Am 21. August jährt sich der Todestag von Leo Trotzki, der einen Tag nach dem Angriff eines von Stalin geschickten GPU-Agenten im Jahr 1940 verstarb. Dieser Text wurde von Alan Woods anlässlich der Neuauflage des Buches Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution als Einleitung geschrieben, das eine umfangreiche Darstellung von Trotzkis Leben, Schriften und Ideen bietet.
Leben und Schriften Leo Trotzkis
Lew Dawidowitsch Bronstein zählt neben Lenin zu den bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts. Sein Leben war der Arbeiterklasse und dem internationalen Sozialismus gewidmet. Und was für ein Leben! Von seiner Jugend, als er nächtelang illegale Streikaufrufe herstellte, was zu seiner ersten Verurteilung zu Gefängnis und Deportation nach Sibirien führte, bis zu seiner Ermordung durch einen Agenten Stalins im August 1940 arbeitete er unaufhörlich für die revolutionäre Bewegung. In der ersten russischen Revolution des Jahres 1905 war er Vorsitzender des Petersburger Sowjets. Nach einer zweiten Verbannung nach Sibirien, von wo er abermals fliehen konnte, setzte er seine revolutionären Aktivitäten in den Ländern seines Exils fort. Während des Ersten Weltkrieges nahm Trotzki eine konsequent internationalistische Position ein. Er war der Autor des Zimmerwalder Manifests, das auf die Vereinigung der revolutionären Kriegsgegner abzielte. 1917 war er der Organisator des Aufstands in Petrograd.
Nach der Oktoberrevolution wurde Trotzki zum ersten Volkskommissar für Äußeres gewählt und leitete die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn in Brest-Litowsk. Während des blutigen Bürgerkrieges, als imperialistische Interventionsarmeen in Sowjetrussland einmarschierten und das Überleben der Revolution auf des Messers Schneide stand, organisierte Trotzki die Rote Armee und führte den Kampf gegen die konterrevolutionären Weißen Truppen. Mit seinem berühmten gepanzerten Zug legte er dabei Tausende von Kilometern zurück. Lenin würdigte Trotzkis Aufbau der Roten Armee im Gespräch mit Maxim Gorki mit folgenden Worten: „Nun zeigt uns doch einen anderen Menschen, der fähig wäre, in einem Jahr eine fast mustergültige Armee zu organisieren und dazu noch die Achtung der militärischen Spezialisten zu erobern. Bei uns gibt es einen solchen Menschen.“ [1]
Trotzkis Rolle bei der Konsolidierung des ersten Arbeiterstaates der Welt beschränkte sich jedoch nicht auf die Rote Armee. Gemeinsam mit Lenin arbeitete er am Aufbau der Dritten Internationale. Für die ersten vier Weltkongresse schrieb Trotzki die Manifeste und viele ihrer wichtigsten Dokumente. Zuständig war er auch für die Wiederherstellung des Eisenbahnnetzes in der Periode des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Auch als Schriftsteller war Trotzki in diesen Jahren äußerst produktiv. Neben politischen Analysen und militärtheoretischen Traktaten schrieb er viele Literaturkritiken (Literatur und Revolution) und über Probleme des nachrevolutionären Alltagslebens.
Nach Lenins Tod im Januar 1924 führte Trotzki den Kampf gegen die bürokratische Degeneration des Sowjetstaates an, den Lenin noch in der Zeit seiner Erkrankung begonnen hatte. Im Zuge dieses Kampfes war Trotzki der erste, der für einen Fünfjahresplan zum Aufbau der Sowjetwirtschaft plädierte, was Stalin und seine Gefolgsleute noch jahrelang ablehnten. Trotzkis Verdienst war es, die revolutionären, demokratischen und internationalistischen Traditionen des Oktobers zu verteidigen. Die von ihm in den zwanziger Jahren verfassten Dokumente der Linken Opposition bereiteten seine historisch-materialistischen Analysen der stalinistischen Entartung der russischen Revolution vor (Die verratene Revolution, In Verteidigung des Marxismus und Stalin). Seine Schriften aus den Jahren 1928 bis 1940 sind eine wahre Schatzkammer marxistischer Theorie. Sie galten vor allem den Problemen der chinesischen Revolution, dem Kampf gegen den Faschismus in Deutschland und der Verteidigung der Spanischen Republik, daneben auch literarischen und philosophischen Fragen.
Trotzki war überzeugt, das letzte Jahrzehnt seines Lebens sei – wegen der Verteidigung des revolutionären Marxismus und der Traditionen des Oktobers gegen die stalinistische Konterrevolution und gegen die Geschichtsfälschungen der Stalinisten – sein wichtigstes gewesen. Die Schriften der dreißiger Jahre sind Trotzkis großartigster Beitrag zum Marxismus und zur Entwicklung der weltweiten Arbeiterbewegung. Wir lassen uns heute noch von ihnen inspirieren.
Die Anfänge der russischen Revolution
Was bedeutete es, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im zaristischen Russland ein Revolutionär zu sein? Das russische Regime war das reaktionärste in Europa. Der Zarismus stützte sich auf eine riesige Armee und einen enormen Polizeiapparat und setzte diese entschieden gegen jede revolutionäre Bewegung ein.
Die gefürchtete Geheimpolizei, die Ochrana, hatte überall ihre Fühler. Es gab keine politischen Rechte, keine freien Gewerkschaften, keine wirklichen Parteien. Die Gefängnisse und die sibirischen Strafkolonien waren überfüllt mit politischen Gefangenen. Die Universitäten wurden sorgfältig von einer Armee von Spionen überwacht, Streiks und Demonstrationen wurden von Kosaken niedergeschlagen. Dennoch betrat die russische Arbeiterbewegung in den 1890er Jahren mit einer imposanten Streikwelle die Bühne der Geschichte. Ausgehend von kleinen Zirkeln und Diskussionsgruppen wurde allmählich auch der Marxismus bei den Arbeitern und Arbeiterinnen populär.
Zu dieser neuen Generation von Revolutionären gehörte auch der junge Lew Dawidowitsch Bronstein. Er begann seine revolutionäre Karriere noch zu seinen Schulzeiten in Nikolajew im Februar-März 1897 in einem kleinen illegalen revolutionären Kreis von Nadrodniki [2]. Bald löste er sich aus diesem Kreis und betätigte sich führend an der Gründung einer ersten illegalen marxistisch inspirierten Arbeiterorganisation, dem sozialdemokratischen Südrussischen Arbeiterbund. Lew Dawidowitsch wurde das erste Mal im Alter von 19 Jahren inhaftiert und verbrachte zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Danach wurde er nach Sibirien verbannt, von wo ihm jedoch schon bald die Flucht gelang. Mit einem gefälschten Pass, der auf den Namen „Trotzki“ lautete – den einer seiner Gefängniswärter trug –, war es ihm möglich, Russland zu verlassen. Im Londoner Exil schloss er sich im Oktober 1902 zunächst Lenin an.
Der Funke wird ein Feuer entfachen
Trotzki wurde Mitarbeiter der Zeitung Iskra (Funke). Lenin und seine unermüdliche Gefährtin Nadeschda Krupskaja schrieben Artikel, produzierten und verschickten die Zeitung und erledigten die umfangreiche Korrespondenz mit der illegalen Bewegung in Russland. Die Iskra wurde nach Russland hineingeschmuggelt und gewann rasch an Einfluss. 1903 wurde die Iskra-Gruppe zur stärksten Strömung der russischen Sozialdemokratie.
Trotzki war nicht bewusst, dass die Beziehungen unter den Herausgebern der Iskra bereits sehr angespannt waren. Lenin setzte große Hoffnungen auf den Neuankömmling. Der damals 22-Jährige hatte sich bereits einen Namen als Autor gemacht, was ihm den Parteinamen „Pero“ (die Feder) eintrug. In der ersten deutschsprachigen Ausgabe ihrer Memoiren beschrieb Lenins Frau Krupskaja die Haltung ihres Mannes gegenüber Trotzki mit folgenden Worten:
„Sowohl die warmen Empfehlungen des ‚jungen Adlers’ wie auch die erste Unterhaltung veranlassten Wladimir Iljitsch, sich den Genossen besonders aufmerksam anzuschauen. Er unterhielt sich viel mit ihm und machte oft mit ihm zusammen Spaziergänge.“ [3]
Weiter heißt es da:
„Aus Russland wurde lebhaft Trotzkis Rückkehr verlangt. Wladimir Iljitsch wünschte jedoch, daß er im Ausland blieb, um zu lernen und an der Iskra mitzuarbeiten. (…) Als Wladimir Iljitsch ihm Trotzkis Artikel einsandte, antwortete Plechanow: ‚Die Feder Ihrer Feder gefällt mir nicht’. – antworte Iljitsch darauf: ‚der Mann ist lernfähig und wird sehr nützlich sein.’ Im März 1903 stellte Wladimir Iljitsch den Antrag, Trotzki in die Redaktion der Iskra aufzunehmen. Trotzki reiste bald darauf nach Paris ab, wo er mit ungewöhnlichem Erfolg aufzutreten begann.“[4]
Lenins Versuch, die Pattsituation in der Redaktion durch die Aufnahme Trotzkis zu überwinden, scheiterte zweimal am Veto Plechanows.
Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie
Unglücklicherweise fand diese frühe Zusammenarbeit von Lenin und Trotzki mit der Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands auf ihrem zweiten Kongress ein jähes Ende. Dieses Treffen war geprägt von der Auseinandersetzung zwischen den zwei Flügeln der Iskra – Gruppe. Auf der einen Seite stand Lenin für die Konsolidierung einer disziplinierten, effizienten revolutionären Partei. Dem widersetzten sich die Mitglieder der alten Gruppe „Befreiung der Arbeit“, welche Lenins Position auf Lenins Persönlichkeit reduzierten und ihm Ruhmsucht, „bonapartistische Tendenzen“, „Ultrazentralismus“ und dergleichen unterstellten.
Die Spaltung schien zufällig zustande gekommen. Als Lenin vorschlug, Axelrod, Sassulitsch und Potresov aus der Redaktion der Iskra abzuwählen, waren diese beleidigt und provozierten einen Skandal. Die „alten“ Aktivisten vermochten es auch, Trotzki, dem der politische Kern der Auseinandersetzung verborgen blieb, zu beeindrucken.
Die sogenannte „weiche“ Tendenz, die von Martow vertreten wurde, trat als Minderheit (Menschewiki) hervor und weigerte sich nach dem Kongress, die Beschlüssen zu befolgen beziehungsweise sich am Zentralkomitee und an der Redaktion der Iskra zu beteiligen. Alle Bemühungen Lenins, nach dem Kongress eine Kompromisslösung zu finden, scheiterten. Plechanow, der beim ersten Kongress noch Lenin unterstützt hatte, konnte dem Druck seiner alten Genossen und Freunde nicht standhalten. Schließlich kam Lenin Anfang 1904 zu dem Schluss, dass er „Mehrheitskomitees“ (Bolschewiki) organisieren müsse, um zumindest Teile der Partei nach dem chaotischen Kongress zu retten. So wurde die Spaltung der Partei zu einer vollendeten Tatsache.
