„Die Linke braucht eine neue Erzählung“ – dieser Gedanke beschäftigt die Linke in Österreich und weltweit bei dem Versuch, eine neue Alternative aufzubauen. Was steckt hinter dem Konzept und kann es uns helfen? Eine Analyse von Yola Kipcak.
- Hier befindet sich eine überarbeitete, ausgebaute Version des Artikels aus unserem Theoriemagazin.
- Viel Erzählung um Nichts – Teil 2
Mit der aufbrechenden Krise in der österreichischen Sozialdemokratie startete eine Diskussion darüber, wofür die Sozialdemokratie stehen müsste, und was es braucht, um ihr wieder zum Erfolg zu verhelfen. Dabei wurde das Konzept einer linken Erzählung – einer neuen Geschichte für die Sozialdemokratie – von prominenten WortführerInnen wie Max Lercher und auch der SJ-Vorsitzenden Julia Herr in die Diskussion geworfen.
„Wir brauchen einen Einigungsparteitag, so wie 1889 bei der Gründung in Hainfeld. Wir haben keine gemeinsame Geschichte mehr, das ist ein Grund für den Glaubwürdigkeitsverlust“, meint Lercher in einem Zeit-Interview. Und Julia Herr sagt: „Wir haben richtig gute Einzelforderungen. Was mir fehlt, ist eine verbindende Geschichte, eine Erzählung.“ (profil 25.9.19)
Die Idee einer neuen linken Erzählung existiert jedoch nicht nur innerhalb der SPÖ; bei einer kürzlich organisierten Diskussion von Transform Europe, an der Organisationen wie die Junge Linke, KPÖ, Wandel und andere vertreten waren, „zog sich das Stichwort der ‚linken Erzählung’ … wie ein roter Faden durch die zweistündige Diskussion.” (Standard, 24.10.19)
Weit über Österreich hinaus beschäftigt die Linke Erzählung und der damit zusammenhängende Begriff eines „Linkspopulismus“ Organisationen und Parteien in ganz Europa. Jörg Schindler, Bundesgeschäftsführer von der deutschen Linkspartei schrieb etwa erst kürzlich: Um „uns an die Spitze der Klimabewegung zu stellen, wo wir hingehören, brauchen wir eine überzeugende LINKE Erzählung. “ (auf: dielinke.de)
Und auch Katja Kipping, Vorsitzende von DIE LINKE erklärt: „Ich glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung, um deutlich zu machen, es gibt Alternativen. Und wir müssen alternative Erklärungsmuster starkmachen und der Erzählung von Merkel … eine andere Erzählung entgegensetzen.“ (ak , 21.9.12)
Das Konzept der Linken Erzählung geistert zwar schon seit einigen Jahrzehnten an den Universitäten herum, erlangte jedoch Popularität, als neue linke Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien einen plötzlichen Aufschwung erlebten und sich wichtige Proponenten dieser Parteien auf die Idee der Linken Erzählung beriefen. Eine ihrer wichtigsten Ideengeberinnen ist die belgische Politikwissenschafterin Chantal Mouffe, die gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Partner Ernest Laclau einen erzählungsbasierten „Linkspopulismus“ theoretisch zu fassen versucht.
Was steckt hinter der „Erzählung“?
Die ideologische Grundlage dafür besagt, dass die Realität aus Erzählungen, aus Geschichten gemacht wird. Wenn PolitikerInnen es schaffen, die Erfahrung von Menschen in packende Geschichten und „Rahmenerzählungen“ zu gießen, dann beeinflusst dies das Handeln der Menschen und schafft die Realität. Das heißt, dass die Realität nicht aus objektiven, materiellen Tatsachen besteht, die unsere Ideen erschaffen, sondern umgekehrt, dass die Ideen die Welt modellieren. So ist der Kapitalismus nicht ein Wirtschaftssystem, das aus seiner Funktionsweise die Arbeiterklasse und die Kapitalistenklasse erschafft, sondern eine Erzählung, eine Konstruktion. Mouffe nennt ihren Ansatz antiessentialistisch – das heißt, es gibt keine objektive, reale Welt (Essenz) – und geht davon aus, „dass Gesellschaften … durch hegemoniale Praktiken diskursiv konstruiert werden.“ Eine Gesellschaftsordnung (wie der Kapitalismus) „ist niemals die Manifestation einer tieferen Objektivität.“ („Für einen linken Populismus“ S. 17, 101)
Demnach gibt es auch keine Klassen in der Gesellschaft – die Arbeiterklasse sei nur eine von vielen Identitäten, die von Erzählungen, von Diskursen und Sprache, geschaffen wird: „Kollektive politische Subjekte entstehen erst durch Repräsentation; vorher existieren sie gar nicht.“ (S. 69)
Das Ziel einer Linken Erzählung, eines Linkspopulismus, muss aus dieser Sicht daher sein, eine kollektive Identität zu konstruieren, indem man den Leuten erzählt, dass sie gemeinsame Interessen haben, und dass „die Eliten“ ihre Gegner sind. Es ist „eine Diskursstrategie, die eine politische Frontlinie aufbaut … und zu einer Mobilisierung der ‚Benachteiligten‘ gegen ‚die an der Macht‘ aufruft.“ (S. 20)
In einem neuerschienenen Buch Tiefrot und radikal bunt – für eine neue linke Erzählung von Julia Fritzsche wird erklärt, eine solche Erzählung müsse „vor allem am Alltag der Menschen anknüpfen, sie ‚abholen‘, also den Eindruck erwecken, sie beziehe sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erfahrungen tatsächlich gemacht wurden.“ (Fritzsche, S. 20)
Wenn VerfechterInnen der Linken Erzählung über gesellschaftliche Veränderungen sprechen, ist daher auffällig, dass sie fast nie von praktischen Handlungen, von Klassenkampf oder Aktionen reden (und wenn, dann tun sie dies nur als Nachsatz, als prinzipiell wünschenswerte Ergänzung), sondern Phrasen wie „artikulieren“, „wir müssen darüber sprechen“, „darstellen“, „aufzeigen“ usw. verwenden.
