Totalitarismus. Immer wieder setzen die Bürgerlichen Kommunismus und Nationalsozialismus gleich. Sandro Tsipouras zeigt, welche Funktion diese Totalitarismustheorie im ideologischen Arsenal der Bürgerlichen einnimmt.
Bei den Wahlen in Graz reüssierte die KPÖ recht unerwartet mit 20,02 Prozent und wurde damit zweitstärkste Partei im Gemeinderat. Quer durch die bürgerliche Medienlandschaft ging ein entsetzter Aufschrei: „Darf man Kommunisten wählen?”, fragte beispielsweise der Kolumnist Christian Rainer im Profil und gab gleich selbst die Antwort: „Nein, darf man nicht.“ Auch der Standard schloss sich der Empörung an und brachte eine vom Meinungsforscher Peter A. Ulram abgefasste Tirade, in der von „zigmillionen Menschenleben“ die Rede war, die „die Idee“ gekostet habe. Daher seien Aussagen der KPÖ-Spitzenkandidatin Elke Kahr, wonach ihre Partei die „letzte moralische Instanz in diesem Land“ sei, ein hinreichender Grund sich auf den Teppich zu erbrechen.
In der bürgerlichen Medienwelt schien Eintracht darüber zu herrschen, dass „der Kommunismus“ (oder was man dafür hält) erstens mit „dem Nationalsozialismus“ zu vergleichen, zweitens dabei als diesem in Sachen Verbrechertum und Menschenverachtung ebenbürtig einzustufen und drittens deshalb als Wahlalternative unter keinerlei Umständen zu erwägen sei.
Totalitäre Regime
Der Vergleich von „Kommunismus“ und Faschismus hat tatsächlich eine merkwürdige Tradition. „Hitler und Stalin“ werden in der bürgerlichen Geschichtsschreibung – besonders in der Populärwissenschaft – als größte Schurken des 20. Jahrhunderts gewohnheitsmäßig in einem Atemzug genannt. Wie Karl Marx im „Kapital“ erklärt, müssen zwei Dinge etwas gemeinsam haben, um kommensurabel, also vergleichbar zu sein. Laut Peter A. Ulram besteht die Gemeinsamkeit nun darin, dass beides „totalitäre und massenmörderische Regimes“ gewesen seien. Da es nun allerdings auch einige andere Fälle von Massenmord gegeben hat, die eher selten mit dem Faschismus verglichen werden, scheint das relevantere der Attribute „totalitär“ zu sein. Dieser Begriff verdient es, genauer erklärt zu werden. Dahinter steht nämlich eine ganze Theorie, eine Allzweckwaffe im Arsenal des bürgerlichen Antikommunismus.
Der Begriff „totalitär“ wurde im Jahre 1923 vom italienischen Liberalen Giovanni Amendola geprägt und auf das faschistische Italien angewandt. Dann wurde er von den italienischen Faschisten kurzerhand als positive Selbstbezeichnung entwendet, was auch im deutschen Faschismus Anklang fand: So sprach der faschistische Staatsrechtler Carl Schmitt vom „totalen Staat“, was von der damaligen Nazipropaganda aufgegriffen wurde und dieser die Basis für die spätere Parole vom „totalen Krieg“ lieferte. Im Jahr 1940 schließlich veröffentlichte der deutsche Soziologe Franz Borkenau im Londoner Exil das Werk „The Totalitarian Enemy“, in dem erstmals auch die stalinistische Sowjetunion als totalitär beschrieben und somit die Totalitarismustheorie begründet wurde.
Borkenau bezeichnete den Stalinismus in diesem Werk als „Bolschewismus“ und verschleierte damit die Tatsache, dass die Herrschaft Stalins einen völligen Bruch mit dem Bolschewismus Lenins bedeutete. In der Theorie hatte der Stalinismus mit dem Bolschewismus nur Phrasen, in der Praxis nur die staatliche Kontrolle über die Produktionsmittel gemein. Die Herrschaft der Bürokratie, die mit blutiger Gewalt gegen jeden sozialen Fortschritt, der ihr gefährlich werden konnte, vorging, hatte mit Sozialismus, wie ihn Marx und die Bolschewiki verstanden, nämlich als demokratische Herrschaft aller arbeitenden Menschen, überhaupt nichts zu tun. Dieser Bruch wird als Degeneration bezeichnet.