Trotzki unterstützte auf dem zweiten Kongress die Minderheit gegen Lenin. Bolschewismus und Menschewismus hatten sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als klar umrissene politische Tendenzen herauskristallisiert. Erst 1904 setzte eine politische Differenzierung ein, und dabei ging es kaum mehr um die Frage eines eher zentralistischen oder eher dezentralen Parteiaufbaus, sondern um die Schlüsselfragen der kommenden russischen Revolution: Zusammenarbeit mit der liberalen Bourgeoisie oder unabhängige Politik der Arbeiterpartei. Als diese politischen Differenzen zu Tage traten, brach Trotzki mit den Menschewiki und blieb formal bis ins Jahr 1917 von beiden Fraktionen unabhängig.
Trotzki im Jahre 1905
Die militärischen Niederlagen der zaristischen Armee im russisch-japanischen Krieg verstärkten die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung; das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als die Armee am 9. Januar 1905 eine Demonstration in Sankt Petersburg blutig unterdrückte, begann in Stadt und Land eine spontane Revolution. Welche Rolle spielte Trotzki in der Revolution von 1905, und in welcher Beziehung stand er zu Lenin und den Bolschewiki?
An dieser Stelle können die revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 nicht im Einzelnen dargestellt werden. Eines der besten Bücher zu diesem Thema ist Trotzkis 1905 – ein Klassiker der marxistischen Revolutionsgeschichtsschreibung. Mit nur 26 Jahren wurde Trotzki Vorsitzender des Petersburger Rats (Sowjets) der Arbeiterdelegierten, jenes Ausschusses, den Lenin als “embryonales Organ der revolutionären Macht“ beschrieb. Die meisten Manifeste und Resolutionen dieses Sowjets stammten von Trotzki, der auch als Herausgeber der Räte-Zeitung Iswestija fungierte.
Er übernahm außerdem die Publikation der Zeitung Russkaja Gaseta und machte daraus den populären Natschalo, der in hoher Auflage verbreitet wurde. Trotz der vorangegangenen bitteren Auseinandersetzungen arbeiteten Trotzkis Natschalo und die von Lenin herausgegebene bolschewistische Novaja Shisn, solidarisch zusammen. Die bolschewistische Zeitung begrüßte die erste Ausgabe des Natschalo folgendermaßen:
“Die erste Nummer des >Natschalo< ist erschienen. Wir begrüßen den Kampfgenossen. in der ersten Nummer fällt die glänzende Schilderung des Novemberstreiks auf, die vom Genossen Trotzki stammt.” [5]
Nach der Niederlage der Revolution wurde Trotzki als Vorsitzender mit den anderen Mitgliedern des Sowjets verhaftet. Seine Verteidigungsrede nutzte er zu einer beeindruckenden Anklage des zaristischen Regimes. Zu „unbefristeter Deportation“ verurteilt, gelang ihm schon nach acht Tagen die Flucht aus Sibirien. Er ging erneut ins Exil und erreichte über mehrere Zwischenstationen im Oktober 1907 Österreich, wo er seine revolutionären Aktivitäten fortsetzte und in Wien eine Zeitung mit dem Namen Prawda herausgab. Mit ihrem einfachen und ansprechenden Stil wurde die Prawda im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Zeitungen bald außerordentlich populär. Trotzki war auch in der österreichischen Sozialdemokratie aktiv, schrieb für ihre Presse und stand in regem Gedankenaustausch mit den führenden Köpfen des Austromarxismus. Dokumentiert ist auch, dass die Redaktion der Arbeiter-Zeitung 1909 das Weiterbestehen der Prawda finanziell unterstützt hat, obwohl Trotzki die politischen Schwächen des Austromarxismus offen kritisierte. [6]
Lunatscharski, der zu jener Zeit zu Lenins engsten Vertrauten zählte, schrieb 1918 rückblickend:
“Seine Volkstümlichkeit beim Petersburger Proletariat war zur Zeit seiner Verhaftung enorm und stieg in Folge seines pittoresken und heroischen Verhaltens vor Gericht noch mehr. Ich muss sagen, dass von allen sozialdemokratischen Führern der Zeit von 1905 –1906 Trotzki sich zweifellos, trotz seiner Jugend, als derjenige erwies, der am besten vorbereitet war. Weniger als irgendjemand von ihnen trug er den Stempel einer Art emigrationsbedingter Enge der Anschauungen, die, wie ich schon sagte, zu dieser Zeit sogar Lenin in Mitleidenschaft zog. Trotzki verstand besser als die anderen, was es heißt, den politischen Kampf in einem breiten nationalen Maßstab zu führen. Er ging aus der Revolution als ein Mann hervor, der sich eine ungeheure Popularität errungen hatte, während dagegen weder Lenin noch Martow dergleichen gewannen. Plechanow verlor wegen seiner kadettenhaften[7] Tendenzen viel von seinem Ansehen. Trotzki stand damals an der Spitze.“ [8]
Die permanente Revolution
Schon vor 1905 hat Trotzki im Zusammenhang mit den innerparteilichen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Proletariat und Bourgeoisie in der kommenden Revolution die Grundzüge seiner Theorie der permanenten Revolution ausgearbeitet. Die Menschewiki argumentierten, die russische Revolution werde aufgrund des vorherrschenden Feudalismus in Russland eine bürgerlich-demokratische sein; die Arbeiterklasse könne darum nicht die Macht übernehmen, sondern müsse die liberale Bourgeoisie unterstützen. Der einzige, der zu dieser Zeit damit rechnete, dass die russischen Arbeiter noch vor den Proletariern in Frankreich und Deutschland an die Macht kommen könnten, war Trotzki.
Die Menschewiki verfochten eine mechanische Parodie der Marxschen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser „Etappentheorie“ zufolge lag die sozialistische Revolution in ferner Zukunft. Einstweilen sollte sich die Arbeiterklasse als Hilfstruppe der „liberalen“ Bourgeoisie betätigen. Diese reformistische Konzeption führte viele Jahre später, als die Stalinisten sie sich zu eigen machten, zu den Niederlagen der Arbeiterklasse in China 1927, in Spanien 1936–39 und schließlich in Indonesien 1965 und in Chile 1973.
Aber wie konnte die Arbeiterklasse in dem rückständigen, halbfeudalen Russland an die Macht kommen? Trotzki schrieb:
“Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. (…) Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.” [9]
Bedeutet dies, dass Trotzki, wie die Stalinisten später behaupteten, die bürgerlichen Aufgaben der Revolution leugnete? Trotzki erklärte:
“In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren, objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende „Episode“ sein wird, wie es manche realistischen Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht? ” [10]
Vor 1917 war nur Trotzki bereit, die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution im rückständigen Russland explizit zu erörtern. Zwölf Jahre später sollte die Geschichte ihm Recht geben. Lenin, der später einräumte, dass Trotzkis Auffassung derjenigen der Bolschewiki sehr nahe kam, konnte sich lange Zeit nicht zu einer klaren Position in der Frage einer sozialistischen Revolution in Russland durchringen.
Die eigentliche Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Trotzki betraf in der Vorkriegszeit Trotzkis „versöhnlerische“ Tendenz. Trotzki hoffte auf einen möglichen Zusammenschluss des linken Flügels der Menschewiki mit den Bolschewiki. Trotzki plädierte dafür auch in seiner populären Wiener Prawda und schien damit zeitweilig auch Erfolg zu haben. Lenin war durch Trotzkis Weigerung, sich der bolschewistischen Fraktion anzuschließen – obwohl sie nicht durch tiefgreifende politische Meinungsverschiedenheiten getrennt waren, irritiert. Trotzki klammerte sich jahrelang an die Hoffnung, eine neue revolutionäre Welle werde die besseren Elemente beider Tendenzen zusammenführen. Später erschien ihm das als der schwerste politische Fehler seines Lebens. 1927 schrieb er an das „Institut für Parteigeschichte“:
„Wie ich schon oftmals erklärt habe, war bei meinen Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus über eine Reihe von wichtigen Fragen der Irrtum auf meiner Seite. Um annähernd und in wenigen Worten die Natur und die Ausdehnung meiner früheren Meinungsverschiedenheiten mit dem Bolschewismus zu schildern, möchte ich Folgendes sagen: Während der Zeit, als ich [außerhalb] der bolschewistischen Partei stand, während der Periode, als meine Zwistigkeiten mit dem Bolschewismus ihren höchsten Punkt erreicht hatten, war die Entfernung, die mich von den Ansichten Lenins trennte, niemals so groß wie die Entfernung, die heute zwischen der Haltung Stalins und Bucharins und den wirklichen Grundlagen des Marxismus und Leninismus besteht.“ [11]
Man darf freilich nicht übersehen, dass die Situation in der russischen Sozialdemokratie zu jener Zeit keineswegs so klar war, wie es im Nachhinein erscheint. Auch Lenin versuchte mehr als einmal mit bestimmten Gruppen zusammenzuarbeiten. 1908 brachte er ein Abkommen mit Plechanow zustande und „träumte von einer Allianz mit Martow“ (Lunatscharski). In der Praxis erwies sich das dann aber doch wieder als unmöglich. Lenins damalige harsche Attacken gegen den „Trotzkismus“ (d. h. gegen das „Versöhnlertum“) galten auch den „Versöhnlern“ in den Reihen der Bolschewiki. Trotzkis Antworten fielen freundlicher aus. Die revolutionäre und die reformistische Tendenz entfernten sich immer weiter voneinander; früher oder später wurde ein vollständiger Bruch unausweichlich. Lenin bereitete seine Fraktion mit diesen Polemiken darauf vor. 1912 brach er entschieden und auf einer eindeutigen politischen Grundlage mit den Menschewiki. Das war das wahre Gründungsdatum der bolschewistischen Partei. Die Polemiken aus der Vorkriegszeit wurden später von den Stalinisten skrupellos ausgeschlachtet, um Leninismus und „Trotzkismus“ als feindliche politische Strömungen hinstellen zu können.
Lenins Entscheidung, mit den Menschewiki zu brechen und eine selbständige Partei zu organisieren, war durch den Gang der Ereignisse gerechtfertigt. Von 1911 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Russland einen neuerlichen Aufschwung der Klassenkämpfe. Vier Fünftel der organisierten Arbeiter in Sankt Petersburg unterstützten die Bolschewiki. Von großer Bedeutung war die Gründung der bolschewistischen Tageszeitung Prawda, die sich den Titel von Trotzkis Wiener Zeitung aneignete. Trotzki protestierte und versuchte vergeblich auch weiterhin, auf eine Wiederherstellung der Einheit der Partei hinzuarbeiten.
