Der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern und Nikolaus Kowall haben skizziert, wie aus ihrer Sicht sozialdemokratische Industriepolitik aussehen sollte. Norbert Stern analysiert, warum dieses Programm keine Option für die Arbeiterklasse darstellt.
Der Ex-Kanzler Christian Kern und Niki Kowall, der kurzzeitig als SPÖ-Vorsitzkandidat im Rennen war, präsentierten in dem Artikel „Wie die Sozialdemokratie wirtschaften soll“ in der Tageszeitung Der Standard ihre Vorstellungen einer sozialdemokratischen Industriepolitik. Die beiden Autoren legen dar, wie aus ihrer Sicht der Wohlstand in unserer Gesellschaft erwirtschaftet wird, d.h. nach welchen Regeln die Waren und Dienstleistungen produziert werden sollen. Wir werden sehen, dass ihr Vorschlag nichts weniger ist, als die völlige Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Interessen der Profitwirtschaft.
In ihrem Wirtschaftsprogramm stützen sich Kern und Kowall – wie sie selbst schreiben – auf zwei Axiome, also auf Grundsätze, die keine weiteren Beweise benötigen (so glauben zumindest die beiden Autoren). Gemäß ihrem ersten Axiom sollen auf demokratische Weise die Rahmenbedingungen festgelegt und Vorgaben gemacht werden, so wie beispielsweise das Verbot von Verbrennern mit herkömmlichem Treibstoff. Dem Markt und dem freien Wettbewerb wird allerdings überlassen, diese Vorgaben umzusetzen. Ihr zweites Axiom besagt, dass dort wo der Markt nicht funktional ist, er durch andere Formen ersetzt werden soll. Also in Fällen, in denen kostspielige und langfristige Investitionen für Unternehmer zu unsicher erscheinen, sollen diese vom Staat übernommen werden. Als Beispiele für solche Investitionen werden Mikroprozessoren, GPS und Touchscreens angeführt, welche in staatlichen Laboren entwickelt wurden.
Als theoretische Grundlage stützen sich Kern und Kowall bei ihrer Argumentation auf den Ökonomen Joseph Schumpeter – dem Verfechter der freien Märkte, der in der Regel von Vertretern des neoliberalen Lagers zitiert wird. Die Ablehnung von Marx kommt allerdings wenig überraschend. So ist Nikolaus Kowall bekennender Anhänger des Revisionisten Eduard Bernstein und Anti-Marxist; er bezeichnet den Marxismus als religiöse Überzeugung und lehnt ihn als „Metaphysik“ ab (Vgl. Tweets vom 12.5.23).
In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Karl Marx und Friedrich Engels haben in ihren ökonomischen Schriften eine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus vorgenommen, die frei von religiösen oder unbegründeten Thesen ist. Somit unterscheiden sich Marx und Engels von Kern und Kowall, welche es nicht für notwendig erachten, Beweise für ihre Axiome vorzulegen. Tatsächlich ermöglicht die marxistische ökonomische Theorie nicht nur ein Verständnis des Kapitalismus, sondern es lässt sich mit ihr auch der völlige Utopismus des Wirtschaftsprogramms von Kern und Kowall aufzeigen:
Im Kapitalismus investieren und produzieren Unternehmen nur dann, wenn sie dadurch Profit erwirtschaften können. Andernfalls horten sie lieber ihr Vermögen oder betreiben Spekulation. Eine zentrale Erkenntnis der marxistischen Ökonomie ist nun, dass der Profit im Kapitalismus durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse in Form von unbezahlter Arbeit entsteht. Wenn Kern und Kowall vorschlagen, dass der Staat die Vorgaben macht, nach denen die Unternehmen produzieren, so müssen diese Regeln im Kapitalismus auch die Ausbeutung der Arbeiterklasse gewährleisten. Mit einem solchen Wirtschaftsprogramm würde die Sozialdemokratie daher zur Garantin der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten werden.
Fast schon naiv wirken darüber hinaus die Hoffnungen, die Kern und Kowall in den freien Markt als innovative Kraft setzen. Wie schon Lenin gezeigt hat, leben wir in einer Zeit, in der die meisten Wirtschaftsbereiche von einer Handvoll großer Konzerne dominiert werden. Hier auf Wettbewerb oder auf Innovationsdruck durch den freien Markt zu hoffen, heißt an Wunder zu glauben. Dies musste zuletzt auch Vizekanzler Kogler nach dem Scheitern des Preisgipfels für Lebensmittel feststellen. Wenn die Autoren von der „Demokratie“ als notwendigem Korrektiv zum privaten Markt sprechen, vergessen sie die einfache Tatsache: Man kann nicht kontrollieren, was einem nicht gehört. Die profitorientierte Privatwirtschaft kann keines der gegenwärtigen Probleme lösen.
