Weitere Zuspitzung des Völkermordes

Der Völkermord an den Palästinensern wird mit unvermittelter Grausamkeit weitergetrieben. Gleichzeitig bereitet die Zuspitzung der Widersprüche im Nahen Osten revolutionäre Entwicklungen vor. Von Michael Scherr.
Anfang August verkündete Netanjahu die Absicht, den Gazastreifen „vollständig einzunehmen“. Das erste Ziel der israelischen Bodenoffensive ist Gaza-Stadt. Viele seiner 600.000 Einwohner sind in den letzten zwei Jahren bereits mehrmals vertrieben worden. Nun sollen sie abermals fliehen, um in einem Lager an der ägyptischen Grenze „konzentriert“ zu werden. Die zurückgelassenen Häuser der Vertriebenen werden von den IDF mit Bulldozern und Sprengtruppen dem Erdboden gleichgemacht um eine Rückkehr dauerhaft zu verhindern.
Wenige Tage vor Beginn der Offensive hat die UNO für Gaza Stadt offiziell eine Hungersnot ausgerufen. Seit Monaten kommen fast keine Hilfsgüter mehr in die völlig abgeriegelte Enklave. Trinkwasser ist ebenfalls knapp. Jeden Tag sterben Dutzende den Hungertod. Jeder weiß, dass diese Hungersnot völlig menschengemacht ist. Vor den Toren Gazas warten seit fünf Monaten hunderte LKWs beladen mit Lebensmitteln, Babynahrung und Medizin.
Im Hintergrund führen die USA und Israel diplomatische Gespräche mit Somalia, Somaliland und dem Südsudan, um Zwangsumsiedlungen der Palästinenser aus Gaza vorzubereiten. In diesen Ländern erwartet sie abermals nichts als Bürgerkrieg, Terrorismus und Krankheiten.
Netanjahus 6-Fronten Krieg destabilisiert die ganze Region. Bei Drohnenangriffen auf syrischem Staatsgebiet tötete Israel kürzlich 6 syrische Soldaten. Unter dem Deckmantel, die „Schutzmacht“ syrischer Minderheiten wie der Drusen zu sein, besetzt Israel immer mehr syrisches Land. Dahinter steckt eine schwelende Konfrontation zwischen den imperialistischen Ambitionen Israels mit jenen der Türkei.
Im Jemen bombardierte Israel in einem Großangriff Kraftwerke und zivile Gebiete der Hauptstadt Sanaa mit mindestens zehn Toten und 92 Verletzten. „Die gesamte Region lernt gerade die Macht und Entschlossenheit des Staates Israel kennen“, sagte der Premierminister anschließend.
Im Westjordanland eskaliert währenddessen der Landraub an den Palästinensern, der nach Jahren des Siedlerterrors mit hunderten Morden weiter staatlich zugespitzt und sanktioniert wird. So hat Israel hat grünes Licht für den seit Jahren umstrittenen E1-Siedlungsplan gegeben, der das Westjordanland in zwei Teile trennt. Finanzminister Smotrich sagte dazu: „Der palästinensische Staat wird nicht mit Slogans, sondern mit Taten vom Tisch gefegt.“
Der darauffolgende Aufschrei der europäischen Regierungschefs trieft von Heuchelei. In jeder entscheidenden Frage stehen sie weiter hinter Israel, während die Netanjahu-Regierung ungehindert Fakten schafft. Die angekündigte Anerkennung Palästinas als Staat durch Großbritannien, Frankreich etc. ist nicht mehr als eine symbolische Geste. Sie hat das Ziel, die öffentliche Meinung zu beschwichtigen und die letzten Überreste einer unabhängigen europäischen Nahostpolitik zu erhalten.
Die Völkermordpolitik der israelischen Regierung wirkt enorm destabilisierend auf den gesamten Nahen Osten. In Israel selbst droht Netanjahus Streben nach einem „totalen Sieg“ in Gaza, koste es was es wolle, die Gesellschaft auseinanderzureißen. Das Massenbewusstsein ist dabei enorm widersprüchlich: 82 % der jüdischen Israelis unterstützen die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza. Aber 74 % wollen ein Ende des Krieges mit einem Deal mit der Hamas für eine Rückkehr der Geiseln und 76 % wollen Netanjahus Rücktritt. Nach der Ankündigung der neuen Offensive auf Gaza-Stadt, die ein Todesurteil für die verbliebenen Geiseln ist, beteiligten sich eine Million Israelis an Demonstrationen und Straßenblockaden.
