Was ist Stalinismus?

Unter Stalinismus verstehen wir sowohl eine Gesellschaftsform, die sich als Sozialismus ausgab, ohne es zu sein, als auch ihre Herrschaftsideologie, die sich „Marxismus-Leninismus“ („ML“) nennt. Ein kurzer Überblick. Von Sandro Tsipouras.
Die Bolschewiki verstanden die sozialistische Revolution von 1917 als Auftakt der Weltrevolution und gründeten 1919 die Kommunistische Internationale (Komintern). In einer ganzen Reihe von Ländern kam es bis Mitte der 1920er Jahre zu Revolutionen, die allerdings am Verrat der sozialdemokratischen Führungen und später auch an der Unfähigkeit der stalinistischen Parteien scheiterten. So blieb die Revolution in einem rückständigen Land isoliert. Die Sowjetunion wurde so zu einem „degenerierten Arbeiterstaat“, der sich zwar auf eine Planwirtschaft stützte und die Kapitalistenklasse beseitigte, aber von einer privilegierten Minderheit, der stalinistischen Bürokratie, autoritär beherrscht wurde und ein Hindernis für den Kommunismus war.
Die Herrschaft einer Minderheit erfordert eine Ideologie, die deren Privilegien rechtfertigt. Die Sowjetunion einer solchen Ideologie zu unterwerfen, gelang nur, weil Josef Stalin, ausgestattet mit der Autorität eines alten Mitkämpfers von Lenin, sich an die Spitze der Bürokratie stellte. Mit der Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ und der Absage an die Weltrevolution begann 1924 die Durchsetzung der „ML“-Ideologie („Marxismus-Leninismus“), die nichts mit den wissenschaftlichen Methoden von Marx und Lenin zu tun hat. „ML“ ist dabei kein geschlossenes Theoriegebäude, sondern ein Sammelsurium an Rechtfertigungen für den jeweiligen praktischen Kurs der Parteiführung. Unter dem Namen „Trotzkismus“ wurde die marxistische Theorie zum Todfeind des „ML“ erklärt. Sein Namensgeber Trotzki, mit Lenin der zentrale Führer der Oktoberrevolution, war der gefährlichste politische Gegner Stalins. Mit seiner Analyse des Stalinismus lieferte er das theoretische Werkzeug, die Degeneration der Russischen Revolution in die Bürokratieherrschaft und der daraus folgenden Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion zu verstehen.
Über die Komintern wurden die Kommunistischen Parteien weltweit dieser Ideologie unterworfen. In der Sowjetunion und im Ausland betrieb die stalinistische Führung eine zunehmend hektische, kurzsichtige Politik. Orientierungslosigkeit führte zu taktischen Fehlern, diese zu neuen ideologischen Anpassungen und diese zu noch größerer Orientierungslosigkeit. Mit jeder Kehrtwende – von der Theorie der „Dritten Periode“, mit der die Sozialdemokratie (nicht der Faschismus) als Hauptfeind erklärt wurde, bis hin zur Unterordnung der Partei unter die „demokratische Bourgeoisie“ („Volksfront“) – wurde die „ML“-Ideologie ständig den Interessen der Bürokratie im Kreml angepasst. Die Kommunistischen Parteien wurden völlig unfähig gemacht, die Aufgaben einer revolutionären Führung zu erfüllen oder auch nur zu erkennen. Ohne die marxistische Theorie hörte der Stalinismus auf, sich politisch vom Reformismus zu unterscheiden. Die Komintern war überflüssig geworden und wurde 1943 auch formell aufgelöst.
Nach dem Krieg zerfaserte sich die „ML“-Ideologie in zahllose nationale Varianten, die alle den Internationalismus aufgaben, mit der Bourgeoisie paktierten („Volksfront“) und die sozialistische Revolution durch erfundene Zwischenetappen („Volksdemokratie“ u. ä.) verzögerten. So vollzog sich etwa der Sieg der kubanischen Revolution 1959 gegen den Willen der Kommunistischen Partei Kubas. Mit der politischen Autorität des Sieges der Roten Armee über die Nazis und der Sowjetunion im Rücken lag es an den Stalinisten, den reformistischen Verrat gerade dann durchzuführen, wenn die Sozialdemokratie dazu nicht mehr in der Lage war. So 1968 in Frankreich, 1974 in Portugal und Spanien und bei vielen weiteren Gelegenheiten.
Mit dem Untergang der Sowjetunion 1990 setzte die Todeskrise der stalinistischen Parteien ein. Die Mehrheit kehrte der Idee des Kommunismus endgültig den Rücken und verwandelte die eigenen Parteien in eine Spielart der Sozialdemokratie. Da die KPen schon die vergangenen Jahrzehnte ausnahmslos eine reformistische Praxis verfolgt hatten, war dies nur die konsequente Fortsetzung des bisherigen Kurses. Nur eine Minderheit versteht sich weiterhin in der Tradition des „Marxismus-Leninismus“, allen voran die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die über eine Verankerung in der Arbeiterklasse Griechenlands verfügt. Sie begann sich zwar von der Volksfronttaktik und der Etappentheorie zu distanzieren und ihre eigene Geschichte und die der Sowjetunion kritisch zu beleuchten. Sie hat auch eine internationalistische Position zum Ukrainekrieg bezogen, während andere (Ex-)Stalinisten entweder den Westen oder Russland unterstützen. In der Praxis ist sie aber noch in der reformistischen Logik des Stalinismus gefangen.
Die kommunistische Bewegung kann nur dann eine revolutionäre Kraft sein, wenn sie bewusst mit den Lügen des Stalinismus bricht und sich die marxistische Methode aneignet, die eine Erklärung bietet, was war, was ist, was kommt, und was zu tun ist.
(Funke Nr. 232/24.03.2025)