Wer den Kapitalismus überwinden möchte, muss ihn verstehen. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen das Kapital mit unserer Reihe „das Kapital verstehen“ für eine breitere Leserschaft zugänglich zu machen. Von Sandro Tsipouas.
Das Kapital von Karl Marx ist das Hauptwerk des Marxismus. Obwohl es vor fast 150 Jahren geschrieben wurde, liefert es eine sehr genaue Analyse der Grundlagen der Gesellschaft, in der wir heute Leben – der kapitalistischen Gesellschaft. Marx schafft das, indem er die Gesellschaft nicht ausgehend von verschiedenen oberflächlichen Phänomenen aus betrachtet, so wichtig diese auch sind (politisches System, Religion, Kultur, Technik). Er analysiert vielmehr, wie und durch wen der gesellschaftliche Reichtum, der die Grundlage jeder menschlichen Zivilisation ist, produziert wird. Auf Basis dieser Erkenntnisse über die Produktionsweise ist ein viel klarerer Blick auf die menschliche Gesellschaft möglich. Davon ausgehend zeigt Marx auf, unter welchen Bedingungen der Kapitalismus entstanden ist und unter welchen Bedingungen er verschwinden kann und muss. Dies ist der erste Artikel in einer Reihe, in der wir einen Einblick in diese Erkenntnisse geben wollen.
Die Warenproduktion und das Geld
„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“[1] Mit diesen Worten beginnt der erste Band des „Kapitals“.
Aus dem angeführten Zitat ist schon ersichtlich, dass Dinge im Kapitalismus als Waren produziert werden. Eine Ware ist ein Ding, „das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt“[2] und für den Austausch hergestellt wird. Diese beiden Eigenschaften der Ware nennt Marx Gebrauchswert und Tauschwert.
Der Gebrauchswert befriedigt menschliche Bedürfnisse. Kurz gesagt ist es der praktische Nutzen, den die Ware für denjenigen hat, der sie konsumiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser tatsächlich lebensnotwendig ist (Nahrung, Medizin, ein Dach über dem Kopf…), ein Luxusprodukt ist oder nur auch nur einen eingebildeten Nutzen hat (die Homeshoppingangebote bei Astro-TV, Granderwasser…). Solange jemand gewillt ist, ein Ding zu kaufen oder zu produzieren um es zu verwenden, hat es Gebrauchswert.
Die Gebrauchswerte sind in der Warenproduktion „zugleich die stofflichen Träger des – Tauschwerts“, das Verhältnis, indem „sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen“[3]. Das geschieht in der Form: x Ware A = y Ware B. Das heißt zb. 10 Liter Benzin = 1 T-Shirt oder, um sich des von Marx im Kapital verwendeten und mittlerweile veralteten Beispiels zu bedienen, „20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert.“[4]
Damit der Austausch von Waren in dieser Form vonstatten gehen kann, müssen die Waren über eine Gemeinsamkeit verfügen, von der nun beispielsweise in einem Rock 20 mal soviel vorhanden ist, wie in einer Elle Leinwand. Worin besteht diese? „Dies Gemeinsame kann nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein.“[5]
Doch eines ist allen Waren gemeinsam: Sie sind Produkte menschlicher Arbeit. Im Austausch wird von den Unterschieden zwischen den Waren abgesehen. Sie werden auf ihre bloße Eigenschaft, Arbeitsprodukte zu sein, reduziert, und als solche bestimmt sich ihr Tauschwert: Im Rock ist 20 mal so viel menschliche Arbeitskraft enthalten wie in der Elle Leinwand.
Das Maß der Arbeit ist die Arbeitszeit. So verwandelt sich der qualitative Unterschied zwischen Rock und Leinwand, oder zwischen einem Einfamilienhaus und einer Schaufel in einen bloß quantitativen Unterschied in der zur Herstellung dieser Waren jeweils aufgewandten Arbeitszeit.
In der klassenlosen Urgesellschaft gab es keine Warenproduktion. Der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung war so niedrig, dass es kaum Arbeitsteilung und einen Austausch zwischen einzelnen menschlichen Gruppen gab. Innerhalb dieser Gruppen wiederum gab es keinen Grund, Arbeitsprodukte auszutauschen, weil alle Produktionsmittel (dh. Arbeitsgeräte) und alle Produkte der Gemeinschaft als Ganzes gehörten. Dinge wurden nicht ausgetauscht, sondern allen Mitgliedern der Gruppe (reglementiert durch Sitten, Bräuche und gesellschaftliche Regeln) gleichermaßen zur Verfügung gestellt. Erst mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, zunächst zwischen Ackerbau und Viehzucht, dann durch Abtrennung des Handwerks vom Ackerbau und schließlich der Trennung der Produktion vom Handel [6], setzt sich die Warenproduktion durch.
Zuerst wurden Waren nur sporadisch und zufällig gegeneinander eingetauscht. Doch mit der weiteren Entwicklung der Arbeitsteilung wurde dieser Prozess immer zielgerichteter und ausgefeilter. Manche Menschen spezialisierten sich in der Produktion einer bestimmten Ware, andere (Händler) in deren Austausch – und produzierten kaum oder gar nicht mehr für den Eigenbedarf. Um den Austausch zu erleichtern, wurde schließlich eine Ware zum allgemeinen Äquivalent, dh. allgemein anerkanntes Austauschmittel. Geschichtlich gesehen entwickelten sich vor allem Edelmetalle (Gold, Silber) dazu, da sie im Verhältnis zu ihrer Größe viel menschliche Arbeitskraft enthalten (dh. sehr aufwändig zu produzieren sind) und nicht verderblich – also leicht zu transportieren und lagern – sind. Das allgemeine Äquivalent wird zu Geld, der gegenständlichen Form des Tauschwerts. Der in Geld ausgedrückte Wert einer Ware ist ihr Preis.