Die Totalitarismustheorie nahm ihre heutige Form in den 1950ern an, als die deutsch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt ihr Werk „Elemente totaler Herrschaft“ veröffentlichte. Als Kriterien der totalitären Herrschaft nannte Arendt den „Willen zur Weltherrschaft“, fanatisierte Massenbewegungen auf der Grundlage des „Führerprinzips“, Massenmorde im Namen einer „neuen Ordnung“ sowie die Verknüpfung mit einer Ideologie und die „totalitäre Propaganda“.
Natürlich muss eine solche Gleichsetzung von Erscheinungen der stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion und für äquivalent gehaltenen Erscheinungen der faschistischen Herrschaft in Deutschland abstrakt und oberflächlich bleiben. Ein Blick auf die Hintergründe und die Entwicklungsgeschichte von Faschismus und Stalinismus, ein tatsächlicher Vergleich von Profiteuren und Stützen der Herrschaft in beiden Gesellschaften würde weitaus mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten ans Licht bringen – hier genügt es, zu erwähnen, dass die Interessen hinter der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 den Interessen hinter der faschistischen Machtergreifung 1933 diametral gegenüberstanden, und dass die Sowjetunion trotz aller Degeneration nie die Auslöschung von Millionen Menschen zum bestimmenden Zweck ihrer Politik gemacht hat. Doch was die Totalitarismustheorie statt einer Erklärung der beiden Systeme leistet, ist eine moralisch aufgeladene Addition von Merkmalen, die das „Wesen totaler Herrschaft“ ausmachen sollen. Sie verklärt Stalinismus und Faschismus zu Ausdrucksformen eines nebulösen „Bösen“ im Menschen, aber sie erklärt überhaupt nichts.
» Die Lieblingsmethode des moralisierenden Philisters besteht darin, das Verhalten der Reaktion mit dem der Revolution zu identifizieren. (…) Charakteristisch für diese Analogien und Ähnlichkeiten ist, daß man bei ihrer Anwendung die materielle Grundlage der verschiedenen Strömungen, d.h. deren Klassennatur und dadurch deren objektive historische Rolle, vollständig ignoriert. Stattdessen nimmt man irgendeine äußerliche und zweitrangige Erscheinung zum Ausgangspunkt der Beurteilung und Wertung der verschiedenen Strömungen, und zwar meistens deren Verhältnis zu irgendeinem abstrakten Prinzip, welches für den betreffenden Kritiker einen besonderen berufsmäßigen Wert besitzt.« (Trotzki – Ihre Moral und unsere)
Damit unterscheidet sie sich allerdings überhaupt nicht von vielen anderen ideologischen Erzeugnissen der bürgerlichen Politikwissenschaft, deren Sinn und Zweck nicht die Erklärung des behandelten Gegenstandes, sondern dessen Darstellung in einem für die Bürgerlichen günstigen Licht ist – das bedeutet in diesem Fall, den Stalinismus nicht als Bruch mit dem Bolschewismus, sondern einfach als Bolschewismus, der seine Macht festigt, zu präsentieren und so ein Bild zu zeichnen, in dem der Sozialismus – die Gesellschaft, in der alle arbeitenden Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung befreit sind und über alle ihre gesellschaftlichen und ökonomischen Lebensumstände demokratisch mitbestimmen können – als „totalitär“, somit „böse“, also massenmordend, diktatorisch und unmenschlich erscheint.
So kann die Arbeiterklasse dann mithilfe der Totalitarismustheorie davon überzeugt werden, vom Kampf für den Sozialismus Abstand zu nehmen. Sie kann verängstigt, entmutigt und in die Resignation getrieben werden, indem ihr suggeriert wird, dass sie in einer „totalitären“ Hölle landen wird, wenn sie sich zu befreien versucht, einer Hölle, die explizit in eine Schublade mit dem Hitlerfaschismus gesteckt wird und somit implizit für arbeitende Menschen genauso schlimm ist wie Holocaust und Weltkrieg.
