Das Kapital. Wenn hierzulande eine Fabrik geschlossen wird, wird oft fehlende „Wirtschaftlichkeit“ als Grund angeführt. In unserem 4. Teil von „Das Kapital verstehen“ analysiert Sandro Tsipouras, was tatsächlich dahinter steckt.
Der Mehrwert ist definiert als die Differenz zwischen dem Wert, den eine Arbeiterin in einem Tag, einem Monat oder einem Jahr insgesamt schafft und dem Wert ihrer Arbeitskraft, den sie als Lohn ausgezahlt bekommt. Das Maß des Mehrwerts ist also die Mehrwertrate: m/v, wobei m für Mehrwert und v für variables Kapital steht, also für den Teil des Kapitals, den ein Kapitalist für Arbeitskraft (in Löhnen) vorschießt. Sie drückt also aus, wieviel Mehrwert die Arbeitskraft schafft.
Das ist den Kapitalisten aber gleichgültig. Sie interessieren sich für die Profitrate ihres Kapitals. Die Profitrate, die heutzutage Rendite genannt wird, beschreibt das Verhältnis m/(c+v), wobei m für Mehrwert, c für konstantes Kapital (Produktionsmittel) und v für variables Kapital (Arbeitskraft) steht. Sie drückt also aus, wieviel neuer Reichtum sich aus einer bestimmten Summe an vorgeschossenem Kapital machen lässt.
Dabei spielt das Verhältnis von c zu v keine Rolle – für den Herrn Investor ist es grundsätzlich unerheblich, ob er in eine weitgehend automatisierte Fabrik mit teuren Robotern und verhältnismäßig wenig ArbeiterInnen oder etwa in eine afrikanische Mine investiert, in der viele Menschen mit Schaufeln und Spitzhacken sehr viel Mehrwert schaffen, indem sie etwa Diamanten fördern. Hauptsache, die Rendite stimmt.
Die Mehrwertrate erfasst im Gegensatz zur Profitrate die wirkliche Quelle des Werts und drückt das wesentliche Verhältnis aus. Marx schreibt darüber:
„Mehrwert und Rate des Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das zu erforschende Wesentliche, während Profitrate und daher die Form des Mehrwerts als Profit sich auf der Oberfläche der Erscheinungen zeigen.“ (Marx, Karl. Das Kapital. Dritter Band. Berlin (DDR): Dietz 1964. S. 53)
Die Profitrate hingegen erzeugt den Schein, das Kapital vermehre sich aus sich selbst heraus, und macht die Rolle der Arbeitskraft in der Wertschöpfung unsichtbar.
„Da in der Profitrate der Mehrwert auf das Gesamtkapital berechnet und auf es als sein Maß bezogen wird, so erscheint der Mehrwert selbst dadurch als aus dem Gesamtkapital und zwar gleichmäßig aus allen seinen Teilen entsprungen, so daß der organische Unterschied zwischen konstantem und variablem Kapital im Begriff des Profits ausgelöscht ist; in der Tat daher, in dieser seiner verwandelten Gestalt als Profit, der Mehrwert selbst seinen Ursprung verleugnet, seinen Charakter verloren hat, unerkennbar geworden ist.“ (S. 177)
Bei gleichbleibender Mehrwertrate kann die Profitrate variieren, steigen oder fallen, indem die Preise für Produktionsmittel steigen oder fallen. Die Bourgeoisie reagiert darauf mit den Methoden zur Profitstabilisierung, die wir im letzten Teil angesprochen haben.
