Vor 100 Jahren: Die Ungarische Räterepublik ist ein weitgehend vergessenes Kapitel der Revolutionsgeschichte. Vincent Angerer über die Lehren eines großen Kapitels unserer Klasse.
Durch die Präsidentschaft Viktor Orbáns hat sich ein scheinbar klares Bild Ungarns eingebürgert. Aber die ungarische Arbeiterklasse blickt auf eine heroische Geschichte der Klassenkämpfe zurück: die Revolution von 1848/49, den anti-stalinistischen Volksaufstand von 1956 und das Erringen der Staatsmacht des Proletariats im Jahr 1919.
Die brennenden Fragen
Vor 100 Jahren war die die Arbeiterklasse in Ungarn zahlenmäßig noch recht schwach und in wenigen städtischen Kernzonen konzentriert. Die Großindustrie war fast ausschließlich in und um Budapest konzentriert. Kleinbauern und ländliches Proletariat bildete die größte Bevölkerungsgruppe: von einer Bevölkerung von neun Millionen lebten 4,4 Millionen auf dem Land. Die vorherrschende Produktionsweise war der adelige Großgrundbesitz. Slawische und rumänische Bauern und LandarbeiterInnen mussten ihr Leben dabei unter harscheren Bedingungen als ihre ungarischen Arbeitsgenossen fristen, damit war die Nationalitätenfrage eng mit der Landfrage und der Revolution an sich verzahnt.
Vom Krieg in die Revolution
Im Voranschreiten des 1. Weltkrieges war die Arbeiterklasse mit der harten Realität einer unerbittlichen Kriegswirtschaft konfrontiert, sprich Inflation, Hunger, 60 Stunden Arbeitswochen, Wohnungsmangel und Kriegsrecht in der Produktion. Auch an der Front regte sich Unmut über die herrschenden Bedingungen. Die Streiks, Desertionen und Proteste nahmen über das Jahr 1918 hinweg zu. Am 25. Oktober wurde der „Nationalrat“ gegründet. Der bürgerlich-liberale Großgrundbesitzer Mihaily Karolyi (Eigentümer von 30.000 Hektar Land) holt unmittelbar auch die Sozialdemokratie in den neugeschaffenen „Ungarischen Nationalrat“. In der Arbeiterklasse sind die Forderungen nach einem unabhängigen, demokratischen Ungarn, dem Ende des Krieges, dem Sturz des landbesitzenden Adels und die Machtübergabe an die Soldatenräte besonders populär. Doch die herrschende Klasse ist eng mit dem halb-feudalen Großgrundbesitz und der Krone verbunden, was eine bürgerlich-demokratische Entwicklung ausschließt. Karloyi selbst repräsentiert dabei nur eine kleine Minderheit seiner Klasse. Die gesellschaftliche Dynamik liegt völlig im Lager der Arbeiterklasse und der proletarisierten Soldaten. Selbst einfache demokratische, und jede soziale Frage stößt auf hefigsten Widerstand der Großgrundbesitzer, die die führende Rolle in Lager der Bürgerlichen bilden. Der vollständige Sieg der demokratischen, bürgerlichen Revolution war nur möglich, wenn die Revolution selbst in eine sozialistische umschlagen würde. Als Ende November 1918 von Russlandheimkehrern rund um Bela Kun die Kommunistische Partei gegründet wurde, erfährt diese in wenigen Wochen ein rasantes Wachstum. Die Massen drängten darauf, mit allen Aspekten der unerträglich gewordenen alten Herrschaft aufzuräumen.
Zusammenbruch des bürgerlichen Regimes
Die Führung der Kommunistischen Partei wurde im Februar 1919 vollständig inhaftiert. Doch die soziale Revolution konnte dadurch nicht mehr gebremst werden. Im Gegenteil, der Klassenkampf spitzt sich wieder zu, die Anzahl der Streiks nimmt sprunghaft zu, die wichtige Metallergewerkschaft wechselt ins kommunistische Lager. In Szeged übernimmt der Arbeiterrat die Macht, am Land wird der Besitz des Grafen Esterhazy enteignet. In Budapest bereitet sich ein Aufstand vor, um die inhaftierte Führung der KP zu befreien.