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und Trotzki verloren bald an Bedeutung. Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie nahm die Spaltung der II. Internationale vorweg, und im Krieg fanden sich Lenin und Trotzki wieder auf derselben Seite.
Der Erste Weltkrieg
Mit ihrer Entscheidung, bei Ausbruch des Krieges „ihre“ nationalen Bourgeoisien zu unterstützen, verrieten die meisten Parteiführungen der Sozialistischen Internationale die Interessen der Arbeiterklasse. Die plötzliche nationalistische Wendung der meisten Parteien der Internationale bedeutete den Zusammenbruch der internationalen Organisation. Nur eine Minderheit blieb dem Internationalismus treu: Lenin in Russland, Rosa Luxemburg, Otto Rühle und Karl Liebknecht in Deutschland, die Führer der serbischen Sozialdemokraten, James Connolly in Irland und John Maclean in Schottland. Auch Trotzki rief, wie aus seinem Buch Der Krieg und die Internationale hervorgeht, von Anfang an zur Revolution gegen den Krieg auf.
Die Zimmerwalder Konferenz von 1915 war ein Versuch, alle Sozialisten, die offene, unversöhnliche Kriegsgegner waren, zusammenzubringen. Als Lenin die kleine Schar der „Zimmerwalder“ sah, bemerkte er sarkastisch, man könne alle Internationalisten der Welt in zwei Postkutschen unterbringen. Trotzki schrieb im Auftrag der Konferenzteilnehmer ein Manifest, das trotz verschiedener Meinungsverschiedenheiten von den Delegierten einstimmig angenommen wurde.
In Paris gab Trotzki 1915/16 eine revolutionär-marxistische, russischsprachige Zeitung heraus. Sie hatte nur eine Handvoll Mitarbeiter und noch weniger Geld, dennoch gelang es unter großen Anstrengungen, das Blatt als Tageszeitung herauszubringen. Anderthalb Jahre lang konnte Nasche Slowo unter dem wachsamen Auge des Zensors erscheinen, bevor sie von den französischen Behörden auf Druck der russischen Regierung verboten wurde.
Während einer Meuterei in der russischen Flotte bei Toulon wurden bei einigen Matrosen Ausgaben der Nasche Slowo gefunden. Daraufhin wurde Trotzki Ende Oktober 1916 nach Spanien ausgewiesen. Nach kurzen Aufenthalten in Spaniens Gefängnissen wurde er nach New York abgeschoben. Dort arbeitete er mit Bucharin und anderen russischen Revolutionären an der Herausgabe der Zeitung Nowy Mir. Hier erreichten ihn die ersten Berichte über einen Aufstand in Petrograd. [12] Die zweite russische Revolution hatte begonnen.
Lenin und Trotzki im Jahre 1917
Als Trotzki 1905 die These formulierte, eine proletarische Revolution könne in Russland früher als in Westeuropa siegen, nahm niemand ihn ernst. Doch im Oktober 1917 bestätigte sich seine Prognose. Lenin wurde vom Ausbruch der Februarrevolution in der Schweiz überrascht, Trotzki in New York. Beide kamen zu denselben Schlussfolgerungen. Trotzkis Artikel in Nowy Mir und Lenins Briefe aus der Ferne waren, was die entscheidenden Fragen der Revolution anging, praktisch identisch. Das galt für die Einschätzung der Bauernschaft und der liberalen Bourgeoisie ebenso wie für die Haltung gegenüber der provisorischen Regierung. Beide waren überzeugt, dass die Ereignisse in Russland den Beginn einer internationalen revolutionären Welle markierten, und beide waren überzeugt, dass ihre alten Auseinandersetzungen nunmehr irrelevant geworden waren. In seinem letzten Appell an die RKP mahnte Lenin 1923, man solle Trotzki nicht seine nicht-bolschewistische Vergangenheit (vor 1917) ankreiden. [13]
Mit Ausnahme Lenins hatte die bolschewistische Führung die Situation nach der Februarrevolution nicht erfasst und wurde von den Ereignissen überwältigt. Keiner stellte sich auf eine Machtübernahme des Proletariats ein. Die bolschewistischen Funktionäre hatten den Klassenstandpunkt über Bord geworfen und nahmen eine vulgär-demokratische Position ein. Stalin plädierte dafür, die provisorische Regierung „kritisch“ zu unterstützen und die Partei mit den Menschewiki zu vereinigen. Kamenjew, Rykow, Molotow und die anderen vertraten dieselbe Position.
Erst nach der Ankunft Lenins und einer parteiinternen Auseinandersetzung um Lenins Aprilthesen änderte die bolschewistische Partei ihre Einstellung. Lenins Thesen wurden nur unter seinem eigenen Namen veröffentlicht, da niemand bereit war, diese Position mit eigenem Namen zu unterstützen. Im Grunde genommen hatte keiner von ihnen denken gelernt wie Lenin, ihr Denken war verknöchert, sie konnten nur die Formeln von 1905 wiederholen.
Als Trotzki im Mai 1917 in Petrograd ankam, nahmen Lenin und Sinowjew an der Willkommenszeremonie der Meschrajonzy, zu denen Trotzki gehörte, teil. Von Anfang an verhielt er sich solidarisch zu den Bolschewiki. F. Raskolnikow [14] erinnerte sich:
“Leo Davidowitsch (Trotzki) war zu jener Zeit formell kein Mitglied unserer Partei, aber tatsächlich arbeitete er in ihr ununterbrochen von dem Tage seiner Ankunft [aus] Amerika an. Jedenfalls betrachteten wir alle ihn nach seiner ersten Rede im Sowjet als einen unserer Parteiführer.“ [15]
Über die Kontroversen der Vergangenheit bemerkte derselbe Autor:
“Die früheren Mißhelligkeiten aus der Vorkriegsperiode waren vollständig verschwunden. Keine Unterschiede gab es mehr zwischen der taktischen Haltung Lenins und der Trotzkis. Die Vereinigung, die sich schon während des Krieges bemerkbar gemacht hatte, war eine vollständige und endgültige geworden von dem Augenblick an, da Trotzki nach Russland zurückkehrte. Bei seiner ersten öffentlichen Rede fühlten wir alten Leninisten alle, daß er einer der Unsrigen war.” [16]
Die Meschrajonka
Nach seiner Ankunft in Russland trat Trotzki nicht sogleich in die bolschewistische Partei ein, weil er (in Übereinstimmung mit Lenin) hoffte, die Organisation der Meschrajonzy (der „Zwischenbezirks-Gruppe“) für die Bolschewiki zu gewinnen. Diese Gruppe bestand aus drei bis viertausend Petrograder Arbeitern und Arbeiterinnen und vielen bekannten linken Politikern wie Urizki, Joffe, Lunatscharski, Rjasanow, Wolodarski und anderen, die später wichtige Positionen in der Führung der bolschewistischen Partei einnehmen sollten.
Edward H. Carr bemerkt zum Verhältnis der Meschrajonzy zu den Bolschewiki während des Allrussischen Sowjetkongresses Anfang Juni 1917 (bei dem noch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Mehrheit hatten): „Trotzki und Lunatscharski gehörten zu den zehn Delegierten der >Vereinigten Sozialdemokraten<, die die Bolschewiki während der drei Wochen des Kongresses zuverlässig unterstützten.“ [17]
Um den Eintritt der Meschrajonzy in die bolschewistische Partei zu beschleunigen, der von einigen Führungsmitgliedern der Gruppe abgelehnt wurde, veröffentlichte Trotzki im Juli in der Prawda eine persönliche Stellungnahme, in der er betonte, dass es weder prinzipielle noch taktische Unterschiede zwischen der Meschrajonka und den Bolschewiki gebe, weshalb er die Existenz zweier separater Organisationen für nicht gerechtfertigt halte.
Im Mai 1917, also zu einer Zeit, als Trotzki noch nicht formell den Bolschewiki beigetreten war, machte Lenin bereits den Vorschlag, er solle zum Chefredakteur der Prawda gemacht werden. In diesem Zusammenhang entsann er sich der erstklassigen Qualität der Russkaja Gazeta (der Zeitung, die Trotzki übernommen hatte und 1905 in den Natschalo umwandelte). Obwohl dieser Vorschlag seitens des Redaktionsausschusses der Prawda nicht akzeptiert wurde, bringt er Lenins positive Einstellung zu Trotzki in jener Zeit sehr deutlich zum Ausdruck. Er war so erpicht darauf, Trotzki und seine Genossen bei den Bolschewiki zu haben, dass er bereit war, ihnen führende Positionen in der Partei anzubieten.
Als die Meschrajonzy schließlich mit den Bolschewiki fusionierten, wurde ihre Mitgliedschaft in der bolschewistischen Partei auf den Tag rückdatiert, als sie der Meschrajonka beigetreten waren. Das war ein öffentliches Bekenntnis dazu, dass zwischen den beiden Gruppen keine bedeutenden Differenzen bestanden hatten.
Die Oktoberrevolution 1917
In diesem Rahmen ist es nicht möglich, Trotzkis Rolle während der Oktoberrevolution voll gerecht zu werden. Seine Bedeutung für die Oktober-Ereignisse des Jahres 1917 ist heute allgemein anerkannt. Die russische Revolution veranschaulicht die enorme Bedeutung des subjektiven Faktors und der Rolle des Individuums in der Geschichte. Der Marxismus geht davon aus, dass das menschliche Handeln von den jeweiligen historischen Verhältnissen abhängt, ist aber keineswegs fatalistisch. Es gibt kritische Momente der Geschichte, in denen die objektiven Voraussetzungen einer Revolution bereits voll entwickelt sind; dann wird der subjektive Faktor, die Führung, zum entscheidenden Faktor der weiteren Entwicklung. An solchen Knotenpunkten ist die weitere Entwicklung von den Entscheidungen und Aktivitäten einer kleinen Gruppe von Individuen oder sogar von denen einer einzelnen Person abhängig. Engels erklärte, dass es historische Perioden gibt, in denen 20 Jahre wie ein leerer Tag erscheinen und sich die Situation nicht wirklich verändert, gleichgültig, wie viele Aktivitäten stattfinden. Gleichzeitig betont er, dass zu einer anderen Zeit wenige Tage und Wochen die Geschichte von 20 Jahren in sich konzentrieren können. In Abwesenheit einer revolutionären Partei und Führung, die die Möglichkeiten der Situation erkennt und weitertreibt, kann dieser Augenblick verpasst werden und es können 10 oder 20 Jahre vergehen, bis eine solche Gelegenheit wiederkehrt.
