Die Wahlverlierer Karl Nehammer und Andreas Babler sind bemüht, „Angst und Unsicherheiten in der Bevölkerung“ „positive Erzählungen“ entgegenzuhalten und „große Lösungen“ zu entwerfen. Dafür sondieren sie an versteckten Orten Wiens eine Regierungsbildung. Bald sollen auch die NEOS einbezogen werden. Große demokratische Folklore! Von Emanuel Tomaselli.
Die Essenz der Staatsgeschäfte ist das Budget: Welche gesellschaftliche Schicht und Klasse finanziert welche Ausgaben? Das Programm der kommenden Regierung wird gar nichts mit den Vorwahlansagen zu tun haben. Weder wird das Wirtschaftswachstum das Defizit beenden (Nehammers ex-Hypothese), noch werden „vernünftige Reichensteuern“ die Rechte der Kinder und der arbeitenden Menschen auf neue Höhen tragen (Bablers Expertenberechnungen).
Um sich aus diesen Notlügen herauszuwinden, entmündigen sich die zwei Parteichefs zu Beginn ihrer Sondierungen selbst. Gleich vereinbarten sie, dass Experten vom Fiskalrat, Wifo, dem Finanzministerium beigezogen werden sollen, um eine Zahlengrundlage für die Verhandlungen zu schaffen.
Das Ergebnis steht schon zuvor in jeder Zeitung. Das Budgetdefizit beträgt nicht 2,9 % der Wirtschaftsleistung (BMfF vor den Wahlen), auch nicht 3,3 % (BMfF nach den Wahlen), sondern 3,9 % (Prognose von Fiskalratschef Badelt) und soll im kommenden Jahr auf 4,1 % steigen. Dies bedeutet, dass annährend 5 Mrd. € pro Jahr eingespart werden müssen, allein um die wieder in Kraft gesetzten Defizitkriterien der EU (jährliche Neuverschuldung unter 3 % des BIP) einzuhalten.
Finanziert werden müssen weiter die Erhöhung der Militärausgaben (u.a. Raketenschutzschirm), die steigende Zinsbelastung der bestehenden Staatschulden (kosten jährlich ca. 8 Mrd. €), demografisch bedingte Ausgabenerhöhungen für Pflege, Gesundheit und Pensionen und „Zukunftsinvestitionen“ für den Wirtschaftsstandort am geopolitischen Abgrund.
Die „großen Projekte“ werden große Einsparungen und soziale Konterreformen sein. Auch die Erhöhung des Pensionsantrittalters wurde schon vor den Wahlen auf höchster Ebene sozialpartnerschaftlich abgesprochen, wie wir aus informierten Quellen im ÖGB wissen.
Das ganze Theater der Regierungsbildung dient also nur der demokratischen Folklore – fast.
Denn die Lage in ÖVP und SPÖ ist extrem instabil. Karoline Edtstadler, Kanzleramtsministerin und Sebastian Kurz-Vertraute sitzt zwar im inneren Verhandlungsteam der ÖVP, hat aber Kanzler Nehammer mittlerweile die Gefolgschaft gekündet. Damit gibt es nun eine schneidige Integrationsfigur für jene Teile der ÖVP, die Nehammer loswerden und wieder eine Koalition mit Wahlsieger FPÖ bilden wollen.
Es sind die Großindustriellen der Industriellenvereinigung, die keine Rücksicht nehmen wollen auf die Bedürfnisse der Gewerkschafter. Diese Leute schielen auf die Kontrolle der Krankenkasse und wollen auch die Arbeiterkammer-Umlage kürzen. Dies ist das Schreckgespenst Nummer 1 für alle sozialdemokratischen Bürokraten, damit würden sie aus ihrem Teil des Staatsapparates vertrieben werden. Um dies zu verhindern, sind sie bereit der Arbeiterklasse viel zuzumuten.
Schon jetzt zerfällt die einst zentralistische SPÖ in zahlreiche Interessensgruppen, die die Welt aus der niedrigstmöglichen Warte ihrer eigenen materiellen Existenz betrachten. Der österreichische Föderalismus bietet hier reichgefüllte Geldtöpfe. Andreas Babler hat dabei weder Hausmacht noch Autorität. Das PR-Kasperle Rudi Fussi führt die Parteizentrale mit seiner Wahlkampagne zum SPÖ-Vorsitz wöchentlich vor.
Beide Krisenparteien haben gemeinsam nur 93 Abgeordnete, viele neu und ungetestet. Dies ergibt einen Mandatsüberhang von nur einem Abgeordneten. Das ist zu unsicher, um alle sozialen Angriffe problemlos durchs Parlament zu bekommen. Die Nato-Enthusiasten und Sparfanatiker der NEOS kommen beiden Parteiführungen zurecht, nicht nur als zusätzliches Stimmvieh, sondern auch als politische Ausrede.
Doch ob dieser Plan aufgeht, ist noch unklar. Die Weltpolitik hält dagegen. Die Wahl von Trump hat der deutschen Ampel den Todesstoß und der Raiffeisen-Aktie ein Kursfeuerwerk beschert. Dies zeigt, wo die wahren Interessen des österreichischen Finanzkapitals liegen – nicht im Krieg gegen Russland (das wollen NEOS und SPÖ), sondern in seinen Bankgeschäften. Die Wiener Börsenhändler erhoffen sich jetzt einen Deal von Trump und Putin. Politisch verkörpert wird dies von der FPÖ. Diese appelliert seit Wochen unverhohlen an Kräfte in der ÖVP, eine gemeinsame Regierung zu bilden.
Die Gewerkschaftsführer tun alles, um diesen Herbst die Arbeiterklasse ruhig zu halten. Die große Politik ist am Wort, da müssen wir schweigen! Welche Regierung auch kommt, für die Arbeiterklasse ist nichts drinnen außer Angriffen. Wir müssen den Klassenkampf wachhalten, bald brauchen wir ihn hart und massenhaft.
(Funke Nr. 228/09.11.2024)