In diesem Kontext ist Max Lercher zu verstehen, wenn er über eine Parteineugründung der SPÖ, ein neues Hainfeld, sagt:
„Was hatte ein tschechischer Industriearbeiter schon mit einem steirischen Bergarbeiter gemeinsam? Was eine Wiener Sozialreformerin mit einem ungarischen Radikalsozialisten? … Wir sind ja alle verschiedene Menschen und sehen vieles anders. Das ist gut und richtig so. In Hainfeld konnte man sich aber auf einige zentrale gemeinsame Ideen einigen, hinter die sich alle stellen konnten. Und man gründete eine Partei, die diese Ideen durchsetzen sollte.“ (FB-Post , 6.10.19) „Zur neuen Arbeiterklasse gehören jene, die aufgrund des Systems nicht gerecht am Wohlstand partizipieren. Dazu gehören auch Klein- und Mittelbetriebe. Da lässt sich eine neue Konfliktlinie definieren.“ (Zeit , 10.10.19)
Aus marxistischer Sicht haben ein tschechischer und ein steirischer Arbeiter sehr viel gemeinsam – sie beide nämlich verrichten Lohnarbeit, werden vom Kapitalisten ausgebeutet, und sind daher objektiv Teil der Arbeiterklasse. Geht man aber umgekehrt davon aus, dass erst eine packende, emotionale Geschichte die Identitäten von Menschen konstruiert, heißt das in weiterer Folge auch, dass der Kapitalismus selbst nicht durch Klassenkampf gegen die Kapitalisten bekämpft werden kann, sondern dadurch, dass man eine neue Geschichte schreibt, die dann in den Köpfen der Menschen mächtig (hegemonial) wird: „Jede Ordnung kann daher durch antihegemoniale Praktiken infrage gestellt werden, die versuchen, sie zu re-artikulieren.“ (Mouffe S. 101)
„Erzählen wird nicht der schnellste Ausweg aus der bedrängenden Gegenwart sein. … Eine neue linke Erzählung wird Risse und Lücken haben, langfristig aber gelingt nur mit ihr der Ausweg aus der bedrängenden Gegenwart.“ (Fritzsche 177-78)
In Wahrheit bedeutet dies jedoch, dass eine Revolution – ein Bruch mit dem herrschenden System – abgelehnt wird. Als Proponenten der Linken Erzählung stehen Lercher, Herr & Co., ob bewusst oder nicht, auf einem dezidiert unmarxistischen Standpunkt. Chantal Mouffe selbst ist eine sehr bewusste Anti-Marxistin und sagt, man müsse sich „vom Mythos des Kommunismus verabschieden“, weil ihre ‚antihegemoniale Praxis‘ sowieso „niemals zu einer völlig befreiten Gesellschaft führen wird.“ (Mouffe S. 13)
Wenn man sehr mutig ist, solle man zwar den Kapitalismus ‚ansprechen‘, ihn zu beseitigen liegt den linken ErzählerInnen jedoch fern. „Intelligente Kapitalismuskritik ist angebracht, wir müssen diesen Konflikt aufnehmen“, meint Lercher etwa, und quasi im gleichen Atemzug: „Es braucht einen teilstaatlichen, einen marktkonformen und einen gemeinnützigen Arbeitsmarkt.” (Zeit, 10.10.19)
Hier zeigt sich bereits deutlich, wie die philosophische Grundlage des Idealismus zur Rechtfertigung führt, dass man den Kapitalismus nicht antasten kann. Darum ist es für MarxistInnen auch so wichtig, auf einer festen philosophischen Basis zu stehen: Sie hilft dabei, die Halbheiten zu enttarnen und ihnen eine revolutionäre Antwort entgegenzustellen.
Wir haben nun den Ursprung und die philosophische Grundlage der „linken Erzählung“ beleuchtet. Im Teil 2 des Artikels, der im Funke Nr. 179 erscheinen wird, wird es um die praktischen Schlussfolgerungen, die aus dieser Theorie fließen, gehen.
Literatur:
- Chantal Mouffe (2018): Für einen linken Populismus. Suhrkamp, Berlin.
- Julia Fritzsche (2019): Tiefrot und radikal bunt – für eine neue linke Erzählung. Nautilus Flugschrift, Hamburg.
(Funke Nr. 178/8.11.2019)
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