In dem kurzen Zeitraum von neun Monaten, zwischen Februar und Oktober 1917, war das Zusammenspiel von Klasse, Partei und Führung von entscheidender Bedeutung. Die bolschewistische Partei war die revolutionärste Partei, die in der Geschichte aufgetreten ist. Doch trotz ihrer enormen Erfahrung und der Stärke der Führung schwankten die Petrograder Funktionäre im entscheidenden Augenblick und schlitterten in eine Krise. In letzter Instanz hing das Schicksal der Revolution von zwei Männern ab: Lenin und Trotzki. Ohne die beiden hätte die Oktoberrevolution nie stattgefunden. Um die Schlüsselrolle, die Trotzki im Jahre 1917 gespielt hat, zu verstehen, genügt es, irgendeine Zeitung jener Periode oder zeitgenössische Memoiren oder Chroniken, seien sie den Bolschewiki freundlich oder feindlich gesonnen, zu lesen.
In der entscheidenden Periode vom September bis zum Oktober, als Lenin noch immer untergetaucht war, lag die Hauptlast der politischen und organisatorischen Vorbereitungen für den Aufstand auf Trotzkis Schultern. Die meisten von Lenins alter Gefolgschaft – wie Kamenjew, Sinowjew, Stalin – waren entweder gegen eine Machtübernahme oder waren unschlüssig. Im Fall von Sinowjew und Kamenjew ging die Opposition sogar so weit, dass sie die Pläne für den Aufstand in der (nicht zur Partei gehörenden) Presse veröffentlichten.
Lenins Korrespondenz mit dem Zentralkomitee zeigt, welche Anstrengung es ihm gekostet hat, den Widerstand der bolschewistischen Führung gegen die Übernahme der Macht durch den Sowjetkongress zu überwinden. Zu einem gewissen Zeitpunkt drohte Lenin sogar damit, zurückzutreten und über die Köpfe des Zentralkomitees hinweg an die Parteimitglieder zu appellieren. In dieser Auseinandersetzung unterstützten Trotzki und die ehemaligen Meschrajonzy entschlossen Lenins revolutionäre Linie.
Eines der berühmtesten Werke über die russische Revolution ist John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Lenin beschrieb dieses Buch in seiner Einleitung als “eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse“. Er sah darin ein Buch, das er “in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen“ wollte. [18] Unter der Herrschaft Stalins verschwand es allerdings aus den Publikationslisten der sowjetischen und der ausländischen Kommunistischen Parteien, und es ist klar warum. Ein Blick in das Personenregister zeigt, dass der Autor Lenin 63 mal, Trotzki 53 mal, Kamenjew acht mal, Sinowjew sieben mal, Bucharin und Stalin jedoch nur zweimal erwähnt.
Nach Lenins Tod begann die Führungsclique Stalin, Kamenjew und Sinowjew mit der systematischen Fälschung der Revolutionsgeschichte; Trotzkis Rolle in der Revolution sollte geschmälert, ihre eigene beschönigt werden. Zu diesem Zweck wurde die Legende des „Trotzkismus“ geschaffen, um einen Keil zwischen die Positionen Trotzkis und Lenins (samt der „Leninisten“) zu treiben. Bezahlte Schreiberlinge arbeiteten sich durch den Müll alter Polemiken, die von den damaligen Akteuren selbst längst vergessen und nur noch von historischem Interesse waren. Das Problem mit der Oktoberrevolution selbst konnte von den Fälschern nur dadurch gelöst werden, dass die Ereignisse umgeschrieben und der Name Trotzkis getilgt wurde.
Die Rote Armee
Trotzki besaß vor der Revolution keine profunden Kenntnisse der Kriegsführung. Immerhin hatte er als Kriegsberichterstatter der liberalen Zeitung Kievskaya Mysl in den Balkankriegen 1912-13 gewisse Erfahrungen mit militärischer Taktik gemacht. Als die revolutionäre Regierung im Frühjahr 1918 in Not geriet, wurde er mit der militärischen Verteidigung der Revolution beauftragt. Die alte zaristische Armee hatte sich aufgelöst und die junge Sowjetrepublik wurde von 21 imperialistischen Interventionsarmeen bedroht. Zeitweilig schrumpfte der Sowjetstaat auf Moskau, Petrograd und Umgebung zusammen.
In dieser schwierigen Zeit wurde Trotzki an die militärisch entscheidende Ostfront geschickt. Die Städte Simbirsk und Kasan waren in die Hände der Weißen gefallen, und damit war der Weg nach Moskau frei. Trotzkis gepanzerter Zug musste auf offener Strecke nahe Simbirsk halten. Die gegnerischen Kräfte waren numerisch und organisatorisch weit überlegen.
Einige weiße Einheiten setzten sich nur aus Offizieren zusammen und wurden den schlecht ausgebildeten und undisziplinierten roten Kräften gefährlich. In den Reihen der Roten herrschte Panik. Trotzki erinnerte sich später in seiner Autobiografie:
„Frische rote Abteilungen, die in guter Stimmung eintrafen, wurden sofort von der Trägheit des Rückzuges erfasst. Unter der Bauernschaft schlich das Gerücht herum, die Sowjets wären ihrem Ende nahe. Die Popen und Kaufleute erhoben die Köpfe. Die revolutionären Elemente der Dörfer verkrochen sich. Alles zerbröckelte, es gab keinen festen Punkt mehr. Die Lage schien rettungslos.“ [19]
Trotzki gelang es in kurzer Frist, die Front zu stabilisieren und Kasan zurückzuerobern. Nach der Befreiung von Kazan, Simbirsk, Khvalynsk und anderen Städten der Wolga-Region wurde ihm die Aufgabe übertragen, den Krieg an den vielen Fronten des riesigen Landes zu koordinieren und zu führen. Energisch reorganisierte er die bewaffneten Einheiten der Revolution, die auf die Weltrevolution eingeschworen wurden.
Eine große Anzahl von Offizieren der alten zaristischen Armee konnte für die Zusammenarbeit mit der revolutionären Regierung gewonnen werden. Sie stellten die militärischen Kader der mehr als 15 Roten Armeen. Einige von ihnen übten Verrat, andere dienten widerwillig oder gleichgültig. Doch überraschend viele konnten für die Sache der Revolution gewonnen werden und dienten loyal. Einige – wie Tuchatschewski, ein Genie der Militärtaktik – wurden zu überzeugten Kommunisten. (Beinahe alle dieser „Überläufer“ fielen 1937 dem stalinschen Terror zum Opfer.). Als Lenin Trotzki während des Bürgerkriegs fragte, ob es nicht besser wäre, die alten zaristischen Offiziere, die von Politkommissaren kontrolliert wurden, durch Kommunisten zu ersetzen, antwortete Trotzki:
“Sie fragten, ob wir nicht alle ehemaligen Offiziere davonjagen sollten. Wissen Sie auch, wie viele davon wir jetzt in der Armee haben?“ „Ich weiß es nicht.“ „Nun, was glauben Sie, schätzungsweise?“ „Ich weiß nicht.“ „Nicht weniger als dreißigtausend. Auf einen Verräter kommen hundert zuverlässige, auf einen Überläufer zwei bis drei im Kampf gefallene. Durch wen sollen wir sie alle ersetzen?“
Einige Tage später sprach Lenin über die Aufgaben des sozialistischen Aufbaus. Dabei sagte er unter anderem Folgendes: „Als mir Genosse Trotzki kürzlich mitteilte, daß die Zahl der Offiziere in unserem Kriegsamte einige Zehntausend betrage, bekam ich eine konkrete Vorstellung davon, worin das Geheimnis der Ausnutzung unseres Feindes besteht … wie man den Kommunismus aus den Ziegelsteinen bauen muß, die von den Kapitalisten gegen uns bestimmt waren!“ [20]
Trotzkis Leistung wurde auch von erklärten Gegnern der Revolution anerkannt, darunter deutsche Offiziere und Diplomaten. Max Bauer [21]: „Trotzki ist ein geborener Militärorganisator und Führer. Wie er aus dem Nichts und inmitten heftigster Schlachten eine Armee aus der Taufe hob und diese Armee dann organisierte und trainierte ist absolut napoleonisch.“ Der deutsche General Hoffmann [22] kommt zum selben Schluss: „Sogar aus einem rein militärischen Standpunkt heraus ist es erstaunlich, dass die gerade erst ausgehobenen Roten Truppen die damals noch starken Kräfte der weißen Generäle zerschlagen und sie dann völlig vernichten konnten.“ [23]
Lassen wir das letzte Wort zu diesem Kapitel Anatoli W. Lunatscharski, einem bolschewistischen Veteran, der der erste Volkskommissar für Bildung und Kultur war:
„Es wäre falsch, sich vorzustellen, dass der zweite große Führer der russischen Revolution [Lenin] gegenüber in allem unterlegen sei. Es gibt zum Beispiel Seiten, in denen ihn Trotzki unbestritten übertrifft – er ist brillanter, klarer, aktiver. Lenin eignet sich wie kein anderer für den Vorsitz des Rates der Volkskommissare sowie dazu, die Weltrevolution mit genialer Hand zu leiten, aber er hätte nie die gigantische Mission bewältigen können, die Trotzki auf seine Schultern nahm, diese Blitzbesuche von Ort zu Ort, diese erstaunlichen Reden und Kaskaden spontaner Befehle, diese Rolle eines unaufhörlichen Anfeurers einer entkräfteten Armee, heute hier, morgen woanders. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der Trotzki in dieser Hinsicht ersetzt haben könnte.
Wann immer sich eine wahrhaft große Revolution ereignet, wird ein großes Volk immer den richtigen Anwalt finden, und eines der Zeichen der Größe unserer Revolution ist die Tatsache, dass die Kommunistische Partei genügend überragende Persönlichkeiten hervorgebracht hat, die wie niemand sonst geeignet sind, jede erforderliche politische Aufgabe zu erfüllen, sei es aus ihren eigenen Reihen, sei es, indem sie von anderen Parteien entlehnte und in den eigenen Organismus aufnahm.