Die Jagd nach Profit
Die Profitraten unterscheiden sich von Branche zu Branche und von Land zu Land. Sie sind einerseits abhängig davon, wie schnell die angewandten Kapitale – die Vorschüsse an Produktionsmitteln und Arbeitskraft – zurück in die Taschen des Kapitalisten wandern (die Umlaufszeit – die Zeit, die für die Zirkulation benötigt wird, die wir im letzten Teil umrissen haben). Andererseits ist entscheidend, in welchem Verhältnis in Produktionsmittel bzw. Arbeitskraft investiert wird. Marx gibt dafür eine Beispielrechnung:
„In einem europäischen Land sei die Rate des Mehrwerts 100%, d.h. der Arbeiter arbeite den halben Tag für sich und den halben Tag für seinen Beschäftiger; in einem asiatischen Land sei sie = 25%, d. h., der Arbeiter arbeite 4/5 des Tages für sich und 1/5 für seinen Beschäftiger. In dem europäischen Land aber sei die Zusammensetzung des nationalen Kapitals 84c+16v, und im asiatischen Land, wo wenig Maschinerie etc. angewandt und in einer gegebenen Zeit von einer gegebnen Menge Arbeitskraft relativ wenig Rohmaterial konsumiert wird, sei die Zusammensetzung 16c+84v. Wir haben dann folgende Rechnung:
Im europäischen Land
Produktwert = 84c + 16v + 16m
= 116;
Profitrate = 16/100 = 16%.
Im asiatischen Land
Produktwert = 16c + 84v + 21m
= 121;
Profitrate = 21/100 = 21%.
Die Profitrate ist also im asiatischen Land um mehr als 25% größer als im europäischen, obgleich die Mehrwertsrate in jenem viermal kleiner ist als in diesem.“ (S. 160)
Dem Kapital ist gleichgültig, ob es sich etwa in einer europäischen oder in einer asiatischen Textilfabrik verwertet. Kapital wird nur vorgeschossen, damit Kapitalisten an Rendite kommen. Das ist sein einziger Zweck. Die Arbeit aller im Kapitalismus lebenden Menschen ist nur ein Mittel zu diesem Zweck, und eine Produktionstätigkeit ist so gut wie jede andere, solang sie nur diesen Zweck möglichst gut erfüllt. Die Profitrate ist der zentrale Wegweiser für das Handeln der Bourgeoisie.
Was also wird ein Investor tun? Er wird sein Kapital natürlich wie Kik und H&M im asiatischen Land anlegen, er wird wie Apple wo möglich seine komplette Produktion dorthin verlagern („Outsourcing“). Das Kapital fließt wie elektrischer Strom, der stets den Weg des geringsten Widerstands geht, dorthin, wo die Profitrate am höchsten ist. Um diesen Prozess zu erleichtern, gibt es Freihandelsabkommen und Eroberungskriege („Globalisierung“). Auf der anderen Seite werden ArbeiterInnen hierzulande damit erpresst, dass das Kapital anderswo günstigere Bedingungen vorfindet, und müssen deshalb Lohnsenkungen und Steigerungen der Arbeitsintensität hinnehmen. Selbst Staaten werden dazu erpresst, weniger Steuern einzutreiben, um als attraktiver Standort wahrgenommen zu werden, und so gezwungen, ihre Ausgaben etwa für Bildung, Gesundheit und Pensionen zu kürzen.
Dadurch, dass die Kapitale „im Verhältnis zu ihrer Größe, oder bei gleicher Größe, gleiche Teilnahme an der Gesamtmasse des Mehrwerts beanspruchen“ (S. 185), anders ausgedrückt: dadurch, dass die Kapitalisten miteinander um die Erzielung einer möglichst hohen Profitrate konkurrieren, kommt es zur Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate.
Durchschnittsprofitrate und Produktionspreise
Eine Ware hat zwei Preise. Der sogenannte Kostpreis der Ware ist, was der Kapitalist für ihre Herstellung ausgibt: c+v. Der Produktionspreis der Ware ist der höhere Preis, den er für sie verlangen kann, weil er sich Arbeit unentgeltlich aneignet. Der Profit ist die Differenz zwischen Kostpreis und Produktionspreis.
