Durch Frankreich weht der Wind vom Mai 1968. ArbeiterInnen und StudentInnen kämpfen gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Der Kampf der EisenbahnerInnen bringt Dynamik in die Abwehrfront gegen die sozialen Angriffe. Daniel Ghanimi berichtet.
Gestärkt nach seinen Wahlsiegen im Mai und im Juni 2017, ging Präsident Emmanuel Macron zügig daran, die Ausbeutungsbedingungen für Frankreichs UnternehmerInnen zu verbessern. Seine Reformen zielen darauf ab, Entlassungen zu erleichtern, Arbeitsrechte abzubauen, Löhne zu kürzen, im Bildungs- und Sozialbereich einzusparen, massiven Druck auf Arbeitslose und SozialhilfebezieherInnen auszuüben, das Asylrecht zu verschärfen und die Stellung der Gewerkschaften einzuschränken.
Monatelang schien die französische Arbeiterbewegung angesichts der schnell vorgetragenen Angriffe wie paralysiert. Als der Präsident sich aber an den EisenbahnerInnen vergriff, kippte seine Fortune vorerst ins Gegenteil. Die EisenbahnerInnen gehören zu den kämpferischsten und bewusstesten Teilen der französischen Arbeiterklasse und wollen sich ihre „Privilegien“ nicht so einfach nehmen lassen. Sie stellen sich auch klar gegen eine Zerschlagung und Privatisierung des Unternehmens. Der Kampf der EisenbahnerInnen wird zur Nagelprobe von Macrons Präsidentschaft. Die momentane Streiktaktik, die am 3. April begonnen wurde, zielt darauf ab, in 36 zweitägigen Arbeitsniederlegungen über drei Monate hinweg das Land lahmzulegen. Eine Minderheit der EisenbahnerInnen fordert einen anhaltenden Streik bis zum Sieg über die Regierung.
Dieser Arbeitskampf hat inzwischen zu einer breiten Mobilisierung der ganzen Arbeiterklasse geführt. ArbeiterInnen der Air France, der Post, aus den Krankenhäusern, aus der Pflege, dem öffentlichen Nahverkehr und aus vielen anderen Bereichen führen einen gemeinsamen Kampf gegen den Generalangriff der französischen Regierung auf ihren Lebensstandard. Macron und seine MinisterInnen sind fest entschlossen, keine Zugeständnisse zu machen. Ihr Ziel ist es, mit einem Sieg über die EisenbahnerInnen alle ArbeiterInnen, StudentInnen, PensionistInnen und Arbeitslose, die sich ihnen anschließen, zu demoralisieren.
Der Paradeliberale, dessen Politik mit jener der Regierung Kurz deckungsgleich ist, bezeichnete die Streikenden am 19. April als: „Leute, die gegen alles und alle sind, die gegen die Französische Republik stehen. Diese Leute wollen nichts, sie wollen nur protestieren und das Land lahmlegen. Ich fordere sie auf, den Nicht-Streikenden, die an die Werte des Arbeitens festhalten, Respekt zu zollen.“ Der liberale „Economist“ fragt: „Wird er sich den Streikenden entgegenstellen oder seine Reformen einpacken?“ Macron probiert momentan Ersteres.
Die bürgerlichen Medien Frankreichs stehen fest hinter Macron, der schon während des Wahlkampfes als „vernünftige Alternative“ zur rechtsextremen Marine Le Pen und einzige Chance Frankreichs präsentiert wurde. Macron ist jedoch der unbeliebteste Präsident in der Geschichte Frankreichs.
Die breite Solidarität mit den „Cheminots“ zeigt sich unter anderem dadurch, dass Streikgelder für die EisenbahnerInnen gesammelt werden. Doch der beste Weg, diesen Kampf zu unterstützen, ist die gemeinsame Mobilisierung der ArbeiterInnen und der Jugend gegen die Regierung.