Und ‚die beiden Klügsten der Klugen, die in ihren Rollen vollkommen gleichzusetzen sind‘, bleiben Lenin und Trotzki.“[24]
Die Degeneration der Russischen Revolution
Die Oktoberrevolution ist das wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte. Wenn wir von der kurzen Erfahrung der Pariser Kommune absehen, haben hier die Massen zum ersten Mal –versucht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Gesellschaft zu verändern. Doch um – wie Engels es ausdrückt – „den Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ zu schaffen, genügt es nicht, dass die Arbeiterklasse die Macht übernimmt und die Produktionsmittel vergesellschaftet. Sozialismus braucht eine ausreichende materielle Basis: eine signifikante Steigerung der Produktivkräfte und des kulturellen Niveaus der Massen, eine radikale Arbeitszeitverkürzung und andere Verbesserungen. Die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus erklärten schon 1845-46 in der „Deutschen Ideologie“, dass ohne diese Voraussetzungen „nur der Mangel verallgemeinert“ werden könne, „also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich [wieder] herstellen müsste […].“ [25]
Lenin und Trotzki waren sich darüber im Klaren, dass die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus zwar nicht in Russland, wohl aber international vorhanden waren. Lenin wiederholte bei unzähligen Anlässen, dass die russische Revolution entweder auf andere Länder übergreifen oder untergehen werde. Tatsächlich kam es in der Folge zu Revolutionen und revolutionären Situationen in zahlreichen Ländern (Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien, Frankreich …). Doch wurden sie – ohne revolutionäre Führung – niedergeschlagen oder von sozialdemokratischen Führungen verraten. So blieb die russische Revolution isoliert. Allein im Jahr 1923 starben sechs Millionen Menschen an Hunger. Am Ende des Bürgerkrieges war die Arbeiterklasse völlig ausgeblutet. Zwischen den Hoffnungen der Menschen und den konkreten Resultaten der gesellschaftlichen Umwälzung lagen Welten. Ein großer Teil der aktivsten Arbeiter und Arbeiterinnen fiel dem Bürgerkrieg zum Opfer, andere wurden von der Staats- und Wirtschaftsverwaltung aufgesogen und entfremdeten sich nach und nach ihrer Klasse. Apathie und Desorientierung ermöglichten eine neuerliche Verselbständigung des Staatsapparats. Jeder Rückschlag für die Arbeiterklasse stärkte das Selbstvertrauen der Bürokraten und Karrieristen. So formierte sich eine selbstzufriedene bürokratische Schicht, die die „utopische“ Idee der Weltrevolution ablehnte und das – 1924 erstmals vorgetragene –Stalinsche Programm des „Sozialismus in einem Lande“ begeistert aufnahm.
Bürgerliche Historiker und Historikerinnen haben versucht den Kampf zwischen Stalin und Trotzki als eine „theoretische Debatte“ darzustellen, die aus obskuren Gründen von dem einen gewonnen und vom zweiten verloren wurde. Den entscheidenden Faktor der Geschichte bilden jedoch nicht die besseren Ideen, sondern die materiellen Kräfte und Klasseninteressen. Stalins Sache war nicht die Theorie, doch seine Konzepte entsprachen den Interessen der neu entstandenen, privilegierten bürokratischen Kaste. Trotzki und die Linke Opposition verteidigten hingegen die Errungenschaften des Roten Oktobers und die Interessen der Arbeiterklasse gegenüber der neuen Bürokratie, den Nutznießern der „Neuen Ökonomischen Politik“ und den Großbauern.
Stalin war ein Mann der Improvisationen. Zu Beginn seines Aufstiegs ahnte er nicht, wohin sein Weg ihn führen würde. Lenin war sich der Risiken der sowjetischen Entwicklung klar bewusst und warnte frühzeitig vor der Gefahr des Bürokratismus. Auf dem 11. Parteikongress formulierte er eine scharfe Kritik des nachrevolutionären Staates:
„Man nehme doch Moskau – die 4700 verantwortlichen Kommunisten – und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet.“ [26]
Während seiner letzten Krankheit, die es ihm unmöglich machte, aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen, erkannte Lenin die Gefahr, die vom Parteisekretariat ausging. Stalin hatte in Georgien eine Art Putsch gegen die regionale Parteiführung organisiert. Entrüstet schlug Lenin daraufhin die Absetzung Stalins als Generalsekretär vor. Da er aber eine Parteispaltung fürchtete, versuchte er, die Debatte auf den engsten Führungskreis zu beschränken. In geheimen Briefen an die georgischen Bolschewiki (von denen er Kopien an Trotzki und Kamenjew schickte) versicherte er sie „von ganzem Herzen“ seiner Unterstützung. Da er selbst ans Bett gefesselt war, bat er Trotzki, die Verteidigung der Georgier im Zentralkomitee zu übernehmen. Zudem schlug er Trotzki vor, gemeinsam einen „Block“ gegen Stalin zu bilden. Lenin starb, bevor er diese Pläne verwirklichen konnte. Sein „Brief an den Parteitag“, in dem er Trotzki als fähigstes Mitglied des ZKs bezeichnete und gleichzeitig die Absetzung Stalins von der Position des Generalsekretärs forderte, wurde von der führenden Clique unter Verschluss gehalten und in der Sowjetunion erst nach 1961 in einem der Ergänzungsbände zur 5. Auflage der Lenin-Werke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
“Sozialismus in einem Lande”
Nach Lenins Tod im Januar 1924 wurde sein politisches Vermächtnis von der führenden Gruppe in der Partei (der sogenannten Troika, der Kamenjew, Sinowjew und Stalin angehörten) ignoriert. Stattdessen begann eine Kampagne gegen den sogenannten „Trotzkismus“, bei der es in Wirklichkeit um eine Abkehr von Lenin und von der Oktoberrevolution ging. Die Troika wurde zum politischen Instrument der neuen bürokratischen Schicht, die die Verwaltung von Staat und Wirtschaft übernommen und mit der Arbeiterdemokratie nichts im Sinn hatte.
Sozialismus ist, Trotzki zufolge, die „Organisierung einer planmäßigen und harmonischen gesellschaftlichen Produktion für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Kollektiveigentum an Produktionsmitteln ist noch nicht Sozialismus, sondern lediglich seine rechtliche Voraussetzung. Das Problem der sozialistischen Gesellschaft läßt sich vom Problem der Produktivkräfte nicht trennen, das im heutigen Stadium der menschlichen Entwicklung seinem Wesen nach ein Weltproblem ist.” [27]
Die Theorie des “Sozialismus in einem Lande” wurde von Stalin erstmals im Herbst 1924 entwickelt und stand im völligen Gegensatz zu allem, was die Bolschewiki und die Kommunistische Internationale vertreten hatten. Wie sollte es möglich sein, einen national begrenzten Sozialismus – noch dazu in einem rückständigen Land wie Russland – aufzubauen? Eine solch absurde Idee war keinem anderen Führer, nicht einmal Stalin selbst, vor 1924 in den Sinn gekommen. Noch im April 1924 hieß es in Stalins Vortragsammlung Die Grundlagen des Leninismus, dass in einem rückständigen Land wie Russland der Sieg des Sozialismus in einem Land nicht dauernd gesichert werden kann. In der zweiten Ausgabe, die am Ende desselben Jahres herausgebracht wurde, wurde diese Aussage in ihr Gegenteil verkehrt.
Dieser Kurswechsel führte zu einer Krise im herrschenden Triumvirat. Kamenjew und Sinowjew brachen mit Stalin und bildeten gemeinsam mit Trotzki eine „Vereinigte Linke Opposition“. Der Verfallsprozess wäre auch eingetreten, wenn Lenin noch am Leben gewesen wäre. Während eines Oppositionstreffens im Jahr 1926 sagte Lenins Witwe Krupskaja: „Wenn Wladimir noch hier wäre, säße er im Gefängnis.“ Die Hauptursache für die Niederlage Trotzkis und der Opposition lag in der Apathie der Massen, die zwar mit der Opposition sympathisierten, aber von den langen Revolutions- und Kriegsjahren erschöpft und ausgezehrt waren.
Die Isolation der Revolution war die entscheidende Bedingung für den Aufstieg Stalins und der Bürokratie. Der innen- und außenpolitische Kurs der nachleninschen Parteiführung führte zu neuen Niederlagen der internationalen Revolution: in Bulgarien und Deutschland (1923), in England (1926), in China (1927) und schließlich zur größten Katastrophe, der kampflosen Niederlage in Deutschland im Jahr 1933. Jede Niederlage der Weltrevolution vertiefte die Entmutigung der Arbeiterklasse und stärkte das Selbstvertrauen der Bürokraten und Karrieristen. Nach der Niederlage in China im Jahr 1927 – für die Stalin und sein neuer Verbündeter Bucharin [28] direkt verantwortlich waren – begann der Parteiausschluss der Oppositionellen.
Die stalinistische Konterrevolution
Die innerparteilichen Repressionsmaßnahmen der Stalinisten standen in völligem Widerspruch zu den demokratischen Traditionen der Bolschewistischen Partei. Freunde und Unterstützer Trotzkis wurden in besonderem Maße terrorisiert. Schon 1924 setzte eine Kampagne der Verfolgung, der Ächtung und Amtsenthebungen ein. Michail Glasman, ein Sekretär Trotzkis, der ihm seit der Zeit des Bürgerkrieges aufopferungsvoll zur Seite stand, wurde 1924 in den Selbstmord getrieben, A. Joffe, dem berühmten sowjetischen Diplomaten, wurde Zugang zu medizinischer Versorgung verweigert; 1927 wählte er den Freitod. Zur „Vorbereitung“ auf den 15. Parteitag 1927, parallel zu der blutigen Niederlage der chinesischen Arbeiterklasse, wurden oppositionelle Sprecher auf Parteiveranstaltungen von Hooligan-Banden terrorisiert. Oppositionelle Versammlungen konnten nur noch halb-illegal abgehalten werden, dennoch kamen 1927 allein in Leningrad [29] und Moskau etwa 20.000 Menschen zu solchen Versammlungen. Die kommunistische französische Zeitung Contre le Courant berichtete in den zwanziger Jahren über die Zustände in der Sowjetunion:
„Schon kennt der Kampf der in der Macht befindlichen Gruppe gegen ihre Gegner keinerlei Rücksicht mehr. Der Knüppel, die geheime Diplomatie, der Terror herrschen jetzt in der Partei, und sie erfährt nicht einmal mehr die Wahrheit über die Dinge, die mitten in ihrem Schoße vorgehen. Als einzige geistige Nahrung erhält die Partei ‚offizielle‘ Literatur, ‚offizielle‘ Leitsätze, ‚offizielle‘ Gesichtspunkte. Wer diese unbesehen annimmt, ist ein ‚Bolschewist‘, wer auch nur darüber diskutiert, ist ein Menschewist, ein Konterrevolutionär, ein Weißgardist. Und weil man nur zu gut weiß, welche unüberwindliche Macht die Opposition besäße, wenn die Parteimitglieder ihre Meinung sagen dürften, hat man ein Schreckensregiment eingeführt. Arbeiter, die zur Opposition gehören, werden aus ihren Stellungen entfernt, dem Verhungern überlassen, der G.P.U., der politischen Polizei, ausgeliefert. Man verhört sie und wirft sie ins Gefängnis. Zu Hunderten werden die besten Bolschewisten aus der Partei ausgeschlossen. Aufopferungsvolle Kämpfer für die Partei werden verfemt und in die Verbannung geschickt. Die Führer der Opposition sind aus den amtlichen Stellungen entfernt und aus der Partei hinausgejagt worden. Schon ist ihr Leben in Gefahr …“ [30]
Stalin tastete sich rein empirisch voran, und das führte zu seinen jähen Zickzackwendungen. Mit seinem Verbündeten Bucharin steuerte er einen Rechtskurs und versuchte, sich auf die „starke Bauernschaft“ (die Großbauern) zu stützen. Die Linke Opposition warnte vor den politischen Gefahren dieses Kurses und argumentierte für eine planmäßige Industrialisierung des Landes, für Fünfjahrespläne und eine sanfte Kollektivierung der Landwirtschaft mit Hilfe von Genossenschaften. In einer Plenardiskussion des Zentralkomitees im April 1927 überschüttete Stalin den oppositionellen Elektrifizierungsplan mit Hohn und Spott. Er sagte, die Opposition wolle „dem Bauern ein Grammophon statt einer Kuh geben“.