Die Siegermächte des Weltkriegs bestanden trotz der prekären Situation der ungarischen Bourgeoisie darauf, dass Ungarn militärische Besetzung und große Gebietsverluste (an Rumänien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei) hinnehmen muss. Völlig handlungsunfähig tritt Karolyi am 20.3. zurück und übergibt die alleinige Regierungsmacht der Sozialdemokratie. Diese tritt unmittelbar an die KP-Führung heran, um sie in die Regierungsbildung einzubinden. Die Sozialdemokratie akzeptiert dabei alle Bedingungen der illegalen KP. Deren wichtigste Forderung war die Bildung einer Räterepublik und einer Vereinigung beider Parteien auf Basis der Räteherrschaft. Die sozialdemokratische Führung akzeptierte den gesamten kommunistischen Programmentwurf, teilweise ungelesen. Die Herrschaft der Arbeiterklasse war nicht aufzuhalten. Am 21.3. 1919 wird die Ungarische Räte-Republik ausgerufen.
Räterepublik
Es war ein Fehler, dass die Räteregierung nicht als Koalition der zwei Parteien der Arbeiterklasse gebildet wurde. Die Vereinigung der Parteien behinderte die politische Meinungsbildung in der Räterepublik. Wenn es auch einen großen linken Flügel in der Sozialdemokratie gab, so wurde ihr Zentrum von überzeugten Reformisten gebildet die materiell (Staatsapparat) und ideologisch fest auf der Grundlage der bürgerlichen Ordnung standen. Sie betrieben von Anfang an eine Obstruktionspolitik der Klassenherrschaft der Arbeiterklasse von innen.
Während eine Seite der Regierung die Entfaltung der Rätemacht permanent bremste, zeichnete sich der KP-Flügel der Einheitspartei durch überhastete, ultralinke Maßnahmen aus. Die Räteregierung war gegen eine Aufteilung des Großgrundbesitzes unter dem Landproletariat (was ihrem Wunsch entsprach) sondern wandelte stattdessen den Großgrundbesitz in kollektivierte landwirtschaftliche Großbetriebe um. Nicht selten waren dabei die alten Eigentümer zu den Leitern dieser Betriebe gemacht worden, womit sich an den Herrschaftsverhältnissen auf dem Land wenig bis nichts änderte. Damit erschwerte die Räterepublik eine entscheidende soziale Kraft für die Verteidigung der militärisch bedrohten Revolution zu mobilisieren.
Die größten Erfolge erzielte die junge Herrschaft der Arbeiterklasse in der Lösung unmittelbarer sozialer Bedürfnisse in den Städten (Wohnraumrequirierung) und vor allem in der Verteidigung der Räterepublik gegen die militärische Strangulierung durch die vordringenden imperialistischen und konterrevolutionäre Armeen. Innerhalb weniger Tage wurde in der ersten Woche vom Mai 1919 eine Rote Armee mit 90.000 Arbeitern aufgestellt und ausgerüstet. Sie schaffte es die einfallenden rumänisch-französischen Truppen im Süden zu blockieren und einen erfolgreichen Feldzug gegen die tschechoslowakische Armee im Norden des Landes durchzuführen. Im Zuge dieser Offensive wurde in der Ost-Slowakei die kurzlebige Slowakische Räterepublik gegründet. Die Revolution nahm von nun an die Form einer militärischen Auseinandersetzung an, und unter der heldenhaften Aufbringung aller Kräfte konnte Anfang Juni ein Territorium der Arbeitermacht gesichert werden. Die Entente-Mächte, allen voran Frankreich, boten einen Waffenstillstand an, den die Räteregierung nach langen Beratungen annahm. Die ungarische Arbeiterklasse war erschöpft, eine unmittelbare Hilfe durch die Rote Armee Russlands (obwohl sie nur 200 km von der ungarischen Räterepublik entfernt war) war nicht unmittelbar möglich, und in Wien verweigerte sich die sozialdemokratische Führung der Ausrufung der österreichischen Räterepublik und jeder konkreten Hilfe. Es galt auf Zeit zu spielen.
In dieser entscheidenden Situation fiel erneut die Sozialdemokratie der Räterepublik in den Rücken und bildete gemäß den Forderungen der imperialistischen Mächte eine „Räteregierung ohne Kommunisten“. Das Ende der Räterepublik war somit besiegelt. Nun war die Konterrevolution auf dem Vormarsch und bald schon regierte in Ungarn der „weiße Terror“, dem 5000 Revolutionäre zum Opfer fielen.
