Jüdischer Antizionismus-Kongress: Nötige Debatten über den Weg vorwärts

Zwischen 13.-15. Juni tagte der erste jüdische Antizionismus-Kongress in Wien, ein quasi-Folgeevent des letztjährigen Palästina-Kongresses. Organisatorisch ein großer Erfolg, bleiben inhaltlich die brennenden Fragen der Bewegung eine klaffende Wunde. Von Yola Kipcak.
Die Medien schwiegen den Kongress tot, trotz etlicher prominenter und international renommierter Diskutanten – jüdische Stimmen gegen den Völkermord passen nicht zu ihren Antisemitismus-Lügen über die Palästina-Bewegung. Die RKP unterstützte den Kongress öffentlich und praktisch. Gegen jede Spaltung in der Praxis, gemeinsam gegen Repression und für die Befreiung zu kämpfen ist die notwendige Vorbedingung für eine solidarische Debatte. Über 1000 Tickets wurden verkauft. Die Teilnehmer, darunter viel internationales Publikum, folgten 7 Paneldiskussionen, 2 Open-Mic Sessions und 2 interaktiven Workshopeinheiten.
Was ist der Ursprung des Völkermords und der jahrzehntelangen Unterdrückung? Wie kann Palästina frei sein? Was ist der Weg vorwärts für die Bewegung? Diese Fragen waren in fast allen Diskussionen präsent. Doch die Antworten sind geprägt vom jahrzehntelangen Versagen der Linken und boten keinen Ausweg.
Die Zweistaatenlösung ist mit dem Völkermord an den Palästinensern offensichtlich das Papier nicht Wert, auf dem sie geschrieben wurde und war auch zuvor immer nur ein imperialistischer Deal, der die Unterdrückung fortschreibt und dementsprechend von niemandem am Podium verteidigt wurde.
Die überwiegende Mehrheit der Panellisten argumentierten für einen demokratischen, (kapitalistischen) palästinensischen Staat (one democratic state; oder ODS) mit gleichen Rechten für alle Völker.
Doch auch diese Perspektive ist in einer tiefen Krise. Die palästinensische Ärztin und Autorin Ghada Karmi fasste die Probleme ihres eigenen Vorschlags so: Der Westen kann das Verschwinden Israels nicht akzeptieren und unterstützt es weiterhin; die jüdischen Israelis leben real dort, die Lösung kann nicht umgekehrt eine Vertreibung sein, doch „ODS“ oder nur die Vorstellung des Zusammenlebens ist unbeliebt.
Fragen aus dem Publikum fanden noch einige weitere gewichtige Probleme: Die arabischen Regime kollaborieren mit dem Westen, „Die ganze Gegend ist zerstört, wir reden darüber seit 50 Jahren, wir brauchen praktische, nicht intellektuelle Ideen“, das internationale Recht ist zahnlos, wie kann das Recht auf Rückkehr realistisch durchgesetzt werden, usw.
Hierauf gab es keine Antworten – letztendlich wurde wiederholt auf einen Zusammenbruch Israels aufgrund der eigenen Widersprüche gehofft.
„Der Zusammenbruch ist wie eine Sanduhr. Er beginnt langsam, doch das Ende wird sehr schnell sein. Deshalb ist es wichtig, dann mit Ideen bereitzustehen.“ (Ilan Pappé)
Die Idee des ODS entspricht der stalinistischen Etappentheorie, wonach eine nationale Befreiung innerhalb des Kapitalismus möglich und anzustreben ist. Aus dieser grundsätzlich falschen Analyse folgt eine Strategie, nach der mit verschiedenen bürgerlichen Regierungen, Imperialisten, Konzernen, u.a. ein Abkommen und ein Übereinkommen gesucht wird – doch die Massen und die Arbeiterklasse eine untergeordnete Rolle spielen, entweder außen vorgelassen oder direkt verraten werden.
