Der neue „1917 Verlag“ hat mit Lenins „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ einen weiteren Klassiker des Marxismus neu aufgelegt. Hinter dem etwas sperrigen Titel steckt ein Schlüsseltext zum Verständnis der Frage der Demokratie und der Haltung von Marxisten im Kriegsfall. Von Konstantin Korn.
Der Name Kautsky ist heute nur noch wenigen ein Begriff. Am Beginn des 20. Jahrhunderts galt Karl Kautsky aber als der Cheftheoretiker der Sozialdemokratie schlechthin. Vor allem seine Arbeiten zur Geschichte der Klassenkämpfe in vorkapitalistischen Epochen und seine populären Darstellungen des Werks von Marx und Engels brachten ihm den Beinamen „Papst des Marxismus“ ein. Sein Buch „Ursprung des Christentums“ gehört zweifelsohne zum Besten, was der historische Materialismus hervorgebracht hat. Kautsky führt darin seine Leser in die Welt der antiken Gesellschaften ein und zeichnet deren Zerfallsprozess nach. Schritt für Schritt legt er dar, wie die Krise der damaligen Produktionsweise und der Ökonomie ihren Ausdruck fand – in einer Krise der politischen Institutionen, der gesellschaftlichen Beziehungen und des gesamten Denkens. In dieser Atmosphäre entstand das frühe Christentum als Bewegung der Unterdrückten und Ausgestoßenen. Die Parallelen zum heutigen gesellschaftlichen Niedergang drängen sich regelrecht auf.
Kautsky vertrat lange Zeit zumindest in Worten die Perspektive der sozialen Revolution. Doch der Erste Weltkrieg wurde endgültig zum Wendepunkt in der Entwicklung der Sozialdemokratie hin zu einer Partei des Systemerhalts. Ihr „Papst“ bemühte sich mit spitzfindigen Ausführungen, dem Marxismus die Zähne zu ziehen. Hatte Marx aus dem Klassenkampf die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution und der Machteroberung durch die Arbeiterklasse („Diktatur des Proletariats“) abgeleitet, so hielt Kautsky zwar in Worten am Marxismus als Analyseinstrument fest, lehnte aber alle revolutionären Kampfmittel ab. Er verwandelt Marx in einen x-beliebigen Liberalen.
Ein Jahr nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland – der Klassenkampf spitzte sich in ganz Europa entscheidend zu – beginnt Kautsky eine Polemik gegen die Bolschewiki. Die Frage aller Fragen ist: Darf die Arbeiterklasse mit den Mitteln der Revolution die Macht ergreifen?
Lenin nimmt den Fehdehandschuh auf und verteidigt den revolutionären Marxismus gegen seinen alten Lehrmeister, für den es nur einen legitimen Weg zum Sozialismus geben kann: die „Demokratie“, den Stimmzettel.
„Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ wirft Licht auf eine der zentralen Debatten innerhalb der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, als halb Europa, und nicht zuletzt Österreich und Deutschland, von einer Revolution erschüttert wurden. Kautsky lieferte damals der Sozialdemokratie die politische Legitimation, die revolutionäre Welle in die sicheren Kanäle der bürgerlichen Demokratie zu lenken. Die Folgen dieser Entscheidung waren fatal: In Russland blieb die Revolution isoliert und degenerierte zu einem totalitären Staat mit einer monströsen Bürokratie und Repressionsapparat. Bei uns blieb der Kapitalismus bestehen, und das Kapital ließ den Faschismus an die Macht.
Die Liberalen sprechen von „‘Demokratie‘ schlechthin“, und die Sozialdemokratie nimmt seit Kautsky im Grunde keinen anderen Standpunkt ein als die Liberalen. Von der Idee eines demokratischen Weges zum Sozialismus hat sich die Sozialdemokratie längst auch in Worten verabschiedet. Wenn sie heute im Chor mit den Liberalen die „Verteidigung der Demokratie“ auf ihre Fahnen heftet, dann ist dies noch blutleerer und inhaltsloser als einst bei Kautsky.
Wie Marx und Lenin stellen wir aber die Frage: Demokratie für welche Klasse? In der bürgerlichen Demokratie haben auf dem Papier Ausbeuter und Ausgebeutete das gleiche Recht, alle fünf Jahre einen Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen. Die wahre Macht liegt aber bei denen, die auch an den wirtschaftlichen Schalthebeln sitzen und über unzählige Kanäle mit dem Staatsapparat verbunden sind und diesen beeinflussen können.
Sehen wir nicht gerade aktuell sehr deutlich, mit welchen Mitteln die herrschende Klasse ihre Interessen durchsetzt? Die Industriellenvereinigung drängt auf eine Politik zur „Sicherung des Standorts“. Die bürgerlichen „Wirtschaftsexperten“ argumentieren für eine ausgabenseitige Budgetsanierung, sprich Sparpakete für die Masse. Die bürgerlichen Medien schreiben jeden in Grund und Boden, der Reichensteuern und kürzere Arbeitszeiten fordert. Börse und Banken haben sich das bürgerliche Parlament vollständig unterworfen. Trotz aller formaler Gleichheit werden wir durch „tausende tatsächlicher Begrenzungen und Manipulationen zu Lohnsklaven gemacht“ (Lenin).
Kommunisten verteidigen alle (von der Arbeiterbewegung hart erkämpften) demokratischen Rechte, weil sie den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung erleichtern. Aber gleichzeitig entlarven sie die Beschränktheit und Verlogenheit der bürgerlichen Demokratie, zeigen die Verwobenheit zwischen herrschender Klasse und dem Staatsapparat auf und bereiten so die Massen für die Revolution vor, in der die wirtschaftliche und politische Macht der Bürgerlichen gebrochen werden muss.
Diese revolutionäre Perspektive ist gerade in Zeiten des imperialistischen Krieges von besonderer Bedeutung. Der Krieg trägt die Revolution in sich wie die Wolke den Regen. Die reformistischen Teile der Arbeiterbewegung, die wie Kautsky den Marxismus über Bord geworfen haben, stehen gerade im Kriegsfall offen auf der Seite der herrschenden Klasse – natürlich im Namen der „Demokratie“ und der „Menschenrechte“. Ein Ende des imperialistischen Krieges führt aber immer zu einem imperialistischen Raubfrieden – außer es gelingt uns, die herrschende Klasse zu stürzen.
Lenin findet klare Worte, worin sich Kommunisten von linken Sozialdemokraten à la Kautsky, wie wir sie heute in der SJ oder der KPÖ finden, unterscheiden: Sie verstehen, „die Notwendigkeit der heranreifenden Revolution zu propagieren, ihre Unvermeidlichkeit nachzuweisen, ihren Nutzen für das Volk klarzumachen, das Proletariat und die gesamten werktätigen und ausgebeuteten Massen auf sie vorzubereiten“.
Wer den Kapitalismus stürzen will, wird in diesem Buch einen Schatz voller wertvoller Ideen für sich entdecken können.
(Funke Nr. 229/12.12.2025)