Die Reaktion der österreichischen Räte
Das Ausrufen der Ungarischen Räterepublik schlug in der österreichischen Arbeiterbewegung hohe Wellen. Wie in Ungarn waren auch in Österreich im Jänner 1918 Arbeiter- und Soldatenräte entstanden. Bis zur Machtübernahme der ungarischen Arbeiterklasse waren die Räte in Deutschösterreich nur einer von vielen „politischen Pfeilen im Köcher“, so der Historiker Hans Hautmann. Dies änderte sich ab März 1919 schlagartig durch die Entwicklung in Ungarn. Nun wurden auch in Wien und im südlichen Wiener Becken die Stimmen lauter, die unmittelbar eine Räterepublik forderten. Das Frühjahr 1919 ist der Höhepunkt der Politisierung der Rätebewegung in Österreich, und in diese Monaten fallen die meisten Sozialreformen der 1. Republik. Die Enteignung vor dem Auge, machten die Bürgerlichen im Parlament nun Zugeständnisse an die Sozialdemokratie.
Nicht nur die kleine KPÖ, sondern auch wachsende Teile der Sozialdemokratie sprachen sich für die Perspektive einer Räterepublik aus. Friedrich Adler aber lehnt im Namen des Reichsvollzugsausschuss (RVA) der Arbeiterräte den Apell der ungarischen Räterepublik, auch in Wien die Macht zu übernehmen, ab. Als Grund wurde die Abhängigkeit von der Gunst der Siegermächte in Form von Lebensmittel- und Kohlelieferungen angeführt. Als die Ungarische Räterepublik anbietet Lebensmittel an Deutschösterreich zu liefern, zieht sich die Führung der Sozialdemokratie mit einer Reihe von neuen Rechtfertigungen aus der Affäre. Gleichzeitig entwickelt sich Wien zu einem Zentrum der ungarischen Konterrevolution.
In der Arbeiterschaft war die Stimmung aber eindeutig. Dies zeigt schon die Tatsache, dass 1200 österreichische Arbeiter als Freiwillige nach Ungarn gingen, um die Räterepublik zu verteidigen. Sie spielen eine bedeutende Rolle in der Befreiung Nord-Ungarns. Besonders beeindruckend waren die Solidaritätsaktionen am 21. Juli 1919. Die KP hatte eine Kampagne mit der Losung „Hände weg von Russland und Ungarn“ organisiert und argumentierte für einen Generalstreik. Über den kommunistischen Antrag wurde im RVA abgestimmt, wobei die Sozialdemokratie unter der Führung von Friedrich Adlers gegen einen Streik argumentierte. In einer zweiten Abstimmung konnte der kommunistische Antrag eine Mehrheit gewinnen. Dem Streikbeschluss wurde lückenlos Folge geleistet. Die Solidaritätsaktion mit Räteungarn vom 21. Juli sollte als größter Generalstreik in die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung eingehen.
Nach der Niederlage mussten viele Anhänger der Ungarischen Räterepublik vor dem „weißen Terror“ fliehen. Am 1. und 2. August strömten die ersten Flüchtlinge über die österreichische Grenze. Während sich die ungarischen Sozialdemokraten frei in Wien bewegen durften, wurden die kommunistischen Führer in gefängnisähnliche Schutzhaft überführt. Erst durch die Intervention des Wiener Arbeiterrates konnte die Freilassung der Kommunisten erwirkt werden. Unter den Flüchtlingen waren auch Genossen wie Leopold Kulcsar und Koloman Wallisch, die später eine heroische Rolle im Widerstand gegen den Austrofaschismus spielten. Der Führer der ungarischen Räterepublik, Bela Kun wurde unter der Anklage des „Trotzkismus“ 1938 vom stalinistischen Terror ermordet.
(Funke NR.172/April 2019)
Weitere Artikel in der Reihe:
- Teil 1: Die revolutionäre Geburt der Republik
- Teil 2: Revolutionäre Fieberschübe
- Teil 3: Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut
- Teil 4: Luxemburg, Liebknecht und die deutsche Revolution
- Teil 5: Zwischen Republik und Rätedemokratie
- Teil 6: Die Revolution befreit die Frauen
- Teil 7: Die Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik
- Teil 8: Die gescheiterte Sozialisierung
- Teil 9: Als in Bayern die Kommunisten regierten
- Teil 10: Linksradikale Kinderkrankheiten