Bisher haben wir in unserer Reihe vor allem die Produktion von Waren im Kapitalismus betrachtet. In diesem Teil beschäftigen wir uns damit, wie durch Handel, Bankgeschäfte und Spekulation Geld verdient wird. Von Sandro Tsipouras.
In den bisherigen Teilen unserer Reihe haben wir herausgearbeitet, dass Austausch, Verkauf usw. niemals die Größe des Wertes, der in einer Ware steckt, verändert. Profit entsteht für eine/n industriellen KapitalistIn in der Produktion. Indem ArbeiterInnen an einer Ware arbeiten, fügen sie ihr Mehrwert hinzu, der durch Verkauf realisiert werden kann, sofern es KäuferInnen gibt.
Kaufmännisches Kapital: Der Handel
Ganz anders stellt sich die Sache für einen Händler dar. „Bei dem Kaufmannskapital hingegen haben wir es mit einem Kapital zu tun, das am Profit teilnimmt, ohne an der Produktion teilzunehmen.“ (Marx: Das Kapital. Dritter Band. MEW 25, 295) Der Profit, den Hofer, Spar und Billa machen, entsteht ganz einfach nur dadurch, dass sie die Waren billig einkaufen und teuer verkaufen. „Prima facie [auf den ersten Blick] erscheint der reine, unabhängige Handelsprofit unmöglich, solange Produkte zu ihren Werten verkauft werden. Wohlfeil [billig] kaufen, um teuer zu verkaufen, ist das Gesetz des Handels. Also nicht der Austausch von Äquivalenten.“ (MEW 25, 342) Wie passt das zu unserer bisherigen Theorie?
Um das zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurück gehen. Wir erklärten im 4. Teil unserer Reihe, dass die Waren von den Industriellen nicht zu ihren Werten verkauft werden, sondern zu ihren Produktionspreisen. Darin enthalten ist der Preis der Produktionsmittel wie Maschinen, Rohmaterialien etc. (genannt „konstantes Kapital“) und Löhne (genannt „variables Kapital“) sowie außerdem der Profit, auf den die Industriellen ein Recht zu haben glauben. Dieser misst sich am gesellschaftlichen Durchschnittsprofit. Und hier liegt die Lösung: Der Durchschnittsprofit sinkt durch die Existenz des kaufmännischen Kapitals.
Aus dem Profit des kaufmännischen Kapitals, dem sogenannten kommerziellen Profit, werden dann wiederum die Angestellten des Einzel- und Großhandels bezahlt. Allgemein lässt sich hier festhalten, dass jedes Einkommen in der kapitalistischen Gesellschaft auf eine solche Weise von der produktiven Arbeit in Industrie und Landwirtschaft abgeleitet ist. Die produktive, warenproduzierende Arbeit ist der einzige Ort in der Gesellschaft, an dem Mehrwert entsteht. Doch Waren finden ihren Weg nicht automatisch zu potentiellen KundInnen. Der Weg dieses Mehrwerts aus Industrie und Landwirtschaft in den Rest der Gesellschaft führt, wie wir gesehen haben, notwendigerweise über das kaufmännische Kapital.
Zinstragendes Kapital: Die Banken
Das zinstragende Kapital ist das Kapital der Banken. Man kann es als Sonderfall des kaufmännischen Kapitals auffassen, mit der Besonderheit, dass die Ware, die hier gehandelt wird, Geld ist. „Geld … kann auf Grundlage der kapitalistischen Produktion in Kapital verwandelt werden … Es produziert Profit, d. h. es befähigt den Kapitalisten, ein bestimmtes Quantum unbezahlter Arbeit, Mehrprodukt und Mehrwert, aus den Arbeitern herauszuziehn und sich anzueignen. Damit erhält es, außer dem Gebrauchswert, den es als Geld besitzt, einen zusätzlichen Gebrauchswert, nämlich den, als Kapital zu fungieren. In dieser Eigenschaft als mögliches Kapital, als Mittel zur Produktion des Profits, wird es Ware.“ (MEW 25, 350f.).