Diese falsche Strategie hat erst zur jetzigen Barbarei geführt. In Europa sorgten Stalinisten und Sozialdemokratie nach dem zweiten Weltkrieg gemeinsam dafür, dass die revolutionäre Welle, die über den Kontinent schwappte, verraten wurde und kollaborierten mit den Imperialisten. Sie hielten die Kapitalisten und alten Eliten an der Macht, die den Aufstieg des Faschismus ja erst möglich gemacht hatten. Das verhinderte eine wirkliche Entnazifizierung und damit eine massenhafte Rückkehr und Reintegration der Juden in die Gesellschaft, was die Staatsgründung Israels erst möglich machte. In weiterer Folge führte auch im Befreiungskampf der Palästinenser die Ausrichtung auf eine Lösung im Kapitalismus zu kontinuierlichen Niederlagen und versuchten Deals – was dazu führte, dass die früher weit verbreiteten linken und kommunistischen Ideen in Palästina völlig marginalisiert wurden. So wurde die inspirierende Massenbewegung der ersten Intifada von der PLO verraten und mündete in den Oslo-Abkommen und der Zweistaaten-„Lösung“.
Auch am Kongress-Panel fand der Frust mit den alten Ideen Ausdruck, ohne jedoch eine Alternative zu präsentieren. Dies drückte sich vor allem in identitätspolitischen und postmodernen Beiträgen aus.
Am klarsten gefasst wurde diese Richtung von dem palästinensischen Intellektuellen Dr. Ramzy Baroud. Er kritisierte jegliche Debatten über mögliche Lösungen als fehlplatziert, als intellektuelle Spielereien für Paris und Wien.
Statt nachzudenken, was man tun könne, solle man einfach irgendwas tun – allein die Frage nach dem „was“ und „wie“ sei Ausdruck von Privileg. „Der Moment, den wir gebraucht haben, um zu reflektieren, hätte vielleicht genutzt werden sollen, um etwas zu tun.“
Zusammengefasst lautet die Perspektive hier: Wir haben zwar keine Perspektive, doch sie wird in Gaza selbst liegen. Die internationale Bewegung ist in diesem Sinne zu einem solidarischen Accessoire degradiert. Als Methode wurde letztlich nur der bereits stattfindende bewaffnete Widerstand genannt, außerhalb Palästinas sei alles „fine“, was gemacht würde.
Auf Publikumsfragen, ob es in den nächsten 5-10 Jahren eine klare Führung der Bewegung abseits von BDS-Ideen geben könne, ob eine neue Intifada möglich sei, vielleicht gar von außerhalb Palästinas, gab es keine Antwort. Alle Redner übergingen leider auch mehrmalige Nachfragen zu Antikapitalismus und Sozialismus.
In dieser Abwesenheit einer klaren Perspektive, eines klaren Zieles ergibt sich auch die Verwirrung über die richtigen Methoden, mit denen die Bewegung vorwärts gebracht werden kann. Neben der dominierenden Perspektive des Drucks auf internationale Institutionen wurden so Aufrufe nach direkter Aktion anstelle von Massendemonstrationen (Ronnie Barkan) und die verschiedensten Boykottversuche und Sanktionsappelle (BDS) ins Feld geführt.
Die RKP argumentierte bereits in vielen Texten und auch am Kongress in zwei Wortbeiträgen, dass die Befreiung Palästinas NUR mit dem Sturz des Kapitalismus möglich sein wird. Nicht das Hoffen auf den Zusammenbruch Israels und auch nicht die reine Spontanität der Massen alleine wird genügen, um dieses monströse System zu beseitigen. Die Revolution ist ein Akt der Massen und der Arbeiterklasse. Diese Aufgabe ist eine internationale und beschränkt sich nicht nur auf Gaza. Und sie braucht Ideen, Klarheit und Vorbereitung.
Wir begegnen dieser Aufgabe mit absoluter Ernsthaftigkeit. Daher begrüßen wir jede inhaltliche Debatte, wie jene am Kongress – und lassen unseren Worten auch Taten folgen.
(Funke Nr. 236/28.08.2025)