Die Warnungen der Opposition stellten sich schon bald als richtig heraus. 1928 lieferten die Bauern zu wenig Getreide für die Versorgung der Städte. In einer Panikreaktion brach Stalin mit Bucharin und begann ein ultralinkes Abenteuer. Nachdem er jahrelang eine planmäßige Industrialisierung abgelehnt hatte, vollzog er nun eine Wendung um 180 Grad. Der Fünfjahresplan sollte nun schon binnen vier Jahren umgesetzt werden, und die Zwangskollektivierung der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ dienen. Viele Anhänger der Opposition glaubten nun, Stalin habe Teile ihres Programms übernommen. Doch seine neue Politik war nur eine Karikatur der politischen Entwürfe der Opposition, weil sie jede Rückkehr zur Arbeiterdemokratie ausschloss.
Angefangen mit Sinowjew und Kamenjew kapitulierte nun ein Oppositioneller nach dem anderen vor Stalin in der Hoffnung, wieder in die Partei aufgenommen zu werden. Doch der Widerruf ihrer früheren Überzeugungen diskreditierte sie politisch. Es folgten immer neue Anklagen und neue Widerrufe. Den Höhepunkt der Kampagnen gegen die Oppositionsströmungen bildeten dann die Moskauer Schauprozesse der Jahre 1936-1938. Hier bekannten sich Kamenjew, Sinowjew und andere alte Bolschewiki der abscheulichsten Verbrechen gegen die Revolution schuldig. Diese erpressten Schuldbekenntnisse bewahrten sie nicht vor der Erschießung in den Kellern der GPU. Trotzki, der 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war, analysierte Stalins Kampf gegen die Oppositionen und rief seine Anhänger in Russland zu einer zweiten (politischen) Revolution gegen die Stalinbürokratie auf.
“Die Kerngruppe der Opposition […] wußte genau, daß wir nicht durch Paktieren und Ausweichen unsere Ideen auf die junge Generation übertragen konnten, sondern nur im offenen Kampfe, der vor keinen praktischen Folgen zurückschreckt. Wir gingen einer sicheren Niederlage entgegen, bereiteten jedoch unseren geistigen Sieg für eine fernere Zukunft vor.” [31]
Anfang 1929 wurden Trotzki und seine Familie, die das Jahr 1928 in ihrem Deportationsort Alma Ata verbracht hatten, in die Türkei abgeschoben. Stalin hatte seine Position zu diesem Zeitpunkt noch zu wenig gefestigt, als dass er ihn hätte ermorden lassen können. In den Jahren 1927-1933 versuchte Trotzki, eine „Internationale Linke Opposition“ zu organisieren. Die ILO verschrieb sich dem Ziel, die UdSSR und die Kommunistische Internationale zu reformieren. Stalins ultralinkem Schwenk in der Sowjetunion entsprachen auf der internationalen Bühne die Komintern-Politik der sogenannten „Dritten Periode“ und die „Sozialfaschismustheorie“. Auf Anweisung aus Moskau deklarierte die Kommunistische Internationale alle nicht-kommunistischen Parteien zu mehr oder weniger „faschistischen“. Das zielte vor allem auf die Sozialdemokratie, die nun als „sozialfaschistisch“ bezeichnet wurde. Dieser Wahnsinn hatte insbesondere in Deutschland katastrophale Folgen, da er den Weg für den kampflosen Sieg Hitlers ebnete.
Die deutsche Katastrophe
Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise traf Deutschland besonders hart. Das Heer der Arbeitslosen wuchs auf fünf eineinhalb Millionen an, große Teile des Mittelstandes wurden ruiniert. Von der Sozialdemokratie 1918, von der KPD 1923 enttäuscht, setzte diese Schicht nun auf den Nationalsozialismus. Bei den Wahlen im September 1930 erzielten die Nationalsozialisten 6,5 Millionen Stimmen. Aus seinem türkischen Exil warnte Trotzki vor der Gefahr eines Sieges des Faschismus in Deutschland. Er appellierte an die KPD, eine Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gegen den Faschismus zu bilden. Diese Politik vertrat er mit Nachdruck in einer Serie von Dokumenten, Briefen und Artikeln, etwa in Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (17. 9. 1930). Seine Appelle stießen aber auf taube Ohren. Die deutsche Arbeiterbewegung war bis zu jenem Zeitpunkt die stärkste der westlichen Welt, wurde nun aber von der eigenen Führung paralysiert. Die Leitung der stalinisierten KPD verkannte völlig die faschistische Gefahr und sah ihren Hauptfeind in der Sozialdemokratie. Die KPD rief ihre Anhänger Anfang August 1931 sogar zur Unterstützung eines von Hitler angestrengten (und schließlich gescheiterten) Volksentscheids zum Sturz der sozialdemokratischen Regierung in Preußen auf. 1932 schrieb die britische KP-Zeitung „Daily Worker“: “Es ist bezeichnend, dass Trotzki für eine antifaschistische Einheitsfront zwischen den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien aufruft. Keine konterproduktivere und konterrevolutionärere Klassenführung könnte es zu einer Zeit wie der unseren geben.“
Im Jahr 1932 hatte die KPD etwa 360.000 Mitglieder und sechs Millionen Wähler; die Sozialdemokratie verfügte über etwa acht Millionen Wähler. Die militärischen Formationen beider Parteien umfassten zusammengerechnet ungefähr eine Million Kämpfer, waren also größer als die Petrograder und Moskauer Roten Garden des Jahre 1917. Hitler konnte aber später stolz verkünden, er sei an die Macht gekommen, ohne eine einzige Fensterscheibe zu zerstören. Die Verweigerung der Einheitsfront ist mit der verräterischen Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten im August 1914 vergleichbar. Über Nacht wurden die mächtigen Organisationen der deutschen Arbeiterklasse zu Staub. Die Lohnabhängigen der gesamten Welt – insbesondere der Sowjetunion – bezahlten dafür einen fürchterlichen Preis. Trotzki hoffte, dass eine Katastrophe dieses Ausmaßes die Kommunistische Internationale bis ins Mark erschüttern, die kommunistischen Parteiern politisch erneuern und die Linke Opposition rehabilitieren würde. Doch der Stalinisierungsprozess war bereits so weit fortgeschritten, dass es weder Debatten noch Selbstkritik gab. Die Linie der KPD (und damit die Stalins, ihres großen Führers und Lehrmeisters) wurde als die einzig richtige verteidigt. Die Führer der KPD gaben die Parole aus „Nach Hitler, wir!“ Auch in anderen Ländern (wie Frankreich) wurde der ultralinke Kurs der Komintern noch eine Weile fortgesetzt.
Eine Partei, der es unmöglich ist, aus den eigenen Fehlern zu lernen, ist dem Untergang geweiht. Die schreckliche Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung und das Ausbleiben jeder Kritik überzeugten Trotzki davon, dass sich die Kommunistische Internationale nicht mehr reformieren ließ. Er rief daher zur Gründung einer neuen, der IV. Internationale auf.
Die verratene Revolution
Oberflächlich betrachtet, waren sich die diktatorischen Regime Stalins und diejenigen Hitlers, Francos oder Mussolinis sehr ähnlich. Die Basis dieser Herrschaftssysteme unterschied sich jedoch grundlegend: Die in der Sowjetunion herrschende Kaste stützte sich auf die durch die Oktoberrevolution verstaatlichte Wirtschaft, während die faschistischen Regime das kapitalistische Ausbeutungssystem auf die Spitze trieben. Um sich ihre Existenz zu sichern, musste die sowjetische Bürokratie die Errungenschaften des Staatseigentums an den Produktionsmitteln und der Planwirtschaft verteidigen. Die privilegierte Bürokraten-Kaste, die alle politischen Leistungen des Roten Oktobers, inklusive der Bolschewistischen Partei, vernichtet hatte, musste außerdem die Fiktion einer „kommunistischen Partei“ und von „Räten“ etc. aufrechterhalten. Sie war gezwungen, die Produktivkräfte mittels einer Planwirtschaft zu entwickeln. Die Bürokratie spielte eine relativ progressive Rolle, in dem sie – wenn auch zu einem zu hohen Preis – die Entwicklung der Industrie vorantrieb (und damit die künftige Basis für einen wirklichen Sozialismus schuf).
Marxisten verteidigen die Demokratie, weil es ohne sie keinen Sozialismus gibt. Trotzki schrieb: „Eine geplante Wirtschaft braucht die Demokratie wie der menschliche Körper Sauerstoff.“ Die erstickende Kontrolle einer allmächtigen Bürokratie behindert eine planmäßige Wirtschaftsentwicklung; sie führt zu allen Arten von Korruption, Misswirtschaft und Betrug. Darum kann die Bürokratie (im Unterschied zur Bourgeoisie) keine unabhängige Kritik in Politik, in den Künsten oder in der Philosophie zulassen. Trotzki, der die Arbeiterdemokratie und die Unabhängigkeit der Kunst verteidigte, stellte, solange er lebte, eine unerträgliche Herausforderung für die Stalinbürokratie dar
1936 analysierte Trotzki das historisch neue Phänomen der stalinistischen Bürokratie in seinem klassischen Werk Die Verratene Revolution. Hier begründet er die Notwendigkeit einer neuen, politischen Revolution. So wie alle herrschenden Klassen und Kasten in der Geschichte würde die russische Bürokratie nicht von selbst wieder „verschwinden“. Trotzki warnte davor, dass die stalinistische Bürokratie wie ein Krebsgeschwür im Körper des Arbeiterstaats alle Errungenschaften des Oktobers zerstören würde. Er sagte: “Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur, wenn keine neue sozialistische Macht sie ersetzt, wäre […] gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur.” [32]
Diese Prognose hat sich bewahrheitet. Fünfzig Jahre später machten die Kinder und Enkel der stalinistischen Funktionäre das Staatseigentum zu ihrem Privateigentum und stießen das Land der Oktoberrevolution neuerlich in eine Zeit des Niedergangs und der Barbarei.
