„Zurück zur Normalität“, dafür wirbt die Regierung seit Monaten. Doch die Pandemie wandelt sich in eine endemische Krankheit – Corona ist Teil der Gesellschaft, eine neue Normalität entsteht. Wie damit umgehen?
Bundeskanzler Kurz hat die „gesellschaftliche Pandemie“ (einmal mehr) bereits im Juli für beendet erklärt: „Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“, so der Kanzler im Interview am 10. Juli.
Die Message ist klar: Die Gesellschaft übernimmt Verantwortung nur zur Stabilisierung der Profite; die Gesundheit der Allgemeinheit und ihr Umgang mit widersprüchlichen und schlecht vorbereiteten Maßnahmen ist ein „individuelles“ Problem. Ebenso wischt Kurz jede Debatte über die Notwendigkeit von ausreichendem Personal in Pflege und Kindergärten, Luftfiltern in Schulen, die Verantwortung der Arbeitgeber für nicht-krankmachende Arbeitsplätze etc. mit einem Wisch vom Tisch.
Diese Haltung untermauert die Tatsache, dass die Regierung weiter keinerlei Anstrengungen unternehmen will, den Widerspruch zwischen Pandemie und sinnvollem und sicherem gesellschaftlichen Leben zu bearbeiten oder hier gar Lösungen anzustreben.
Die Wirtschaft, die Hauptsponsoren und Profiteure der Regierung, wurde nicht nur „gerettet“ sondern teilweise so überfördert, dass Konzerne wie KTM Dividenden wie noch nie zuvor ausschütten konnten. Abseits der Profit-Stabilisierung herrschen jedoch Ideenlosigkeit, Sparzwang und bürokratische Willkür vor.
Die ersten Leidtragenden der neuen Corona-Welle im Herbst 2021 sind einmal mehr die Jugend und das Personal an Kindergärten und Schulen, wo wenige nach Tage nach Schulbeginn schon Chaos und Sperrungen vorherrschen. Auf den Fuß folgt das jahraus-jahrein geschundene Gesundheitspersonal, dem in knausrig-bürokratischer Manier mehrheitlich noch nicht mal die seit über einem Jahr versprochen Corona-Boni überwiesen wurden. Allein für die Tourismus-Wintersaison 2021/22 legt sich die Regierung wieder mächtig ins Zeug.
Impfen schützt
Die verwendeten Impfstoffe sind geeignet um einen schweren Krankheitsverlauf und Langzeitschäden zu verhindern. Es gibt zurzeit kein anderes Mittel (Selbstmedikation) oder präventives Verhalten („gesund leben“), um das Risiko einer schweren Erkrankung mit Langzeitfolgen so effizient wie mit der Impfung zu vermeiden. Daher sollten sich jede und jeder impfen lassen, die dazu die Möglichkeit haben, um sich und seine Umgebung jedenfalls für einige Zeit zu schützen.
Dies bedeutet aber nicht das Ende der Pandemie.
… aber beendet die Pandemie nicht
Der individuelle Impfschutz fällt nach wenigen Monaten ab (in vier Monaten von 91% auf 77% bei BioNTech, kaum Einbußen bei Moderna laut US-Gesundheitsbehörde).
Ein weiterer Faktor ist die Entwicklung ständig neuer Virus-Varianten. Bei einer Durchimpfungsrate von 63,6% bringt die 4. Pandemiewelle das Gesundheitssystem im Impfvorreiterland Israel einmal mehr an die Kapazitätsgrenzen. Am 14.9. verzeichnete das Land mit einer 7-Tagesinszidenz von 1254 den bisher höchsten Wert seit dem 17.1.21, wo der Wert bei 981 lag. Die Regierung begrenzte daher die Gültigkeit des Impfzertifikats auf sechs Monate (fünf Monate nach Genesung), eine Verlängerung für weitere sechs Monate gibt es nach einer dritten Impfung, und erste Wissenschaftler argumentieren bereits jetzt die Notwendigkeit einer vierten Impfung. Positiv ist, dass sich trotz der höchsten Fallzahlen seit Beginn der Pandemie die Anzahl der Todesfälle in etwa halbiert hat (am Höhepunkt der 3. Welle am 25.1.21 65 Tote pro Tag im Wochendurchschnitt, am Höhepunkt der 4. Welle am 14.9. 33 Tote pro Tag im Wochenschnitt).
Die durchwachsenen Resultate in Israel sind ausreichend klar, um die Idee, dass die „gesellschaftliche Pandemie“ mit der Verfügbarkeit der Impfung vorbei sei, zu widerlegen. Eine neue Krankheit, deren Behandlung aufwändig ist und die das gesellschaftliche Leben verändert, ist gekommen, um auf absehbare Zeit zu bleiben.