Der liberale Teil der Kapitalisten unterstützt diese Bewegung gegen Netanjahu. Die Unterschiede zwischen den beiden Flügeln der herrschenden Klasse sind aber taktischer und nicht prinzipieller Natur. Beide unterstützen die Expansionspolitik, also die Vertreibung der Palästinenser. Die liberalen Zionisten befürworten ein schleichendes, vorsichtigeres Vorgehen im Gegensatz zur aggressiven Völkermordpolitik der rechten Zionisten, welche soziale Schockwellen auslösen und das Land zunehmend isolieren.
Diese Spaltungen in der herrschenden Klasse gehen bis in den Generalstab des Militärs. Der zentrale Grund dafür ist, dass die Generäle Angst vor der immer weiter sinkenden Moral der Truppen in einem potentiell endlosen Guerillakrieg und Völkermord haben. Schon jetzt gibt es die größte Welle von Militärdienstverweigerungen seit dem Libanonkrieg 1982 und die Quote von Dienstantritten bei Reservisten fiel von 120% der notwendigen nach dem 7. Oktober 2023 auf jetzt 60%. Ein offener Brief von Mitarbeitern des Geheimdienstes zeigt die Spaltung im Staatsapparat:
„Wenn eine Regierung mit Hintergedanken handelt, Zivilisten schadet und zur Tötung Unschuldiger führt, sind die von ihr erteilten Befehle eindeutig illegal, und wir dürfen ihnen nicht gehorchen.“
Solche Aufrufe zur Befehlsverweigerung bringen die Grundfesten der IDF selbst in Gefahr. In der Zukunft können diese Widersprüche zur Grundlage von revolutionären Entwicklungen werden.
In den arabischen Ländern brodelt es ebenfalls gewaltig, insbesondere in Ägypten und Jordanien, die als wichtige Verbündete der USA direkte Komplizen im Völkermord sind – auch wenn das wegen der massiven Unterdrückung in diesen Ländern nicht immer sichtbar ist. Insbesondere Ägypten, das die Blockade des Gazastreifens direkt unterstützt, ist eine brutale Militärdiktatur. Die enorme Wut über die Komplizenschaft ihrer eigenen Herrschenden brachte die Massen in Jordanien dazu, sich bei Demos direkt an die Armee zu wenden mit Rufen wie: „Wo ist die Arabische Armee? Sie schläft!“ Auch die jordanische Regierung greift seitdem immer mehr zu offener Repression: Demo- und Parteienverbote sowie die Schließung unabhängiger Medien.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ägyptischen und jordanischen Massen zu dem einzigen Weg gedrängt werden, auf dem sie echte Solidarität mit Palästina zeigen können: einer Revolution, die ihre eigene, korrupte herrschende Klasse stürzt, die voll und ganz mit dem Imperialismus und damit dem Völkermord Israels verbunden ist. Die sich entwickelnde Stimmung zeigte sich, als Ende Juli ein Student in der ägyptischen Stadt Belqas durch Folter in Polizeihaft starb – hunderte leisteten sich dort daraufhin Straßenschlachten mit der Polizei und der Slogan der Revolution von 2010-11 wurde laut: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“
Die Aufgabe der Solidaritätsbewegung hier muss es sein, diesen revolutionären Prozessen zu helfen und nicht der eigenen herrschenden Klasse und ihrem Versuch der Schadensbegrenzung hinterherzulaufen. Im Gegenteil: Ohne die weiterhin stattfindende Unterstützung des westlichen Imperialismus könnte Israel keine Woche den Völkermord weiterführen und die korrupten arabischen Regimes würden in kürzester Zeit fallen. Der Kampf für die Befreiung der Palästinenser beginnt also mit dem Kampf gegen unsere Herrschenden, gegen Imperialismus und Kapitalismus im eigenen Land!
(Funke Nr. 236/28.08.2025)