Wenn man mit der Ware Geld handelt, und zwar mit Geld als möglichem Kapital, dann braucht es sich nicht mehr, wie im kaufmännischen Kapital, in Ware zu verwandeln. Eine Bankerin leiht einem industriellen Kapitalisten Geld, das dieser als Kapital einsetzt, unter der Bedingung, dass er ihr einen Teil des damit angeeigneten Mehrwerts abgibt. Geld verwandelt sich damit wie von Zauberhand in mehr Geld. „Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen. Und als solches zinstragendes Ding verkauft der Geldverleiher sein Geld … Im zinstragenden Kapital ist die Bewegung des Kapitals ins Kurze zusammengezogen; der vermittelnde Prozeß ist weggelassen, und so ist ein Kapital = 1000 fixiert als ein Ding, das an sich = 1000 ist, und in einer gewissen Periode sich in 1100 verwandelt, wie der Wein im Keller nach einer gewissen Zeit seinen Gebrauchswert verbessert.“ (MEW 25, 405f.)
Im Zins ist jede Spur des Produktionsprozesses aufgelöst. Man erhält einen Kredit und muss dafür bezahlen, egal wie. Man legt Geld an und bekommt Rendite dafür, egal wie. So ermöglicht das Kreditwesen die Bildung von Aktiengesellschaften, in denen der Profit „rein die Form des Zinses annimmt“ (MEW 25, 453), in denen das Kapital vielen verschiedenen Investoren gehört, in denen die reale Leitung der Betriebe gar nichts mehr mit dem Eigentum daran zu tun hat. Der Eigentümer des Kapitals ist ein Börsenspekulant. Er sieht vom Betrieb nur die Aktien, die Rendite abwerfen, er steckt Kapital hinein und zieht es wieder heraus, je nachdem, wie sich sein Portfolio zum Durchschnittsprofit verhält.
Das zinstragende Kapital beherrscht das industrielle und das kaufmännische Kapital, denn es gibt keine KapitalistInnen und erst recht keine Aktiengesellschaft, die nicht auf Kredit produziert und die nicht verpflichtet wäre, einen Teil des Mehrwerts als Zins abzugeben. Das ganze Geld, das bei den Banken deponiert wird, ist Kapital, indem es von der Bank als Kredit weitergegeben wird. Es vervielfacht sich dadurch: Die Bank kann ein Vielfaches von Zahlungsversprechen anstelle von realem Geld ausgeben, die sie wiederum mit Zinsen zurückerhalten wird, wovon auch jede Inhaberin eines Girokontos – zumindest vor einigen Jahren noch – einen kleinen Bruchteil abbekommt. Tatsächlich verdrängen diese Zahlungsversprechen das reale Geld fast vollständig. „Der größte Teil des Bankierkapitals ist daher rein fiktiv und besteht aus Schuldforderungen (Wechseln), Staatspapieren (die vergangnes Kapital repräsentieren) und Aktien (Anweisungen auf künftigen Ertrag)“ (MEW 25, 487).
Indem diese Papiere „als Waren verhandelbar sind und daher selbst als Kapitalwerte zirkulieren, sind sie illusorisch und ihr Wertbetrag kann fallen und steigen ganz unabhängig von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, auf das sie Titel sind.“ (MEW 25, 494).
Seit den Zeiten von Marx und Engels hat sich der Finanzsektor zu einem gewaltigen Moloch weiterentwickelt. Die moderne Form der Zahlungsversprechen nennt sich Derivat. Der illusorische Wert der Derivate macht den überwiegenden Großteil des „Reichtums“ der Spekulanten aus. Er betrug nach Angaben der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) im 2. Halbjahr 2010 601 Billionen US-Dollar. Im Jahr 2000 waren es 95 Billionen US-Dollar. Dieser imaginäre Reichtum kann deshalb so scheinbar unbegrenzt expandieren, weil natürlich immer ein Derivat als Basis für das nächste dienen kann. Eine Kreditblase entsteht.
Wenn die Blase platzt
Aus Sicht des Kapitals, aus Sicht der Leute, denen ihr Reichtum sehr am Herzen liegt, ist ganz klar, was das bedeutet: „In seiner Eigenschaft als zinstragendes Kapital“ – weil das zinstragende Kapital sich immer schneller vermehrt als die tatsächliche Produktion – „gehört dem Kapital aller Reichtum, der überhaupt je produziert werden kann, und alles, was es bisher erhalten hat, ist nur Abschlagszahlung an seinen [allumfassenden] Appetit.“ (MEW 25, 410).