Ein globaler Ausblick
Der Weltkapitalismus leistet diesem Umstand mächtigen Vorschub. Die Impfversorgung in weiten Teilen der Welt erfolgt stoßweise meist durch reiche Länder unter dem Gesichtspunkt von imperialistischer Einflussnahme. In Afrika haben weniger als 2 Prozent der Bevölkerung Impfschutz. Durch die begrenzte Dauer des Impfschutzes zusammen mit der Variantenentwicklung bedeutet dies in weiten Teilen der Welt uneingeschränkten Spielraum für die ständige Reproduktion und Adaption des Virus auf globaler Ebene.
Eine demokratische wissenschaftliche Debatte und Gesundheitsstrategie frei vom Profitinteresse einzelner Akteure ist notwendig. Die reale Entwicklung ist jedoch genau gegenteilig:
Profitinteressen von Pharmakonzernen, von diversen Wirtschaftszweigen (die diese oder jene Maßnahmen von „ihren“ Politikern einfordern) und nationalstaatliche Konkurrenz dominieren den Umgang mit der Pandemie.
Um das zu veranschaulichen:
- Der Nettogewinn von BioNTech betrug im zweiten Quartal 2021 2,8 Mrd. € bei einem Umsatz von 5,3 Mrd. €, was eine Profitrate von über 50% ergibt. Die BioNTech-Mehrheitseigentümer Andreas und Thomas Strüngmann sind heute mit einem Privateigentum von 52 Mrd. US $ die reichsten Deutschen, Minderheitsaktionär und BioNTech-Gründer Ugur Sahin schafft es mit einem Vermögen von mehr als 18 Milliarden „nur“ unter die Top 10 der Superreichen.
- Noch ein interessantes Detail aus der Geschäftsbilanz: In der Jahresbilanz von BioNTech scheinen 370 Mio. € Zuschüsse auf, als Ausgaben für die Impfstoffentwicklung wurden jedoch nur 239 Mio. € verbucht. Das heißt, die Öffentlichkeit zahlt nicht nur vollständig für die Entwicklung des Impfstoffes (die dann für die Kapitalisten risikofrei und profitabel verkauft werden), sondern selbst Teile der Zuschüsse flossen schon direkt in die Taschen der Eigentümer.
Das sind in Milliarden gegossene gesellschaftliche Machtverhältnisse. Dies ist nicht allein ein moralisches Problem. Es ist eine Machtkonzentration von Profitinteressen, die Milliarden von Menschen mit fehlender Kaufkraft außenvor lässt, die die wissenschaftliche Debatte beschränkt und die Gesundheitspolitik diesen Profitinteressen unterordnet.
Die WHO empfiehlt im Gegensatz zur Israel die dritte Impfung nicht, weil sie eine Zuspitzung der globalen Impfstoffknappheit fürchtet.
Aber es gibt auch eine Auseinandersetzung über die medizinische Sinnhaftigkeit fortgesetzter Impfungen, was in der USA zu einem offenen Konflikt im Staatsapparat geführt hat. Mitte August verkündete die Biden-Administration, dass ab 20. September die „Booster-Impfungen“, also die dritte Impfung für alle, beginnen soll. Das zuständige Zulassungsgremium, die US-Arzneimittelbehörde, war offensichtlich in diese Pläne nicht eingebunden und sagte die Auffrischungs-Impfung drei Tage vor ihrem Start ab. Sie empfiehlt die dritte Impfung nur für ältere Menschen und Risikogruppen. Der Immunologe und Präsidentenberater Anthony Fauci stellte sich dann vor Biden, begründete die Meinungsverschiedenheiten mit einer sich ständig ändernden Datenlage und drückte seine Überzeugung aus, dass die Arzneimittelbehörde ihre Empfehlung noch verändern werde.
In Österreich funktioniert dies alles mit der beruht-berüchtigten heimischen Gemütschlampigkeit. Eine bundeseinheitliche Empfehlung zur Auffrischungsimpfung fehlt gänzlich, dennoch wurde auf Drängen der Ärztekammer am 31.8. in Niederösterreich damit begonnen. Die Debatte hierzulande dreht sich um die Frage ob Masken nur in Gondeln oder auch am Schlepplift zu tragen seien.
Die Inkonsistenz in der Pandemiepolitik ist zwar zu einem Teil auch dem Lernprozess über das Phänomen „Corona“ geschuldet, darüber gibt es jedoch keine nachvollziehbare demokratische Debatte. Stattdessen dominieren materielle Interessen unterschiedlicher Akteure das Geschehen.
Nein zur Spaltung und Diskriminierung
Wie wir wiederholt argumentierten, gibt es keine einfache technische Lösung der Krise. Im Sommer ist die Idee von „Zero-Covid“ in der Praxis (Australien, Neuseeland, Südkorea) gescheitert und die Hoffnung, dass die (jetzt bestehenden) Impfstoffe alle pandemiebezogenen Probleme lösen, wird nicht mehr lange aufrecht zu erhalten sein.