Im ersten Teil dieser Reihe haben wir schon dargestellt, wie die Marktpreise der Waren von ihrem Wert abweichen: Angebot und Nachfrage lassen die Preise schwanken, wobei ihr Wert das Zentrum dieser Schwankungen darstellt. Die Preise sind Ausdrucksformen des Werts, die ihm aber immer nur annähernd entsprechen und ihn deshalb verzerrt reflektieren. Dem Unterschied zwischen Wert und Preis entspricht der Unterschied zwischen Mehrwert und Profit.
Der ständige Druck, dass sich das Kapital einer Branche entziehen könnte, sorgt dafür, dass sich die Branchen in einem ständigen Wettlauf um die Maximierung des Profits miteinander befinden, weil die einzige Alternative ihr Untergang ist. So kommt es zur Bildung der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate, indem sich die Kapitalisten beständig gegenseitig übervorteilen, „in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen“ (S. 171), Schwankungen, die sich in vielfältiger Weise als Einschnitte in den Lebensstandard der Arbeiterklasse ausdrücken.
Im Kampf um Investitionen, der an der Börse stattfindet, kann kein Kapital sich auf Dauer eine niedrigere Profitrate leisten und wird deshalb den Investoren über Produktionspreise, die vom Wert abweichen, die attraktive Rendite verschaffen. „Das Kapital entzieht sich einer Sphäre mit niedriger Profitrate und wirft sich auf die andre, die höheren Profit abwirft. Durch diese beständige Aus- und Einwanderung, mit einem Wort, durch seine Verteilung zwischen den verschiednen Sphären, je nachdem dort die Profitrate sinkt, hier steigt, bewirkt es … daß der Durchschnittsprofit in den verschiedenen Produktionssphären derselbe wird und daher die Werte sich in Produktionspreise verwandeln.“ (S. 206)
Nehmen wir an, bei einer gleichbleibenden Mehrwertrate von 100% habe sich obendrein eine Durchschnittsprofitrate von 20% etabliert. Das bedeutet, jedes Kapital (c+v) der Größe 100 wird sein Produkt zum Preis von 120 verkaufen, und zwar unabhängig von der Zusammensetzung des Kapitals. Ein Kapital A, das aus 90c + 10v besteht, wird nur 10m hervorbringen, der Wert seines Produkts beträgt als 110; auf der anderen Seite wird ein Kapital B, es bestehe aus 70c + 30v, 30m hervorbringen, also ein Produkt mit Gesamtwert 130. Werden beide Produkte zum Preis von 120 verkauft, wurde das Produkt von A unter dem Wert, das von B über dem Wert verkauft.
Durch diese konkurrenzbedingte Abweichung der Produktionspreise von den Werten kommt es dazu, dass sich Profit und Mehrwert nicht nur in ihrer Rate, wie oben dargestellt, unterscheiden, sondern auch in ihrem realen Umfang.
Die Anarchie der Produktion
Wir sind in vorangegangenen Teilen dieser Reihe schon darauf zu sprechen gekommen, wie die „Anarchie“ (Friedrich Engels) der kapitalistischen Produktion, also die allgemeine Planlosigkeit und beständige gegenseitige Sabotage der Bourgeois, die die Produktion kontrollieren, sich schädlich auf die Menschen auswirkt. Die Jagd nach dem Durchschnittsprofit spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn sie ist maßgeblich dafür verantwortlich, welche Produktionszweige sich in unserer Gesellschaft entwickeln und welche untergehen.
Anstelle einer vernünftigen Planung ist der blinde Wettkampf der Bourgeois die zentrale Instanz, von der die ganze Entwicklung der Gesellschaft abhängt. Die Privatisierung von Energieversorgung, Infrastruktur und Gesundheitswesen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Kinder- und Sklavenarbeit zeigen, was geschieht, wenn jeder Bereich der gesellschaftlichen Produktion mit Gewalt darauf zugerichtet wird, der Durchschnittsprofitrate zu entsprechen.
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