Zum hundertsten Jubiläum der russischen Revolution 1917 widmen wir den Ereignissen des Jahres eine Artikelserie. Dieses Mal beleuchten wir den Putschversuch der Reaktion im August. Von Raphael Lins.
Nach der Februarrevolution, die zwar den Zaren gestürzt, aber keine der grundlegenden Fragen der russischen Gesellschaft gelöst hatte, spitzten sich die Ereignisse immer mehr an Klassenlinien zu. Die Politik der reformistischen Regierung ließ den Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten überkochen. Die revolutionärsten Schichten der Bevölkerung, vor allem in den Arbeiterbezirken in Petrograd, das Herz der Revolution, wussten, dass sie die Macht selbst in die Hand nehmen müssen. Doch im Juli stießen sie auf ein unlösbares Problem: die reformistische Führung der Sowjets (Räte) stellte sich den radikalisierten Massen direkt in den Weg, woraufhin die Bewegung zusammenbrach. Nun hatte die Reaktion freie Hand: sie begann eine Hetzjagd auf alles, was nur nach Revolution, ArbeiterIn oder Bolschewiki roch (siehe Funke Nr. 155).
Die ganze Macht im Land war nach rechts verschoben. Trotzki schreibt:
(1) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 2, Kapitel 5 (2) ebd., Kapitel 9 (3) ebd., Kapitel 13 (4) ebd., Kapitel 10 (5) ebd., Kapitel 13
Weitere Artikel in der Reihe:
„Nach Auflösung der revolutionärsten Truppenteile und Entwaffnung der Arbeiter verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen der Militärspitzen, der Bank- und Industrie- wie der Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein beträchtlicher Teil der realen Macht.“ (1)Dieser rechte Flügel der Bourgeoisie, der Klasse an reichen Fabrik- und BankeigentümerInnen, gab sich mit einer Niederlage der revolutionären Bewegung nicht zufrieden: sie wollten die endgültige Zerschlagung der Sowjets und Komitees. Hin- und hergerissen schwankte die versöhnlerische Provisorische Regierung zwischen revolutionären Phrasen und der offenen Konterrevolution. Der Regierungschef Kerenski, ständig von „revolutionärer Demokratie“ schwätzend, brauchte den militärisch-bürgerlichen Flügel ebenso wie sie ihn, den Versöhnler, für den Moment brauchten. Das Bürgertum sah in Kerenski einen Punkt, an dem sie ihre Kräfte einsetzen konnten, um die Sowjets auszuhebeln, d.h. um die Arbeiterklasse möglichst zu demoralisieren und deren Kampfbereitschaft abzuwürgen. Unter den Fabrikdirektoren, Offizieren, Kadetten und Generälen reifte aber immer mehr die Idee einer offenen Militärdiktatur mit dem reaktionären General Kornilow (dem Oberbefehlshaber der Armee) an der Spitze heran. Dieser war entschlossen, mit der Revolution endgültig Schluss zu machen. Zwar hegte Kerenski Ambitionen, selbst an der Spitze dieser „Kornilowiade“ zu stehen, doch die Bürgerlichen brauchten ihn nur als Deckung, um später mit Kornilow die Komitees und Sowjets endgültig zu zertreten. Die Bourgeoisie wurde immer ungeduldiger und forderte eine härtere Gangart. Unter dem Druck der Kadetten und Offiziere beeilte sich die Provisorische Regierung, dem reaktionären Programm Kornilows zuzustimmen. Um die Verschwörung (und seine eigene Position) nicht zu gefährden, paktierte Kerenski hinter dem Rücken der Sowjets und seiner eigenen Regierung mit den Generälen. Er wollte die Meuterei des Generalstabs zur Festigung seiner eigenen Diktatur nutzen. Doch während Kerenski nur die Bolschewiki und die Sowjets unschädlich machen wollte, ging Kornilow noch einen Schritt weiter: er wollte auch die Provisorische Regierung stürzen. Kerenski begriff erst allmählich die Tragweite seines Spiels und bekam es mit der Angst zu tun. Er sah sich gezwungen, seinen ehemaligen Bündnispartner Kornilow schließlich am 9. September zu entmachten und setzte ihn als Oberbefehlshaber der russischen Armee ab. Dieser jedoch wollte von seinem einmal gefassten Entschluss nicht abweichen und ließ seine Truppen zusammenziehen, um das „bolschewistische Petrograd ein für alle Mal zu zermalmen.“ (2) Kornilow hatte eine offene Militärdiktatur unter Deckung der bürgerlichen Klasse im Sinne. Eine solche Militärdiktatur sollte die ArbeiterInnen von ihren „revolutionären Ideen“ abhalten und unterdrücken. Mit seinen Offizieren und den „treuesten“ Teilen der Armee wollte er Petrograd angreifen, besetzen und die Regierung selbst in die Hand nehmen. Kerenski indes beeilte sich, dem Putsch zuvorzukommen, flüchtete sich im Augenblick der Gefahr zu den revolutionären Massen, nur um gleichzeitig schon wieder die Auslieferung der Macht an die Bürgerlichen vorzubereiten. Er versandte eifrig Telegramme, gab sich großzügig, paktierte mit diesem und gab jenem weitreichende Vollmachten. In Wirklichkeit war Kerenski völlig machtlos: ihm wurde sowohl von rechts wie von links der Boden unter den Füßen weggezogen. Während der Regierungschef ratlos im Winterpalais auf- und abschritt, formierte sich aus Delegierten der Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern ein neues Sowjetorgan, das Militärische Revolutionskomitee. Diesem Verteidigungskomitee sollte es obliegen, den Kampf gegen Kornilows Rebellion zu führen.
