Nach dem Ersten Weltkrieg fegte eine Welle von Revolutionen durch Europa. Abgesehen von Russland eroberte die Arbeiterklasse aber in keinem Land die Macht. Die Fehler der jungen Kommunistischen Parteien nahm Lenin im Jahr 1920 (in Vorbereitung des 2. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale) zum Anlass für eine Kritik am „Linksradikalismus“, die heute genauso aktuell ist wie zum Zeitpunkt ihres Erscheinens. Von Willy Hämmerle.
Die Russische Revolution von 1917 konnte erfolgreich sein, weil die bolschewistische Partei unter Lenin es geschafft hat, die Massen in Russland für ein revolutionäres Programm (zusammengefasst in der Losung: „Alle Macht den Räten!“) zu gewinnen. Das war die Voraussetzung dafür, dass die in den Räten (den ‚Sowjets‘) organisierte Arbeiterklasse im Oktober die Macht übernehmen und sich an die Spitze der Gesellschaft stellen konnte.
Diese Revolution inspirierte Massenbewegungen auf der ganzen Welt. Schon im Jänner 1918 traten die Arbeiter in Österreich massenhaft in den Streik und bis zum Jahresende fegte der revolutionäre Sturm die Donaumonarchie und den deutschen Kaiser hinweg. Die Arbeiter begannen mit ihren Herrschenden „Russisch zu reden“ und bildeten – ganz nach dem russischen Vorbild – Räte, in denen sie sich selbst organisierten.
Und ganz wie in Russland waren die revolutionären Kommunisten in diesen Räten zunächst in der Minderheit. Die Massen legten ihr Vertrauen in die alte Führung – in die reformistische Sozialdemokratie, die sich sogleich den Bürgerlichen unterordnete. Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die sich über 15 Jahre hinweg als revolutionäre Kampfpartei formiert hatten, waren die Kommunisten im Westen unvorbereitet und schlecht organisiert. Mit Ausbruch der Revolution vollzogen diese (zumeist sehr jungen) Kräfte den Bruch mit den Sozialdemokraten und gründeten nach dem Vorbild der Bolschewiki Ende 1918 Kommunistische Parteien.
Während die neue KP in Österreich völlig isoliert von der Arbeiterschaft war, versammelten die deutschen Kommunisten am Anfang zwar eine kleine Minderheit, aber doch eine kämpferische Schicht der Arbeiterklasse hinter sich. Schon der Gründungskongress der KPD war geprägt von revolutionärer Ungeduld und beschloss – entgegen der Warnungen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – die Wahlen zur Nationalversammlung und die reformistischen Gewerkschaften zu boykottieren, obwohl die Mehrheit der Arbeiterklasse genau auf diese orientierte. Die „Linken“ glaubten, angetrieben von revolutionärer Energie und dem leuchtenden Beispiel Sowjetrusslands, dass es ausreiche, die Revolution und den Bruch mit den Reformisten einfach zu verkünden, um den Kapitalismus zu stürzen. Lenin fasst diesen Fehler im „Linken Radikalismus“ so:
„Die proletarische Avantgarde ist ideologisch gewonnen. Aber von hier bis zum Sieg ist es noch ziemlich weit. Mit der Avantgarde allein kann man nicht siegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen, solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht die Position eingenommen haben, dass sie die Avantgarde entweder direkt unterstützen oder zumindest wohlwollende Neutralität ihr gegenüber üben und dem Gegner der Avantgarde jederlei Unterstützung versagen, wäre nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen.“
Dieses „grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen“ wirft die zentrale Frage auf: Wie gewinnt man die Massen für die Revolution? Ihr widmet sich Lenin in seinem Buch, in dem er die „ultralinken“ Fehler benennt und ihnen die Erfahrungen der Bolschewiki entgegenstellt. Durch das ganze Buch zieht sich ein zentraler Gedanke: Die Kommunisten müssen dort arbeiten, wo die Massen sind, um dort die reformistischen Führer in der Praxis herauszufordern und die Massen so von der Richtigkeit des revolutionären Programms zu überzeugen. Dieses Konzept wird ein Jahr später am 3. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (unter dem Motto „Heran an die Massen!“) vertieft und wurde dort unter dem Namen „Einheitsfront“ zur Leitlinie der kommunistischen Bewegung.
In Europa stellt sich die Machtfrage zum jetzigen Zeitpunkt nicht unmittelbar. Heute beginnen die Arbeiter erst, sich zu bewegen, und wir stehen am Anfang einer Periode, in der der Klassenkampf explodieren wird – in Österreich und international. Darauf müssen wir uns vorbereiten, indem wir unsere Kräfte sammeln, die kommunistische Organisation aufbauen und uns ein solides theoretisches Fundament erarbeiten. Ohne diese Grundlage werden die Revolutionäre von heute dazu verdammt sein, in den Kämpfen von morgen nur an der Seitenlinie zu stehen.
Den jungen Kommunisten von 1920 richtete Lenin aus:
„Die ‚linken‘ Kommunisten sagen über uns Bolschewiki sehr viel Gutes. Manchmal möchte man sagen: Wenn sie uns doch weniger loben, wenn sie doch in die Taktik der Bolschewiki besser eindringen, sich besser mit ihr vertraut machen wollten!“
Was für die Kommunisten von 1920 galt, gilt umso mehr für die Kommunisten von heute! Unsere Genossen mussten sich damals im Sturm der Ereignisse zurechtfinden, wir jedoch haben (noch!) Zeit, uns theoretisch auf die kommenden Klassenkämpfe vorzubereiten.
(Funke Nr. 221/27.02.2024)
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