Antikommunismus
Von Anfang an war die Totalitarismustheorie Ausdruck des Antikommunismus, der sich in Westeuropa und den USA im Interesse der Bürgerlichen vor allem gegen die UdSSR, aber natürlich auch gegen KommunistInnen im eigenen Land richtete. Je mehr sich der kalte Krieg verschärfte, desto einflussreicher wurde die Theorie. Beispielsweise diente sie im Jahre 1956 zur Rechtfertigung des KPD-Verbots in der Bundesrepublik Deutschland. Der Wahlerfolg der KPÖ zeigt, dass die Bürgerlichen auch nach dem Ende des kalten Krieges die Totalitarismustheorie jederzeit mit Begeisterung aus der Mottenkiste holen, wenn es darum geht, fortschrittliche Politik anzugreifen.
In der Urteilsbegründung beim Verbot der KPD wurde erstmals klar aufgezeigt, wann eine politische Organisation nach Meinung der Bürgerlichen auszumerzen war. Das war ein Meilenstein in der Entwicklung ideologischer Rechtfertigungen zur Verfolgung von KommunistInnen im deutschsprachigen Raum. Wer gewisse „unantastbare Grundwerte“ einer „freiheitlichen“ Demokratie in Frage stellte und besagter „herrschenden Ordnung“ gegenüber „eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ einnahm, war vom Bundesamt für Verfassungsschutz zu überwachen, auszuschnüffeln und gegebenenfalls ins Gefängnis zu bringen. Das Amt fand auch bald einen praktischen Arbeitsbegriff für solche Personen: „Extremisten“.
Die politischen Vorstellungen solcher Personen wurden folgerichtig (und im bundesdeutschen Verfassungsschutzbericht 1973 zum ersten Mal öffentlich) „Extremismus“ genannt, der „Totalitarismus“ mithin rückwirkend als „Extremismus an der Macht“ definiert. So entstand, als speziell auf die politische Verfolgung von Regimegegnern ausgerichtete Ableitung der Totalitarismustheorie, die Extremismustheorie.
Nach der Prägung des Extremismusbegriffes durch den Verfassungsschutz der BRD wurde er begeistert von konservativen Wissenschaftlern und Vetretern der „neuen Rechten“ aufgegriffen. Unter diesen „Extremismusforschern“ nehmen Uwe Backes und Eckhard Jesse eine führende Rolle ein. Seit Ende der 1980er Jahre versuchen diese bürgerlichen Ideologen, die Extremismustheorie im Wissenschaftsbetrieb und in der breiten Öffentlichkeit zu etablieren.
Zur Vermittlung der Theorie verwenden Backes und Jesse ein einfaches Modell: Das politische Spektrum wird als „Hufeisen“ dargestellt, so dass sich die „Extremisten von links und von rechts“ an den „Rändern des demokratischen Verfassungsbogens berühren“ – sie seien sich sogar „sehr nahe, brauchen einander“. Es wird zudem behauptet, „Rechts- wie Linksextremisten“ würden sich oft gleicher Mittel bedienen, um ihre Ziele durchzusetzen.
Wie also die Totalitarismustheorie in der Geschichtsforschung den industriellen, fanatischen und zum Selbstzweck erklärten Massenmord an den europäischen JüdInnen mit der Degeneration der Sowjetunion im Stalinismus gleichsetzt und letztere als natürliches Ergebnis jedes Versuchs zur Befreiung der Menschheit von Krieg, Krise und Kapitalismus hinstellt, setzt die Extremismustheorie von Neonazis begangene gewalttätige bis tödliche Angriffe auf MigrantInnen – und andere Feindbilder der Rechten – der politischen Arbeit für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung gleich, mit dem Zweck, Ausbeutung und Unterdrückung zu verewigen.
Jedes Gerede von „Totalitarismus“ oder „Extremismus“ ist bürgerliche Hetze. Diese Begriffe dienen allein der Herrschaftssicherung der Bürgerlichen. Sie sind der ideologische Ausdruck ihrer Angst vor jeder Bewegung, die das Potential in sich trägt, die kapitalistische Ordnung zu erschüttern.