„Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ meinte der argentinisch-kubanische Arzt und Revolutionär Ernesto Che Guevara. Von einem zärtlichen und solidarischen Miteinander ist die internationale Gesellschaft im Moment weit entfernt. Das soziale Phänomen der menschlichen Entfremdung liegt in der kapitalistischen Produktionsweise selbst verborgen. Der Versuch einer Analyse von Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Lis Mandl.
Das Selbstverständnis, einer Gemeinschaft anzugehören und diese zu schützen, hängt mit der Entwicklung der Art Mensch zusammen. Menschen müssen kooperieren, um zu überleben, um sich zu entwickeln, um überhaupt Mensch zu sein. In einem bekannten Lied aus der Arbeiterbewegung heißt es: „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt, wir sind der Sämann, die Saat und das Feld…“ Darin kommen drei Inhalte zum Ausdruck: Die Arbeit als verbindender Organisator, der Kampf um eine bessere Welt und das Bewusstsein, ein handlungsfähiges Kollektiv zu sein.
Der gemeinsame Versuch, für andere Lebensbedingungen zu kämpfen, beinhaltet mehrere Ebenen. Zunächst bedeutete es das Wissen, dass die gegebene Situation nicht unveränderbar (natürlich, gottgewollt…) ist und die eigene Handlungskompetenz wahrgenommen wird. Der Wille nach Veränderung oder Lösung eines Problems wird zunächst von den eigenen Bedürfnissen abgeleitet, führt zu einem kollektiven Austausch und dadurch zu einem neuen Verständnis eines gesellschaftlichen „Wir“. So entstehen nicht nur Streiks und neue Formen der Entscheidungsfindung wie Räte, sondern auch ein neues, solidarisches Miteinander.
Als Prolet zum Schimpfwort wurde
Politisch gebündelt wurde der Kampf für eine bessere Welt in Österreich vor allem in den verschiedenen sozialdemokratischen Organisationen – und wurde dort im Lauf der Jahrzehnte wieder aufgegeben. Der Wendepunkt war die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten im Jahr 1914, sie bedeutete die politische Kapitulation vor den Interessen der eigenen Herrschenden. Gesellschaftsverändernd bitte nur mehr im Rahmen der kapitalistischen Ordnung und ein kollektives Auftreten ausschließlich nach Wunsch und Plan einer Parteibürokratie, die sich unter die „eigenen“ Kapitalbesitzer und über die ArbeiterInnenbewegung erhoben hat.
Die politische Abkehr von der Idee einer gemeinsamen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft hat(te) große Auswirkungen auf das Wir-Bewusstsein der Menschen. Die Entdemokratisierung im Zuge der Rechtsentwicklung der letzten Jahrzehnte innerhalb der Sozialdemokratie hat zur Folge, dass Betroffene als ExpertInnen entmündigt werden (StellvertreterInnenpolitik) und sich als ZuschauerInnen für ihr eigenes Leben begreifen. Das Mitdenken, oder sogar sich um andere zu kümmern, wird bestenfalls als liebenswerter bis naiv-doofer Spleen betrachtet, der in der „Realpolitik“ keinen Platz hat. Aufgrund der Erfahrungen in den traditionellen, linken Strukturen wurde das organisierte Kollektiv (sehr zur Freude der Bürgerlichen) von vielen als überholt und undemokratisch gebrandmarkt zu Grabe getragen. No party, no cry! Und damit wurde ein großes linkes Vakuum geschaffen.
Ich-AG selbst optimiert
Das Unwohlsein mit der jetzigen Situation hat heute alle Generationen in allen Ländern ergriffen. Klimakrise, Gesundheitskrise, Krieg und Armut hinterlassen tiefe gesellschaftliche Spuren. Die nicht nur in sozialen Medien vorherrschende Propagierung der „Selbstoptimierung“ und „Selbstliebe“ hat wenig mit der erstrebenswerten Selbstfürsorge im psychotherapeutischen Sinn zu tun. Hinter diesen Slogans steckt ein hochideologisches Konzept, nach dem jeder unabhängig von der gesellschaftlichen Situation zu Wohlbefinden und Glück kommen kann. Man muss sich nur genügend anstrengen, was leisten! Überspitzt formuliert, haben demnach Frauen, Armutsgefährdete, Schutzsuchende und Menschen mit Behinderungen und/oder Erkrankungen sich nicht genügend angestrengt und müssen demnach ihr Schicksal selbst verantworten.
Gesellschaftliche Verantwortung – eine Schwäche! Die heutzutage weit verbreitete Entsolidarisierung findet darin ihren ideologischen Ursprung. Materiell fußt sie auf die Prekarisierung der Arbeitswelt. Diese wiederum steht im Gegensatz zur Internationalisierung der Wirtschaft, was die globale Penetration des Kapitals in jeden geographischen Winkel der Welt und jede menschliche Beziehung bedeutet. Gerade während der Pandemie aber auch jetzt durch den Krieg in der Ukraine zeigt sich, wie verbunden die Welt ist. Und wie ausgeliefert die Menschheit dem Ringen der konkurrierenden Kapitalgruppen um Einflusszonen, Macht und Profite ist.
Völkisch vereinnahmt
Die von Mitte-Rechts aufgezeigte Lösung in Gestalt einer Gesellschaft der „Anständigen“, „Fleißigen“, „Gesunden“ (beliebig austauschbar) befriedigt zwar das menschliche Bedürfnis nach einer Gemeinschaft, andererseits leistet sie aber auch Vorschub für die Entmenschlichung der „Anderen“. Zwei Menschenleben sind nicht mehr gleich viel wert. Der „Die Roten bleiben G‘sindl“-Ausspruch von LH Mikl-Leitner ist lediglich ein besonders plumper Ausdruck eines politischen (schwarz-türkisen) Gesellschaftsbildes.
Dieses politisch konstruierte und instrumentalisierte „Wir“ ist vor allem eine Gemeinschaft der Ausgrenzung. Dabei geht es nicht darum, Gemeinsames zu schaffen und zu teilen, sondern vor allem darum, das Bestehende vor einer angeblichen Bedrohung zu verteidigen – mit der entsprechenden Kriegsrhetorik. Eine Verrohung des Miteinanders ist die gesellschaftliche Konsequenz und die Vorbereitung für kriegerische Auseinandersetzungen. Doch in den Hintergrund tritt dabei, wer von der jetzigen Situation profitiert, wodurch sie erzeugt wird, aber auch wie sie verändert werden kann.
Gut bleiben und gesund kämpfen!
Allerdings gibt es auch Gegentrends. Sei es die Klimabewegung, die Arbeitskämpfe im Sozial- und Gesundheitsbereich, die seit 2015 im Untergrund flackernde, aber zutiefst berührende Vernetzung für Schutzsuchende und die noch zart vorhandene Anti-Kriegsstimmung. „Gut sein ist die Hauptsache! Einfach und schlicht gut sein, das löst und bindet alles und ist besser als Klugheit und Rechthaberei“, meinte Rosa Luxemburg in einem sehr persönlichen Brief an einen Freund an der Front. Und „gut sein“ bedeutet auch 2022 den Wunsch nach einer solidarischen Gemeinschaft aufrecht zu halten und in ein politisches Kollektiv zu formen. Das beginnt heute konkret beim gemeinsamen Kampf um bessere Gehälter und mehr Personal im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, dem Aufbau einer Anti-Kriegsbewegung und reicht bis zur Kontrolle über den wirtschaftlichen Reichtum und die Schaffung eines menschenwürdigen Umfelds für ein gemeinsames Sein.
(Funke Nr. 204/31.5.2022)