Die herrschende Klasse nützt die Pandemie jedoch, um ihre eigenen gesellschaftlichen Interessen voranzutreiben.
MarxistInnen begreifen die Gesellschaft als Einheit widersprüchlicher Klasseninteressen. Es ist für uns daher nicht verwunderlich, dass im Zuge der aktuellen Debatte zur Steigerung der heimischen Impfquote von den Bürgerlichen just jene Themen gesetzt werden, die ihrer allgemeinen Zielorientierung (Steigerung der Unternehmensprofite, Einsparungen im Gesundheits- und Sozialsystem) dienen.
Die Vorsitzende der Bioethikkommission des Bundeskanzleramts, Christiane Druml, stieß etwa eine Debatte an, dass COVID-19-Nichtgeimpfte zukünftig einen Selbstbehalt bei Spitalsaufenthalten zahlen sollen.
Einen Schritt weiter geht Arbeitsminister Kocher, der das AMS bereits schriftlich beauftragte, Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu sperren, wenn ihr Impfstatus einen Arbeitsantritt an einer neuen Stelle verhindert. Im Gegensatz dazu Tourismusministerin Köstinger, die gleichzeitig verkündet, dass für den Mangelberuf Wintersaison-Tourismus keine allgemeine Impfpflicht vorgesehen ist. Dieser Widerspruch ist leicht erklärt: einmal geht es in Vorbereitung der kommenden Arbeitsmarktreform darum, die Arbeitslosigkeit auf Kosten der Arbeitslosen zu lösen, im anderen Fall darum, genügend Arbeitskräfte in die Wintersportorte zu lotsen.
Mit diesen Vorstößen geht es den treuen Vertretern der Kapitalistenklasse nicht um die Gesundheit aller, sondern um die Durchsetzung lang gehegter Sozialabbaupläne. Es ist alter Wein in neuen Schläuchen. Wir stellen uns bedingungslos gegen jede soziale und arbeitsrechtliche Verschlechterung und Diskriminierung, auch wenn sie mit „Pandemiebekämpfung“ argumentiert wird.
Wofür wir kämpfen
Vor dem dritten Pandemiewinter herrscht eine allgemeine Maßnahmenmüdigkeit und eine gesellschaftliche Spaltung entlang der Impffrage. Einmal mehr betonen wir, dass sich jeder und jede, der/die keinen besonderen Ausschlussgrund hat, sich impfen zu lassen, dies tun soll und dafür auch zu werben. Gleichzeitig verstehen wir, dass die Impfung allein kein Zurück zur Normalität bedeuten wird.
Alle diskriminierenden und spalterischen Maßnahmen dienen letztlich dem Interesse der Herrschenden und ihrer Profite, da die Einheit der Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung – die einzige Kraft, die der eigennützigen Politik der Bourgeoisie eine Alternative entgegenhalten könnte – geschwächt werden. Diese Spaltung muss von der Arbeiterbewegung daher rundweg zurückgewiesen werden.
Stattdessen brauchen wir:
- Einen Kampf für die Offenlegung aller Verträge zwischen Regierungen und Impfstoffherstellern, die Abschaffung des Patentschutzes, eine demokratische wissenschaftliche Debatte zur Bekämpfung der Pandemie und zur Behandlung der Krankheit.
- Ein Investitionsprogramm für Kindergruppen, Bildungseinrichtungen, Seniorenresidenzen und das öffentliche Gesundheitswesen.
- Beibehaltung und Ausbau kostenloser Covid-Testmöglichkeiten.
- Keine Profitmaximierung durch Diskriminierung und Spaltung am Arbeitsplatz. Die Belegschaften und Betriebsräte müssen darüber diskutieren, welche Maßnahmen durchgesetzt werden müssen, um eine Gesundheitsprävention für alle zu gewährleisten.
- Nein zur Spaltung, Nein zur Heuchelei der Herrschenden: Gesundheit vor Profite!
Methodologische Anmerkung:
Um eine statistische Vergleichbarkeit zu gewährleisten sind alle statistischen Zahlen (ausgenommen die Impfquote Afrikas) vom Onlineportal „ourworldindata.org“, abgerufen am 21.9.
Der Anteil der Geimpften bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung. Im Bezug auf die impfbare Bevölkerung ist Anteil der Geimpften daher größer, als hier angegeben. Ausschlussgründe sind hauptsächlich die Altersbeschränkungen bei der Zulassung. Hinzu kommen individuelle medizinische Risikoabwägungen und Ausschlussgründe. Beispiel Österreich: der Anteil der vollständig geimpften Personen an der Gesamtbevölkerung beträgt 59,22%. Der Anteil der vollständig geimpften Bevölkerung in der Erwachsenenpopulation 18+, des EU-Vergleichswerts, liegt bei 70,4% (European Centre for Disease Prevention and Control).
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