegen Kriegskredite aussprechen.
Für die linke Minderheit um Lenin war der Krieg von allen Seiten ein imperialistischer Raubzug. Sie forderte einen radikalen Bruch mit den „Vaterlandsverteidigern“ in den eigenen Parteien und den Aufbau einer neuen Internationale. Ihr Ziel war, den imperialistischen Krieg durch Klassenkampf zu beenden: Streiks, Verbrüderung an der Front, Revolution statt Burgfrieden.
Dazwischen stand das pazifistische Zentrum, das mit den Linken sympathisierte, aber kein klares Verständnis des imperialistischen Krieges hatte und den Bruch mit den Opportunisten ablehnte.
Leo Trotzki bildete die Brücke der Revolutionären zum Zentrum. Er verfasste das Abschlussmanifest der Konferenz. Dieses geißelte die herrschenden Klassen und rief zur Solidarität auf, forderte aber weder klar den Sturz der Regierungen noch eine neue Internationale. Lenin kritisierte diese Auslassungen, aber betrachtete die Konferenz dennoch als Fortschritt. Erstmals seit Beginn des Krieges konnte die Position des revolutionären Marxismus ein Echo in der europäischen Arbeiterbewegung gewinnen.
Die österreichische Arbeiterbewegung glänzte durch Abwesenheit. Kein offizieller Delegierter der Sozialdemokratie nahm teil; bis dahin hatte es keine Opposition gegen den sozialpatriotischen Kurs gegeben. Erst im Dezember 1915 veröffentlichte Friedrich Adler sein Manifest „Die Internationalen in Österreich an die Internationalen aller Länder“, das Zimmerwald begrüßte, aber wenig Wirkung entfaltete.
Revolutionäre Impulse kamen von unten. Franz Koritschoner scharte in Wien eine illegale Gruppe linksradikaler Jungsozialisten um sich. Mit Flugblättern prangerten sie den Chauvinismus der „Arbeiter-Zeitung“ an. 1916 entsandten sie einen Delegierten nach Kienthal – auf die nächste Konferenz der Internationalisten –, wo Koritschoner Lenin persönlich traf. Nach Wien zurückgekehrt, setzte er Lenins Losung praktisch um und spielte eine führende Rolle in der Vorbereitung des Jännerstreiks 1918. Seine Gruppe agitierte für sofortigen Waffenstillstand und Räte nach russischem Vorbild. Er schloss sich der frisch gegründeten KPÖ an und wurde später Opfer der stalinistischen Konterrevolution.
Heute positioniert sich die KPÖ wie die historischen Gegner der Zimmerwalder Linken. Obwohl ein imperialistischer Krieg in der Ukraine, ein Genozid in Gaza und ständig neue Konflikte rund um den Globus toben, bleibt sie ganz im Rahmen des Pazifismus. Ihre Stellungnahmen beschränken sich auf Appelle an die eigene Regierung; Verurteilung der russischen Invasion, Absage an NATO-Aufrüstung, Festhalten an „aktiver Neutralität“. Aber der Schritt, den Krieg als Produkt kapitalistischer Konkurrenz offen mit der Aufgabe seiner Überwindung zu verknüpfen, also den Friedensappell als Klassenaufgabe zu formulieren, bleibt aus. Koritschoner bekämpfte den Krieg mit der Macht der Arbeiterklasse und bereitete die Revolution vor. Die KPÖ hilft stattdessen den Herrschenden, die Arbeiterklasse zu betrügen, indem sie die Illusion schürt, die Imperialisten könnten einfach abrüsten und Frieden machen.
In Zimmerwald prallten Antworten auf die Frage der Epoche aufeinander: Reform oder Revolution, Burgfrieden oder Klassenkampf, pazifistische Appelle oder Aufstand. Historisch behielt die Linke um Lenin recht. Erst die Revolutionen in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland haben schließlich den Krieg beendet. Aus Zimmerwald gingen die Kräfte hervor, die bald in Petrograd, München, Budapest und Wien die Herrschenden herausforderten. Wie damals hängt auch heute von der Beantwortung dieser Frage alles ab. Und wie heute waren damals die Internationalisten anfänglich eine winzige Minderheit in der Arbeiterbewegung. Lenin scherzte, in den vier Kutschen, in denen die Konferenzteilnehmer zum Tagungsort fuhren, befänden sich „alle Internationalisten der Welt“. Doch die Erfahrung des Krieges machte ihre scheinbar utopische politische Linie für Millionen zur offensichtlichen Wahrheit.
In Zimmerwald rettete eine Handvoll Internationalisten die Ehre des Sozialismus – gegen den Krieg, gegen die eigenen Parteiführungen, gegen alle Widerstände, gegen die Politik, die heute von SPÖ und KPÖ gemacht wird.
(Funke Nr. 236/28.08.2025)