Aber so läuft es nicht, wie wir wissen. Egal ob Derivat, Bankkredit oder Aktie – alles zinstragende Kapital verlangt letztendlich auch bei seiner extremen Vermehrung nicht nur nach Rückzahlung, sondern auch der Auszahlung von Zinsen. Wie wir gesehen haben, können diese letztendlich nur aus der Warenproduktion entstehen. Je mehr also die „Finanzwirtschaft“ sich über die „Realwirtschaft“ ausdehnt, desto unsicherer werden auch die Füße, auf denen dieses ganze Gebilde steht.
Sobald es zu einem größeren Zahlungsausfall kommt, werden daher wie 2008 geschehen viele Zahlungsversprechen in einer gigantischen Kettenreaktion wertlos. Daher kommt die Notwendigkeit für die KapitalistInnen, um jeden Preis die Zinszahlungen sicherzustellen, sei es durch den Gerichtsvollzieher, der einen säumigen Privatkreditnehmer zuhause belästigt, sei es durch die Zwangsräumung einer Wohnung, deren BewohnerInnen ihren Kredit nicht mehr abzahlen können, sei es durch die Unterwerfung ganzer Länder wie Griechenland unter die absolute, heilige Notwendigkeit, die Kredite fristgerecht und zur Gänze abzubezahlen.
Früher war alles besser
Doch was ist jetzt die Lösung für diese gigantische Zerstörungsmaschinerie des modernen Kapitalismus? Viele Hoffnungen der linken ReformistInnen, NGOs aber auch rechter DemagogInnen laufen darauf hinaus, zum Zustand vergangener Tage zurückzukehren. So gibt es Vorschläge, die Großbanken zu zerschlagen, die Wirtschaft mehr auf „Kleinunternehmen in Familienbesitz“ auszurichten, jedenfalls den Handel mit Aktien einzuschränken und generell den Finanzsektor und das große Kapital auf alle mögliche Arten zu beschränken.
Diese Vorschläge sind schon von einem politischen Standpunkt aus extrem illusorisch. Wer kann sich vorstellen, dass die selben Banken und Konzerne, auf deren Fingerzeig hin zu Beginn der Krise hunderte Milliarden Euro an Bankenrettungsgeldern von Seiten der Politik zur Verfügung gestellt wurden, diesem Vorhaben durch die selben politischen Parteien, Institutionen und Behörden zerschlagen und entmachtet werden könnten? Oder gar, wie es einige besonders freche Utopisten meinen, dass die KapitalistInnen selbst von der Richtigkeit so eines Schrittes überzeugt werden könnten? Allein die Frage so zu stellen bedeutet, sie verneinen zu müssen.
Doch selbst wenn die politische Komponente ausgeblendet wird, ist nichts Fortschrittliches an diesen Forderungen. Die Aktiengesellschaften und Großbanken haben sich nicht deswegen entwickelt, weil die KapitalistInnen besonders böse oder dumme Zeitgenossen wären (auch wenn einiges darauf hindeutet), sondern weil es eine Notwendigkeit war. Immer größere Produktion verlangte nach immer mehr Kapital, das vorgestreckt werden musste, was von einzelnen KapitalistInnen nicht mehr geleistet werden konnte. Die Bildung der großen Aktiengesellschaften und Großbanken, ihre immer größere Verschmelzung und die damit einhergehende immer tiefer werdenden Krisen sind in Wirklichkeit ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung der Wirtschaft in ihrer jetzigen Organisation in der Form des kapitalistischen Privatbesitzes der Produktionsmittel immer wieder an ihre Grenzen stößt, in Wirklichkeit sogar schon über sie hinausgewachsen ist. Eine Rückkehr zum Zustand der Wirtschaft von vor 200 Jahren zu fordern, ist genauso rückschrittlich wie utopisch. Der einzige Weg nach vorne ist nicht die Zerschlagung, sondern die Enteignung der großen Banken und Konzerne unter Kontrolle der ArbeiterInnen, die ja allen Wert in der Gesellschaft produzieren. Nur so können die technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wirklich zum Wohle aller genutzt werden, anstatt eine Zeitbombe der Zerstörung, des Leides und des Chaos für die menschliche Gesellschaft darzustellen, wie es jetzt der Fall ist.
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