Kornilows „Aufstand“
Indes entpuppte sich der von den Bürgerlichen herbeigesehnte Aufstand des „Landesretters“ Kornilow als Fata Morgana: die Rebellion verpuffte in dem Moment, in dem sich das erste Hindernis auftat. Der Aufstand hatte seine soziale Basis allein im Offiziersstand und im Bürgertum, die allesamt gewohnt waren, dass Eisenbahnen, Telegrafen, Post und Armee auf ihren Befehl hin funktionierten. Aber nicht etwa eines von Kerenskis zahllosen Telegrammen, sondern eben gerade die Eisenbahner, Hausmeister, Postler, Telegrafenarbeiter, die unmerklichen Rädchen im System, die allesamt aufseiten der Sowjets standen, brachten Kornilow zu Fall. Kornilows „todesmutige“ Offiziere versanken im Alkohol, drehten vorzeitig um, sobald sie auf ihnen feindlich gesonnene Truppen stießen, oder tauchten zur Stunde des Gefechts gar nicht erst auf; die Eisenbahner leiteten Züge mit Kornilows Truppen absichtlich in falsche Richtungen und die Telegrafenarbeiter fingen Kornilows Botschaften auf. In fast allen Bezirken Petrograds formierten sich Kampfmannschaften der Arbeiterschaft. Alle Ebenen der Gewerkschaften, Komitees und Sowjets gaben die Leitung des Widerstandes faktisch dem Revolutionären Militärkomitee. Wie so oft in entscheidenden Situationen war die Initiative von unten, von den revolutionären ArbeiterInnen und Soldaten, gekommen. Die Hauptaufgabe des Verteidigungskomitees bestand darin, all dies zu koordinieren und zu leiten. Die Bolschewiki, die zu dieser Zeit bereits unter beträchtlichen Kreisen der Arbeiterschaft hohes Ansehen genossen, waren im Verteidigungskomitee die aktivsten Kämpfer gegen Kornilow. Lenin sagte dazu:„Wir werden kämpfen und wir kämpfen gegen Kornilow, aber wir unterstützen nicht Kerenski, sondern entlarven seine Schwäche.“ (3)Das war der Kern: die Bolschewiki lieferten Kerenski und seinen Versöhnlern zwar technische Unterstützung gegen Kornilow, nicht aber politische. Die radikalisierten ArbeiterInnen und Soldaten, die sehr wohl begriffen, dass nicht nur Kornilow, sondern gerade auch Kerenskis Regierung das Problem darstellte, fragten, ob es nicht an der Zeit sei, die Regierung zu verhaften. Die Bolschewiki sagten ihnen:
„Nein, es ist noch nicht Zeit, legt das Gewehr auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow. Danach werden wir unsere Rechnung mit Kerenski machen.“ (4)Mit der Hilfe der Bolschewiki also konnte Kerenski den Putsch seines früheren Bündnispartners Kornilow unterdrücken, doch war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Kerenski von den revolutionären Massen beiseitegeschoben würde. Trotzki schreibt dazu:
„Kerenski und Kornilow bedeuteten zwei Varianten der gleichen Gefahr; doch diese Varianten, die schleichende und die akute, standen Ende August einander feindselig gegenüber. Man musste vor allem die akute Gefahr abwenden, um später mit der schleichenden fertigzuwerden.“ (5)Mit Kerenski abzurechnen, war dann Aufgabe des Oktobers.
Die Massen ziehen ihre Schlüsse
Die Augusttage brachten wichtige Erfahrungen: das Kräfteverhältnis verschob sich scharf von rechts nach links, und die Sowjets wurden wieder zu Kampforganen der Arbeiterschaft und der Soldaten gegen die Bourgeoisie. Die Massen radikalisierten sich zunehmend und zogen aus den Ereignissen immer öfter den Schluss, dass sich ohne ihre direkte Machtübernahme nichts ändern würde. Im Petrograder Sowjet erhielten die Bolschewiki erstmals die Mehrheit. Gleichzeitig wurden sich die Massen bewusst, dass die Wahl nicht lautet: entweder bürgerliche Demokratie oder Bolschewiki, sondern: Militärdiktatur der Konterrevolution oder sozialistische Rätedemokratie. Zunehmend schlagen die Sympathien der unterdrückten Bevölkerung zu den Bolschewiki um: Sie sind die einzige Partei, die für die ArbeiterInnen und Soldaten gekämpft hat. Unablässig gräbt der Maulwurf der Geschichte seine Gänge, und immer nachhaltiger befreien sich die Massen unter den Schlägen der Reaktion von ihren Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Die Bolschewiki wachsen von nun an unaufhaltsam.(1) Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 2, Kapitel 5 (2) ebd., Kapitel 9 (3) ebd., Kapitel 13 (4) ebd., Kapitel 10 (5) ebd., Kapitel 13
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Ein zerrissenes Land
- Teil 2: Die Februarrevolution
- Teil 3: Der Zar ist gestürzt! Was nun?
- Teil 4: Der Kampf um eine revolutionäre Partei
- Teil 5: Der Frühsommer
- Teil 6: Die Julitage
- Teil 7: Putschversuch von Rechts
- Teil 8: Die Oktoberrevolution
- Teil 9: Die Sowjets ergreifen die Macht
- Teil 10: Der Funke fliegt