Am deutlichsten wird der Bankrott des marktorientierten Wirtschaftsprogramms aber beim zweiten Axiom. Kern und Kowall unterbreiten ernsthaft den Vorschlag, dass der Staat jene Investitionen übernehmen soll, welche für die Kapitalisten zu kostspielig sind. Dass das für diese Investitionen notwendige Geld dann allerdings an anderer Stelle, wie etwa dem kurz vorm Kollaps stehenden Gesundheitssystem, fehlt, wird von den beiden aber getrost verschwiegen. Konkret bedeutet Axiom zwei nämlich, dass für den Kapitalismus relevante, aber unprofitable Investitionen von der Arbeiterklasse bezahlt werden sollen. Dies betrifft nicht nur notwendige Investitionen wie etwa in Verkehrsinfrastruktur, sondern auch in unsichere Forschungsprojekte. Führen diese Forschungsprojekte zu keinem verwertbaren Ergebnis, bleibt die Arbeiterklasse auf den Kosten sitzen. Falls doch, werden diese von den Kapitalisten in Profit umgewandelt. Ein praktisches Beispiel für diese Politik ist die Corona-Impfung, welche zuerst mit Milliarden an Steuergeld mitfinanziert wurde, nur um dann den Pharmakonzernen Milliarden-Gewinne zu ermöglichen.
Insgesamt fehlt Kern und Kowall jegliches Verständnis, um die aktuelle Krise des Kapitalismus historisch richtig einzuordnen. Sie beziehen sich auf das Programm der SPÖ aus dem Jahr 1978 als Höhepunkt des sozialdemokratischen Einflusses. Damals hatte der Kapitalismus eine 30-jährige Phase des Aufschwungs hinter sich. Die Arbeitslosigkeit war niedrig und der Lebensstandard der Arbeiterklasse konnte kontinuierlich verbessert werden. Allerdings war dieser Aufschwung lediglich unter spezifischen historischen Bedingungen möglich, die insbesondere auf die enorme Zerstörung von Konsumgütern und Produktionsanlagen während des Zweiten Weltkrieges zurückzuführen sind. Aber schon in den 1970er Jahren hat sich die Dynamik des Nachkriegsbooms erschöpft und begonnen, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Die zyklischen Krisen wurden stärker und Boom-Phasen kürzer. Der Kapitalismus wechselte von einer Phase des Aufstiegs in eine Phase des Niedergangs. Auf das Platzen der Dotcom-Blase 2000 folgte nach nur wenigen Jahren die 2008er-Krise. Trotz zunehmend verzweifelter Maßnahmen, wie der Einführung der Null-Zins-Politik durch die Notenbanken, war keine Rückkehr zu einem gesunden Wirtschaftswachstum möglich.
Mit dem stärker werdenden ökonomischen Niedergang wurden auch die Angriffe auf die Arbeiterklasse immer heftiger. Der Arbeitsdruck stieg und die Reallöhne wurden immer weiter gedrückt. Die aktuelle Rekordinflation stellt dabei nur die jüngste Krise des Kapitalismus dar. Aktuell befinden wir uns in einer Situation, in der die Konzerne Rekordprofite erzielen und viele Lohnabhängigen nicht mehr wissen, wie sie sich den täglichen Einkauf von Lebensmitteln leisten können. Dass der Kapitalismus diese Entwicklung nimmt, ist allerdings kein Zufall, sondern entspringt seiner inneren Logik. All das bestätigt nur die Korrektheit der Ideen von Marx. So steht auch eindeutig fest, dass eine Rückkehr zu einer prosperierenden Wirtschaft, wie es sie nach dem Zweiten Weltkrieg gab, ausgeschlossen ist. Um das zu hoffen, braucht es tatsächlich eine metaphysische Einstellung zur Ökonomie. Ob Kern und Kowall dies wirklich glauben, wissen wir nicht – wohl aber, dass ihr Beitrag ein Bekenntnis zu einer SPÖ ist, die in der Regierung ganz im Interesse des Kapitals agieren soll.
„Wohlstand“ für Kapitalisten und „Nachhaltigkeit“ der Profite lautet ihr Programm im Kern. Für die Arbeiterklasse stellt dieses bürgerliche Wirtschaftsprogramm keine Option dar. Wir brauchen ein Programm, das die Interessen der Lohnabhängigen verteidigt und nicht die Profite der Unternehmer!
(Funke Nr. 214/24.05.2023)