Auch an den Schulen und Universitäten herrscht Unruhe. Die Jugend begehrt gegen die weitere Einschränkung des Hochschulzugangs auf. Ende März wurden innerhalb weniger Tage an Universitäten Versammlungen abgehalten, Streikposten aufgestellt und Hörsäle besetzt. Vier Universitäten sind seither komplett durch die Studierenden lahmgelegt, ein weiteres dutzend teilweise. Verbindungen zur Arbeiterbewegung wurden bereits aufgebaut. Die französische Regierung reagierte mit Polizeigewalt und ließ es zu, dass vermummte faschistische Schlägertrupps an der Universität Montpellier auf streikende StudentInnen einprügelten; die Pariser Uni Tolbiac wurde am 20. April von der Polizei gestürmt. An der Universität Nanterre wurden bei der gewaltsamen Auflösung einer friedlichen Versammlung sieben Leute von Einheiten der Bereitschaftspolizei CRS festgenommen, darunter zwei Mitglieder unserer französischen Schwesterorganisation Révolution.
Die französische Bourgeoisie will Stärke demonstrieren, die Streikenden einschüchtern, eine Verbindung zwischen der kämpfenden Jugend und der Arbeiterklasse verhindern. Über allem schwebt wie ein Damoklesschwert die Erfahrung des Mai 1968: ein tagelanger revolutionärer Generalstreik sowie Besetzungen der Jugend und der Arbeiterklasse.
Die Ähnlichkeit der Situationen ist frappant: Unruhe in der Jugend und den Betrieben, die sich in Einzelkämpfen manifestiert. Der Generalstreik vom 13. Mai 1968 galvanisierte dann die Kämpfe in einen Aufstand. Die Regierung will auf jeden Fall ein solches Szenario verhindern, darin liegt der Sinn der Einzelprovokationen und Repression.
Die wichtigste Hilfe bekommt Macron aus den Gewerkschaftsführungen. Diese verschließen sich bisher dem deutlich vernehmbaren Ruf nach einem Generalstreik. Stattdessen greift die kämpferischste Großgewerkschaft CGT bisher zu ihrer bekannten – und in den letzten Jahren gescheiterten – Strategie des „Aktionstages“ mit Streiks und Demonstrationen. Zuletzt wurde ein solcher am 19. April begangen – mehr als zwei Wochen nach Beginn des Kampfes der EisenbahnerInnen. Die CGT-Führung kritisierte dabei nur einzelne Maßnahmen der Politik Macrons. Im Grunde steckt hinter dieser Taktik die Hoffnung auf „Verhandlungserfolge“ mit der Regierung. Unter diesem Licht muss man auch die Strategie der EisenbahnerInnen sehen: Dieser lang ausgelegte Arbeitskampf soll der CGT-Führung erlauben, sich an den Verhandlungstisch mit der Regierung zu streiken. Diese politische Orientierung und Taktik schwächt die Bewegung und rang der Regierung und den KapitalistInnen bisher höchstens zynische Kommentare ab.
Die revolutionären MarxistInnen Frankreichs argumentieren für einen Generalstreik, zum Sturz der Regierung und zum Kampf um den Sozialismus in Frankreich und weltweit. Dafür müssen die vielen Einzelkämpfe zu einem gemeinsamen Kampf der gesamten Arbeiterklasse und der StudentInnen vereint werden. Jean-Luc Mélenchon, der unbestrittene Führer der Linken, hat für den 5. Mai zu einer Großdemonstration aufgerufen. Diese Demo, die die künstliche Trennung von gewerkschaftlichem und politischem Kampf aufbricht, wird die Dynamik des Widerstandes verstärken und dem Zorn auf die Regierung einen allgemeineren Ausdruck geben. Ein Schritt vorwärts hin zu einer Bewegung, die Macron und seine Regierung stürzen kann!
Dieser Artikel erschien erstmals am 24.4.2018 in der Funke-Ausgabe Nr. 163