Ich arbeite in der Metallindustrie. In meinem Betrieb machen seit Wochen viele Verschwörungstheorien zum Corona-Virus die Runde.
Die meisten meiner Kollegen wissen, dass die langfristigen Folgen dieser Krise sie in unsicheres Fahrwasser bringen werden. Viele Spekulationen darüber, was sein wird, was oder wer hinter dem Virus steckt, finden sich im Internet. YouTube und Facebook sind fleißig am Löschen solcher “Falschmeldungen”. Das führt aber nur dazu, dass KollegInnen, die an Verschwörungen glauben, in ihrer Sache bestärkt werden. ArbeiterInnen und Jugendliche fragen sich nicht zu Unrecht, was tatsächlich hinter den Kulissen von Politik und Wirtschaft passiert.
Schein und Wirklichkeit
Viele Theorien sind völlig abstrus, wie etwa, dass der IWF hinter dem Corona-Virus stecke, um über Umwegen das Bargeld abzuschaffen und den Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu entziehen, oder dass jetzt im Schatten der Corona-Krise das 5G-Netz ausgebaut wird, das neben zunehmender Überwachung auch die natürliche Gehirnentwicklung schädige und so die Menschen einfacher manipuliert werden könnten. Im Hintergrund dieser Verschwörungsgedanken steht immer die Ahnung, der Staat sei der Handlager einer übergeordneten neuen Ordnung.
Nicht zufällig stehen derzeit die WHO und die Pharmaindustrie im Fokus vieler Verschwörungstheorien. In der zugespitzten Situation der Corona-Krise werden die Konsequenzen der privaten Produktion und Distribution insbesondere von medizinischen Produkten offen sichtbar: Anstatt die Verteilung lebensnotwendiger Güter nach Bedarf zu regeln, wird mit diesen auf dem freien Markt spekuliert. Wenn der Preis von Desinfektionsmitteln in den letzten Wochen um fast 1000% gestiegen ist, dann ist das nicht damit zu argumentieren, dass es Engpässe in der Produktion gibt, sondern weil hier profitorientierte Unternehmen Geschäfte machen. Dasselbe gilt für Arzneimittel, Schutzmasken usw. Der freie Markt kann in seinem Profitzwang keine bedarfsorientierte Herstellung und Verteilung wichtiger Produkte gewährleisten. Um das zu erreichen, muss die Arbeiterklasse die Macht aus der unsichtbaren Hand des Marktes in die eigene nehmen.
Die profitorientierten Auswüchse des Kapitalismus, die gerade jetzt sichtbar werden, werden gerne zu Verschwörungstheorien zusammengesponnen. Unstimmige Anhaltspunkt reichen den Gurus aus, um daraus, fast frei, große Zusammenhänge zu konstruieren, die vielen als logisch und nachvollziehbar erscheinen.
Das macht diese Gedankengänge aber noch lange nicht korrekt. Im Gegenteil, der Marxismus bietet dagegen eine systematische und wissenschaftliche Erklärung für die gesellschaftlichen Probleme. In anderen Worten ist die Herrschaft der wenigen Besitzenden über die Mehrheit der ArbeiterInnen nicht abhängig von irgendwelchen bösen Machenschaften oder ‚Zigarre rauchenden Männern‘, sondern ergibt sich viel mehr aus der Funktionsweise des kapitalistischen Systems an sich. Während Verschwörungstheorien die Geschichte üblicherweise aus dem Blickwinkel einer unterdrückten Mehrheit gegenüber einer ausbeuterischen Minderheit betrachten, tendieren sie aber dazu, diese Beziehung nicht als systembedingte Ordnung zu begreifen – also als das Resultat von Eigentums- und gesellschaftlichen Verhältnissen in der Klassengesellschaft – sondern als einzigartige ‚Verbindungen‘ von ‚Bösewichten‘, die ‚hinter den Kulissen‘ die Gesellschaft davon abhalten ‚richtig‘ zu funktionieren. Es gibt eine große Bandbreite an Verschwörungstheorien, aber diese ‚Herstellung von Zusammenhängen‘ ist fast allen als universelles Merkmal gemein und genau das verunmöglicht ein aufrichtiges wissenschaftliches Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse.
Systemkritisch
Die milliardenschweren „Hilfspakete“ der Politik retten vorübergehend kaputte Unternehmen und Banken. Die Wirtschaftspartei ÖVP versucht in erster Linie ihre eigene Klientel zu retten, wenn sie vom “Team Österreich” spricht. Die Milliarden, die jetzt ins System gepumpt werden, holen sie sich anschließend nicht von den Reichen und den Konzernen zurück. Es ist klar, dass die Schulden, die jetzt für diese „Hilfspakete“ gemacht werden, wie nach der Krise von 2008 auf uns abgewälzt werden und uns jahrzehntelange Sparpolitik bevorsteht. Und nebenbei wird die Exekutive mit Sonderrechten ausgestattet und demokratische Rechte werden beschnitten.
Das alles wird von der SPÖ und der Gewerkschaftsspitze mitgetragen und als alternativlos dargestellt. Viele KollegInnen sehen daher nicht ganz zu Unrecht diese Organisationen als Teil des Problems. Dieser Mangel an politischen Alternativen treibt viele, die beginnen die herrschende Ordnung in Frage zu stellen, in die Arme der Verschwörungstheoretiker, die sich als “systemkritisch” darstellen, auch wenn sie mit ihren einfachen Erklärungen nur eine Ersatzreligion bieten können.
Die logische Schlussfolgerung aus Verschwörungstheorien bestärkt viele in dem Glauben “Ich gegen den Rest der Welt”. Dem User vor dem PC bleibt aus der Erkenntnis der Verschwörung nur das, was in den sozialen Medien als die große Idee gilt: „Bilde dir deine Meinung!“. Das ist Motto und Anleitung zugleich. Der unsichtbare und unbezwingbare abstrakte Feind, der gezeichnet wird, kann als Einzelperson nicht bekämpft werden. Der User hält damit nur aufrecht, was ist, und scheitert an der fast schicksalshaften Vereinzelung. Die Krise wird auf unserem Rücken ausgetragen, um den Profit für die Reichen zu sichern. Wir werden von der Regierung mit “Team Österreich” abgespeist, obwohl Kurz & Co. nur das “Team Wirtschaft” interessiert. Das kann nur durchbrochen werden, wenn wir anfangen uns selbst zu organisieren und für eine Gesellschaft kämpfen, die unseren Bedürfnissen entspricht.
Von einem Produktionsarbeiter
(Funke Nr. 183/27.4.2020)