Die russische Invasion im Februar gab Selenskij – dem sogenannten Verteidiger der europäischen demokratischen Werte – einen neuen Vorwand, die politische Opposition im Land zu unterdrücken, verkleidet als „Kampf gegen russische Kollaborateure“. Von Raphael Lins.
Politische Repression existierte in der Ukraine schon lange vor dem Krieg. Verschärft hat sie sich insbesondere, seit der Euromaidan 2014 dezidiert ukrainisch-nationalistische Regierungen an die Macht gebracht hatte, was zum Aufstand in russischsprachigen Gebieten im Osten der Ukraine und darauffolgend zum Bürgerkrieg im Donbass führte. In dessen Windschatten finden auch immer mehr Repressionen gegen Arbeiterbewegung und Linke statt – Selenskij enteignete die ukrainischen Gewerkschaftshäuser schon im Herbst 2021, noch vor dem Krieg. Es finden zahlreiche Verhaftungen und Misshandlungen linker AktivistInnen sowohl durch den Staatsapparat als auch durch faschistische Banden statt, denen freie Hand gewährt wird (vgl.: „Politische Repression durch Selenskyj und Putin“, Funke Nr. 203).
Diese Repressionen haben sich nach dem Kriegsausbruch noch verschärft und haben in einem Verbot von elf Oppositionsparteien gemündet. Das betraf bürgerliche Parteien, etwa den „Oppositionsblock“ und die „Oppositionsplattform – Für das Leben“. Letztere erreichte bei den Wahlen 2019 die zweitmeisten Stimmen, verurteilte die russische Invasion ausdrücklich und rief sogar ihre Mitglieder dazu auf, der Territorialverteidigung beizutreten. Wiederrum wurden auch Parteien der Linken Opposition verboten (so die ehemalige KPU, die in Wirklichkeit ohnehin schon seit 2015 zerschlagen ist). All diese Parteien erreichten 2019 gemeinsam 18% (2,7 Mio. Wählerstimmen). Sie wurden ohne Beweis einer Kollaboration verboten.
Das alles geschieht mit dem einzigen Ziel der innenpolitischen Befestigung von Selenskijs Partei. Die Regierung legt deswegen auch viel Wert auf die Vermengung „Russland = Invasion = KP = Kommunismus = Sozialismus“: jegliche Opposition wird sofort mit der russischen Invasion in Verbindung gebracht. Das wird in Zukunft ein wichtiges Instrument werden – nicht, dass eine Bevölkerung, wenn sie kriegsmüde wird, irgendwann noch auf abwegige Gedanken gerät. Diese Geister sollen möglichst unterdrückt werden, bevor sie zutage treten.
Das neue Arbeitsgesetz erlaubt Unternehmen, Dienstverträge, Kündigungen und Arbeitsbedingungen unterhalb der gesetzlichen Schutzbestimmungen direkt mit den ArbeiterInnen zu vereinbaren. Dies bedeutet eine enorme Verschlechterung für die ohnehin schon unter Kriegsrecht stehenden ArbeiterInnen. Währenddessen wird das Kapital mitten im Krieg munter mit Staatsgeld gefüttert: Seit Anfang September ist eine umfassende Privatisierungskampagne angelaufen. Die Regierung greift gezielt die Arbeiterklasse an und das Kapital darf profitieren – das bedeuten „europäische Werte“.
Noch im Februar wurden unter dem Euphemismus „Vereinheitlichung“ alle oppositionellen Fernsehsender unterdrückt und in einen regierungstreuen Kanal gebündelt, und das Kulturministerium begann im Juni damit, über 100 Mio. russische „Propaganda-Bücher“ aus den Bibliotheken zu nehmen – darunter alles, was in der Sowjetunion mit „anti-ukrainischem Inhalt“ publiziert wurde, aber auch Puschkin und Dostojewski – „ideologisch gefährliche Literatur“.
Es ist wichtig zu verstehen, dass das politische Regime in der Ukraine, genauso wie auch in Russland, von einer reaktionären und korrupten Kapitalistenklasse geprägt ist, die sich nach dem Fall der Sowjetunion das ehemalige Staatseigentum zusammenklaute. Ihr Wesen ist antidemokratisch, ihr Hauptmerkmal ist Ausplünderung des Vorhandenen (billige Arbeitskraft, natürliche Ressourcen, das industrielle Erbe der SU), ihre Herrschaft bietet der ukrainischen wie auch der russischen Arbeiterklasse keine Perspektive auf Entwicklung.
Der ukrainische Staatsapparat ist von umfangreicher Korruption geprägt (nur Russland gilt in Europa als noch korrupter) und Nationalismus und Chauvinismus als Staatsideologie haben sich trotz einiger gegenteiliger Wahlversprechen unter Selenskij nahtlos fortgesetzt. Seit dem Euromaidan können faschistische Gruppierungen (Swoboda, Prawij Sektor, Asow) frei agieren oder werden sogar in den Staatsapparat integriert, dem russischsprachigen Teil der Bevölkerung (bis zu ein Drittel) wird das Verwenden ihrer Sprache erschwert, und Nazi-Kollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg, inklusive des ukrainischen Faschisten Stepan Bandera, werden offen verehrt.
In diesem Krieg gibt es keine progressive Seite. Wenn Ursula von der Leyen, stellvertretend für die europäische herrschende Klasse sagt, in der Ukraine würde die Demokratie verteidigt, so müssen wir sagen: Nein, das ist nicht so. Selenskij ist kein Verteidiger der Demokratie – er ist der Kopf einer reaktionären kapitalistischen Regierung, die als Infanterist des Imperialismus der USA und der NATO gegen den russischen Imperialismus eingesetzt wird. Der Westen ist nicht der Freund der ukrainischen Arbeiter, die Mär von der Waffenlieferung zur „Verteidigung der Demokratie“ ist die mehr schlecht als recht verhüllte Ausrede für den Kampf um imperialistische Einflusszonen und Profit aus der einst hochentwickelten ukrainischen Wirtschaft. Der westliche Imperialismus hilft nur seinen Klassengeschwistern in der Ukraine und vor allem sich selbst. Unsere politische Position dagegen ist klar: No War but Class War.
(Funke Nr. 207/27.9.2022)