Die Moskauer Schauprozesse
Trotzki nannte die Moskauer Schauprozesse einen “unilateralen Bürgerkrieg gegen die Bolschewistische Partei”. Zwischen 1936 und 1938 wurden alle Mitglieder des Leninschen Zentralkomitees zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution, sofern sie in der Sowjetunion lebten, ermordet. In einer Serie von Schauprozessen wurden Lenins alte Genossen grotesker Verbrechen gegen die Revolution angeklagt und erschossen. So wie in der französischen Revolution die Jakobiner während der thermidorischen Reaktion im Juli 1794 als englische Spione verurteilt wurden, beschuldigte man nun die alten Bolschewiki als „Agenten Hitlers“. Stalins Ziel war es, jede potentielle Opposition zu vernichten. Auch Tausende von Stalinanhängern wurden umgebracht, weil sie lebende Zeugen der Oktoberrevolution waren. Es war lebensgefährlich, ein Freund, ein Nachbar oder ein Verwandter eines Verhafteten zu sein.
Der Hauptangeklagte der Prozesse war der abwesende Leo Trotzki. Nach Aufenthalten in Frankreich und Norwegen gewährte ihm schließlich 1937 der fortschrittliche mexikanische Präsident Cardenas Asyl. Trotzki organisierte von dort aus den Protest gegen die Schauprozesse, und Stalin antwortete, indem er GPU-Killerbanden gegen unabhängige Linke in Spanien, Frankreich und anderen Ländern ausschickte.
Als Synonym für das stalinistische Repressionssystem steht der Gulag, das System der Strafarbeitslager, die gemeinsam mit Gefängnissen und Verbannungsorten das institutionelle Rückgrad des staatlichen Terrors bildeten. Auch in den Lagern kämpften die oppositionellen Trotzkisten mit Demonstrationen und Hungerstreiks für ihre Würde und für ihr Leben. Hier ein Bericht aus dem Lager Petschora über einen 136 Tage lang dauernden Streik der Häftlinge.
„Die Streikenden protestierten gegen ihre Überführung von anderen Orten und ihre Bestrafung ohne offene Gerichtsverhandlung. Sie forderten einen achtstündigen Arbeitstag, die gleiche Ernährung für alle Insassen (gleichgültig, ob sie die Produktionsnormen erfüllten oder nicht), Trennung von politischen und kriminellen Gefangenen und die Überführung von Kranken, Frauen und alten Menschen aus den subpolaren Gegenden in Gebiete mit einem milderen Klima. Der Streikbeschluß wurde auf einer offenen Versammlung gefaßt. Kranke und alte Gefangene wurden befreit; ‚aber letztere lehnten die Befreiung kategorisch ab‘. In fast jeder Baracke gab es Nichttrotzkisten, die dem Rufe folgten, aber nur ‚in den Baracken der Trotzkisten war der Streik hundertprozentig‘.
Die Verwaltung, die fürchtete, daß sich die Aktion ausbreiten könnte, verlegte die Trotzkisten in einige halbzerfallene und verlassene Hütten, die fünfundzwanzig Meilen vom Lager entfernt waren. Von einer Gesamtzahl von 1000 Streikenden starben mehrere, und nur zwei brachen zusammen; aber diese zwei waren keine Trotzkisten. Im März 1937 gab die Lagerverwaltung auf Anordnung von Moskau in allen Punkten nach; und der Streik wurde eingestellt.“[33]
Nach diesem zeitweiligen Zurückweichen steigerte sich Jeschows Terror zum Blutrausch. Die mageren Essensrationen wurden auf 400 Gramm Brot pro Tag gekürzt, die GPU bewaffnete kriminelle Häftlinge mit Schlagstöcken und stachelte sie auf, Oppositionelle zu jagen. Stalin hatte sich zu einer „Endlösung“ entschieden. Ende März 1938 begann man, Trotzkisten gruppenweise zu je 25 in die eisige Taiga zu schicken und zu erschießen. Diese Erschießungen wurden über Monate hinweg fortgeführt. Die Schlächter der Geheimpolizei GPU taten ihre Arbeit, sie mordeten Männer, Frauen und Kinder, die über 12 Jahre alt waren. Ein Augenzeuge berichtete, dass die Frau eines Oppositionellen auf Krücken zu ihrer Erschießung humpelte.
„’Die Hinrichtungen in der Tundra hielten’“, wie der Augenzeuge berichtet, „’den ganzen April und einen Teil des Mai an. Jeden Tag, oder jeden zweiten Tag, rief man dreißig oder vierzig Leute heraus …‘ Über die Lautsprecher wurden Kommuniqués ausgegeben: ‚Wegen konterrevolutionärer Agitation, Sabotage, Banditismus, Arbeitsverweigerung und Fluchtversuchs sind die Folgenden hingerichtet worden …‘ ‚Einmal wurde eine große Gruppe, etwa hundert Menschen, meistens Trotzkisten, hinausgeführt … Als sie sich in Marsch setzten, sangen sie die Internationale; und Hunderte von Stimmen in den Baracken schlossen sich dem Gesang an.’“ [34]
Die stalinistische Konterrevolution richtete sich zuerst nur gegen die Opposition und dann gegen die stalinisierte Partei selbst. Sie vernichtete aber auch Millionen von gewöhnlichen Sowjetbürgern, weshalb der Trotzki-Biograph Deutscher von einem „politischen Genozid“ sprach.
Einer gegen die Welt
Für den Führer der Oktoberrevolution gab es keine Zuflucht und keinen sicheren Ort auf der Welt. Die „demokratischen Staaten“ zeigten keine Toleranz. England, das Jahre zuvor Marx, Lenin und auch Trotzki selbst Asyl gewährt hatte, verweigerte Trotzki nun unter einer Labourregierung die Einreise. Frankreich und Norwegen stellten Bedingungen, die Trotzkis jeweilige „Zufluchtorte“ in Gefängnisse verwandelten. Auch in Mexiko war Trotzki nicht sicher. Stalin, der durch seine Agenten Kopien von Trotzkis Schriften und Korrespondenzen auf seinen Schreibtisch bekam, sah in ihm eine tödliche Gefahr. Schon in den zwanziger Jahren hatten Sinowjew und Kamenjew Trotzki gewarnt: „Sie glauben, dass Stalin auf Ihre Ideen antworten werde. Doch er wird Ihnen nur auf den Kopf schlagen.“
Stalins Rache traf auch Trotzkis Familienangehörige. Seine Tochter Sinaida beging – isoliert in Berlin – im Januar 1933, nach dem Entzug ihrer sowjetischen Staatsbürgerschaft, Selbstmord. Keine ihrer Brüder und Schwestern überlebte Stalins Terror. Trotzkis Freunde und Mitarbeiter in und außerhalb der Sowjetunion wurden von Killern gejagt. Alexandra Sokolovskaja, Trotzkis erste Frau – die Mutter von Sinaida, die ebenfalls in Stalins Lagern verschwand, richtete in einem Brief im Januar 1931 verzweifelte Worte an ihren früheren Mann und Kampfgefährten:
„Unsere Kinder waren dem Untergang geweiht‘ […] ‚Ich glaube nicht mehr an das Leben. Ich glaube nicht, daß ich sie großziehen kann. Die ganze Zeit über erwarte ich irgendein neues Unheil.‘ Und sie schloß: ‚Es fiel mir schwer, diesen Brief zu schreiben und abzuschicken. Verzeihe meine Grausamkeit Dir gegenüber, aber auch du solltest alles über unsere Familie wissen.’“ [35]
Ein schmerzhafter Schlag für Trotzki war die 1935 erfolgte Verhaftung seines jüngeren Sohnes Sergej, der in Russland zurückblieb und sich in Sicherheit wähnte, da er sich nicht politisch betätigte, sondern sich ausschließlich der Physik widmete. Da Sergej sich weigerte, seinen Vater durch Falschaussagen zu belasten, wurde er im Oktober 1937 erschossen.
Leon Sedow, Trotzkis ältester Sohn und enger Mitarbeiter in der Internationalen Linken Opposition, wurde in einer Pariser Klinik im Februar 1938 ermordet. Rudolf Klement und Erwin Wolff, Trotzkis Sekretäre in Europa, wurden ebenfalls getötet. Ignaz Reiss, ein GPU-Offizier, der öffentlich mit Stalin brach und sich für Trotzki aussprach, wurde von einem Mordkommando der GPU in seinem Schweizer Exil ermordet.
Als der letzte unbeugsame Oppositionelle innerhalb der UdSSR, der hervorragende Marxist und Veteran der marxistischen Bewegung auf dem Balkan, Christian Rakowsky, im Februar 1934 kapitulierte, schrieb Trotzki in sein Tagebuch:
“Rakowsky war im Grunde genommen meine letzte Verbindung zur Generation der alten Revolutionäre. Nach seiner Kapitulation ist niemand mehr geblieben. Wenn auch der Schriftwechsel mit Rakowsky seit der Zeit meiner Exilierung aus Zensurgründen aufhörte, so wirkte nichtsdestotrotz die Gestalt Rakowskys als ein Symbol der Verbindung mit den alten Revolutionären. Jetzt ist niemand mehr geblieben. Das Bedürfnis des Gedankenaustausches und der gemeinsamen Erörterung von Problemen findet schon seit langem keine Befriedigung mehr. Ich muß mich damit abfinden, ein Zwiegespräch mit der Presse, das heißt mit den Tatsachen und Meinungen auf dem Wege über die Zeitungen, zu führen.
Und doch glaube ich, daß meine gegenwärtige Arbeit, so ungenügend und fragmentarisch sie auch sein mag, die bedeutendste Leistung meines Lebens darstellt, wichtiger als meine Tätigkeit im Jahre 1917, wichtiger als die Arbeit in der Zeit des Bürgerkriegs usw.
Um es ganz klar auszusprechen: wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, daß Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung übernommen hätte. Wären aber sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend gewesen, so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben: Die Führung der bolschewistischen Partei hätte ihren Ausbruch verhindert (daran zweifle ich nicht im geringsten!). Wäre Lenin damals nicht in Petersburg gewesen – ich würde den Widerstand der bolschewistischen Spitze wohl kaum gemeistert haben, der Kampf gegen den ‚Trotzkismus‘ (d.h. also gegen die proletarische Revolution) hätte bereits im Mai 1917 begonnen, und der Ausgang der Revolution wäre in Frage gestellt gewesen. Ich wiederhole aber, daß angesichts Lenins die Oktoberrevolution sowieso zum Sieg geführt hätte. Dasselbe lässt sich im großen und ganzen vom Bürgerkrieg behaupten, obwohl in dessen erster Phase, und besonders nach dem Verlust von Simbirsk und Kasan, Lenin wankend wurde und zu zweifeln begann; doch war das sicherlich nur eine vorübergehende Anwandlung, und er hat es sogar wohl kaum jemandem außer mir gestanden. So gesehen kann ich nicht einmal hinsichtlich der Zeitspanne 1917 bis 1921 von der ‚Unersetzlichkeit‘ meiner Arbeit sprechen. Dagegen ist meine gegenwärtige Arbeit im wahren Sinne des Wortes ‚unersetzlich‘. Dieser Gedanke enthält auch nicht eine Spur von Hochmut: der Zusammenbruch zweier Internationalen hat ein Problem entstehen lassen, zu dessen Lösung kein einziger Führer dieser Internationalen auch nur im Geringsten geeignet ist. Im Vollbesitz schwerwiegender Erfahrungen, bin ich durch die besonderen Umstände meines persönlichen Schicksals mit diesem Problem konfrontiert. Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg auszurüsten. Und ich stimme mit Lenin (eigentlich mit Turgenjew) darin voll überein, daß es das größte Laster ist, älter als 55 zu sein. Zur Gewährleistung der Kontinuität brauche ich noch mindestens fünf Jahre ununterbrochener Arbeit.“ [36]
Nach einem fehlgeschlagenen Versuch im Mai gelang der GPU ein weiteres Attentat auf Trotzki am 20. August 1940. Sein Testament zeigt seine Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft der Menschheit. Seine wertvollste Hinterlassenschaft sind seine Schriften, die heute und künftig neue Generationen von Revolutionären inspirieren.
Stalin und der Stalinismus sind heute nur noch eine grause Erinnerung. Das Gespenst des „Trotzkismus“ aber beunruhigt noch immer den Bourgeois und beschert reformistischen Politikern der Arbeiterklasse eine Gänsehaut.
Der Kollaps der Sowjetunion war das Endresultat von Jahrzehnten bürokratischer Degeneration und stalinistischer Herrschaft. Doch das Triumphgeheul der Bourgeoisie und ihrer Schreiberlinge (darunter auch vieler Ex-Stalinisten) war verfrüht. Die Geschichte ist keineswegs, wie der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama wähnte, zu Ende. Der Zusammenbruch des Stalinismus war nur der Prolog zum Niedergang des Kapitalismus.
Wir erleben gerade die schwerste Krise des kapitalistischen Systems – vielleicht sogar die tiefste Wirtschaftskrise der menschlichen Geschichte. Der Kapitalismus bietet der Menschheit keine würdige Zukunft. Jahrzehnte der faschistischen und stalinistischen Verfolgung konnten den revolutionären Marxismus, ebenso wenig wie die nach 1947 genährte Ideologie des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, auslöschen. Eine neue Generation wird Trotzki, seine Ideen und Theorien wieder für sich entdecken und trotzig wie er selbst als 21jähriger zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Dialog mit der Zukunft aufnehmen:
„Hier bin ich, Dein lang erwartetes zwanzigstes Jahrhundert, deine `Zukunft`.
– Nein, erwidert der unbeugsame Optimist: Du – du bist nur die Gegenwart.“
London, 9. Februar 2010
[1] L. Trotzki, Mein Leben – Versuch einer Autobiographie; Berlin (Fischer) 1929, S. 346; Berlin (Dietz) 1990, S. 322 f.
[2] [Die Narodniki (»Volksfreunde«, »Populisten«) waren Anhänger einer besonders von Herzen, Tschernyschewski und Lawrow beeinflussten Richtung des vormarxistischen Sozialismus in Rußland (1860-95). Ihr Programm war es, unter Rückgriff auf die altrussische Dorfkommune (Mir, Obschtschina) eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft unter Umgehung des Kapitalismus aufzubauen. Die russischen Marxisten (Plechanow) setzten sich seit 1880 kritisch mit den »Volksfreunden« auseinander. Nach 1900 orientierte sich die Partei der Sozialrevolutionäre neuerlich an Narodniki-Vorstellungen.]
[3] N.K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin (1926); Wien-Berlin (Verlag für Literatur und Politik) 1929, S. 97.
[4] N.K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin (1926); A.s.o., S. 97f.
[Anmerkung der Hrsg.: Krupskajas Buch wurde wie andere politische Werke über die russische Revolution und ihre Führer, insbesondere Trotzki, Objekt der stalinistischen Zensur und Umdichtung. Auch die hier zitierten Passagen sind von den stalinistischen Herausgebern überarbeitet worden und stimmen nicht mit der Beschreibung der Begeisterung Lenins für den jungen Trotzki in der ersten russischen Ausgabe überein. In späteren Auflagen (etwa in derjenigen des Dietz Verlags von 1960) wurden Krupskajas Erinnerungen an Trotzki noch weitgehender verdreht und verkürzt.]
[5] Zitiert in: L. Trotzki, Mein Leben (1929); Berlin 1990, S. 167.
[6] [Eine umfassende Beschreibung der Verbindungen Trotzkis zur österreichischen Arbeiterbewegung findet sich in: G. Trausmuth, Trotzki und Österreich, in: Dum Spiro Spero, Trotzki lesen im 21. Jahrhundert; (Broschüre), Wien (Der Funke – Rote Reihe Nr. 18) 2006; online: www.derfunke.at.]
[7] [„Kadett“ von den russischen Anfangsbuchstaben der Wörter „Konstitutionelle Demokraten“ abgeleitete Bezeichnung; Name der 1905 gegründeten liberalen politischen Partei. Die war 1906 in der ersten Duma führend und stellte in den folgenden Dumas die maßgebliche Oppositionspartei dar. Sie spielte (hauptsächlich in der Person ihres Führers Miljukov) die entscheidende Rolle in der Provisorischen Regierung. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki im Oktober/November 1917 wurden die Kadetten verboten.]
[8] Anatoli W. Lunatscharski, Profile der Revolution (1923-1924); Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1968, S. 50 f.
[9] L.Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven – Die treibenden Kräfte der Revolution (1906); Essen (Arbeiterpresse Verlag) 1993 , S. 224 f.
[10] L. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven (1906); A.s.o., S. 229. (Meine Hervorhebung, A. W.)
[11] L. Trotzki, Die wirkliche Lage in Russland (1928); Hellerau b. Dresden (Avalun Verlag) ca. 1930, S. 249f.
[12] [wie die Stadt seit 1914 hieß]
[13] W. I. Lenin, Brief an den Parteitag (1922); Werke, Bd. 36, Berlin (Dietz Verlag) 1962, S. 579.
[14] [Fedor Raskolnikow (1892-1939), Bolschewik seit 1910. Organisierte den Kronstädter Aufstand im Juli 1917. Während des Bürgerkriegs an zahlreichen Fronten, u. a. Kommandant der Roten Wolga Flotte, die im Mai 1920 den britischen Stützpunkt Enzeli am persischen Ufer des Kaspischen Meer eroberte; Kommandant der Baltischen Flotte während des Kronstädter Revolte 1921. 1921-1923 Botschafter in Afghanistan. 1924-1930 Herausgeber der Literaturzeitschrift Molodaja Gvardija (Junge Garde). Anschließend Botschafter in mehreren europäischen Ländern. Weigert sich während der Zeit des „Großen Terrors“ in die Sowjetunion zurückzukehren. Veröffentlicht seinen Offenen Brief an Stalin, worauf er zu Tode kommt. Es wird vermutet, dass er in einer GPU-Aktion ermordet wurde. Werk: Raskazy Michmana Il’ina; Moskau (Sovetskaja Literatura) 1934. engl.: Tales of Sub-Liutenant Ilyin, London (New Park Publications) 1982.]
[15] F. Raskolnikow, Juli Tage; in: Proletarskaja Revoluzija, No.5 (17) 1928, S. 71f. Zitiert in: L. Trotzki, Die wirkliche Lage in Russland (1928); A.s.o., S. 170.
[16] F. Raskolnikow, Im Kerenski Gefängnis; in: Proletarskaja Revoluzija No.10 (22) 1923, S. 150f. Zitiert in: L. Trotzki, Die wirkliche Lage in Russland (1928), A.s.o., S. 169.
[17] E. H.Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1923; London (Macmillan & Co. Ltd.) 1953, vol. 1, p. 89.
[18] W. I. Lenin, Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1919); in: John Reed, 10 Tage die die Welt erschütterten (1919); Berlin (Dietz Verlag) 1957, S. 4.
[19] L. Trotzki, Mein Leben; A.s.o, S. 354.
[20] L. Trotzki, Mein Leben; A.s.o., S. 399
[21] [Max Bauer (1869-1929), Angehöriger des deutschen Generalstabs im 1. Weltkrieg. Nach dem Krieg schloss er sich der extremen Rechten an, war der führende Kopf des Kapp-Putsches 1920 und organisierte rechtsextreme Wehrverbände in Bayern und Österreich. 1923/24 verbrachte er mehrere Monate in der Sowjetunion, um deutsch-sowjetische Joint ventures einzufädeln. Er starb als Militärberater Tschiang Kai-scheks in Schanghai.]
[22] [Max Hoffmann (1869-1927), Generalmajor, Chef des deutschen Generalstabs an der Ostfront und Organisator der Friedensverhandlungen von Brest Litowsk. Er entwickelte 1922 den nach ihm benannten „Hoffmannplan“, der eine wirtschaftlich-militärische europäische Dreimächte-Allianz (England, Frankreich, Deutschland) vorsah, die der militärischen Zerschlagung der Sowjetunion dienen sollte. Er konnte u.a. Henri Detering, den Gründer der Shell AG für diesen Plan gewinnen.]
[23] Zitiert in: E. H. Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1923; A.s.o., vol. 3, p.327.
[24] Anatoli W Lunatscharski, Profile der Revolution (1923-1924); A.s.o., S. 58.
[25] K. Marx/ F. Engels, Die deutsche Ideologie (1845-46); MEW, Bd. 3, Berlin (Dietz) 1958, S. 34f.
[26] W.I. Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) (27. März 1921); Werke, Band 33, Dietz Verlag (Berlin) 1973, S. 275.
[27] L. Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution (1930); Frankfurt a. M. (Fischer Taschenbuch Verlag) 1982, Bd. 2/2, S. 1020.
[28] [N. Bucharin (1888-1938), unterstützte Stalins Kurs nach dessen Bruch mit Sinowjew und Kamenjew von 1925 bis 1928. Er agierte als Hauptideologe des neuen Kurses, fiel dann aufgrund seiner Opposition gegen Stalins Linksschwenk in Ungnade. Er wurde im März 1938 zum Tode verurteilt und erschossen.]
[29] [Petrograd wurde 1924 in Leningrad umbenannt]
[30] Manifest der Vereinigten Opposition in Frankreich, in: Contre le Courant (Hsg. Pazes, Loriot) . Zitiert in: L. Trotzki, Die wirkliche Lage in Russland (1928); A.s.o., S. 273 f.
[31] L. Trotzki, Mein Leben (1929); A.s.o., S. 472.
[32] L. Trotzki, Die Verratene Revolution (1936); A.s.o., S. 275.
[33] Isaac Deutscher, Der verstoßene Prophet – 1929-1940; Stuttgart (Kohlhammer) 1962/3, Bd. III, S.386.
[34] Isaac Deutscher, Der verstoßene Prophet – 1929-1940; A.s.o., S. 387.
[35] Isaac Deutscher, Der verstoßene Prophet – 1929-1940; A.s.o, S. 192f.
[36] L. Trotzki, Tagebuch im Exil (1933-34); München (dtv Dokumente), 1983, S. 52 ff.