Wertgesetz und Fetischcharakter der Ware
Es ist das grundlegende ökonomische Gesetz der Warenproduktion, dass gleiche Werte, also Waren im Verhältnis der zu ihrer Herstellung aufgewandten Arbeitszeiten, ausgetauscht werden. Dieses Gesetz, das sogenannte Wertgesetz, setzt sich unabhängig vom Willen der Menschen durch.
Wenn das Angebot einer Ware die zahlungskräftige Nachfrage übersteigt, kann der Preis unter ihren Wert sinken. Wenn umgekehrt das Angebot die Nachfrage nicht befriedigen kann, steigt der Preis über den Wert. Eine dauerhafte Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage ist im Kapitalismus unmöglich, weil das Privateigentum an Produktionsmitteln eine gesamtgesellschaftliche Planung der Produktion verhindert. Lauter einzelne ProduzentInnen versuchen, sich auf dem Markt gegeneinander durchzusetzen und gegenseitig auszustechen. Was stattfindet, ist also das gerade Gegenteil von Kooperation und Planung. Das Angebot an Waren setzt sich nur aus den Waren zusammen, die die einzelnen Produzenten in Erwartung eines Profites produziert haben (lassen) und anbieten. Die Nachfrage hat damit aber überhaupt nichts zu tun, sondern ist durch die Kaufkraft der KonsumentInnen bestimmt und beschränkt.
Das Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage wird erst im Nachhinein durch den Markt korrigiert, wenn Waren zum Beispiel unverkäuflich in den Regalen liegen bleiben und schließlich entsorgt werden, oder umgekehrt sich lange Schlangen vor den Läden bilden. Erst dann erfahren die ProduzentInnen, ob ihre Arbeit (oder die Arbeit der von ihnen beschäftigten ArbeiterInnen) umsonst war oder sich gelohnt hat. Auf diese Weise verursacht die kapitalistische Produktionsweise eine ungeheure Verschwendung von Material und menschlicher Arbeitskraft. Wenn sich eine Ware dauerhaft als unverkäuflich herausstellt, führt das zum Bankrott des Produzenten und zur Arbeitslosigkeit der beschäftigten ArbeiterInnen. Der Kapitalismus erzeugt nicht nur riesige Müllhalden, sondern auch die Armut, die Menschen beispielsweise in Indien zwingt, auf diesen Müllhalden zu leben.
Das Wertgesetz wirkt als Macht, auf die die einzelnen WarenproduzentInnen keinen Einfluss haben. Sie beherrschen ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht. Die kapitalistische Gesellschaft taumelt von Krise zu Krise. Unzählige WarenproduzentInnen gehen jedes Jahr bankrott, unzählige Menschen werden von dieser „fremden Macht“ ins Elend gestürzt. „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“[7] Das Schicksal aller arbeitenden Menschen in dieser Gesellschaft hängt davon ab, ob und zu welchem Preis die Waren, die sie produzieren, auf dem Markt verkauft werden können. Die Entwicklung der Preise – am besten versinnbildlicht durch die großen Kurven auf den Bildschirmen der Börsenmakler – wird aber aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit im Bewusstsein der Menschen zu einem ganz und gar mysteriösen, geheimnisvollen Prozess. So entsteht die Illusion, dass es die Waren wären, die durch ihren Wert von sich aus das Schicksal der Menschen beeinflussen, obwohl es die Menschen selbst sind, die die Waren produzieren und tauschen. Das ist derzeit besonders eindrücklich an den Reaktionen auf Schwankungen des Ölpreises zu sehen.
Marx bezeichnet das als den Fetischcharakter der Ware, und der stärkste Fetisch existiert natürlich rund um die Ware Geld.
Der Warenfetisch hat auch eine andere Seite: Die Behandlung aller nur denkbaren Dinge, als wären sie Waren, als hätten sie einen Tauschwert. So führt er zur Privatisierung der Wasserversorgung, zum Verkauf von „Emissionsrechten“, zu Menschenhandel und anderen Abscheulichkeiten: „Alles hat seinen Preis“. Die kapitalistische Produktionsweise führt mit Notwendigkeit dazu, dass aus jeder menschlichen Tätigkeit nach Möglichkeit ein Geschäft wird, an dem jemand profitiert, sodass letztendlich jede menschliche Tätigkeit nur dann stattfinden kann, wenn es möglich ist, dass daran jemand profitiert. Dass Menschen wohnen, essen und arbeiten, findet statt, damit jemand profitiert und auch nur dann.
Wenn es für Immobilienfirmen nicht profitabel ist, eine Wohnung zu vermieten (etwa weil es profitabler ist, sie stattdessen als Spekulationsobjekt zu benutzen), bleibt sie leer, egal wie viele Obdachlose es gibt. Wenn es für ein privatisiertes Bahnunternehmen nicht profitabel ist, dass Zugfahrkarten zu Preisen verkauft werden, die man sich leisten kann, dann muss man eben zuhause bleiben, obwohl es für den Betrieb des Zuges so gut wie keinen Unterschied macht, wieviele Menschen darin sitzen. Die kapitalistische Produktionsweise läuft darauf hinaus, die Menschen immer gründlicher von allem abzutrennen, was ihre Existenz ausmacht, und es ihnen dann frisch verpackt als Ware vorzusetzen, für die sie bezahlen müssen. Auf diese Weise werden sie tiefer und tiefer in ein Netz von Abhängigkeitsverhältnissen verstrickt.
Wie diese Abhängigkeiten genau aussehen besprechen wir im nächsten Teil in der nächsten Ausgabe.
[1] Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 23, S. 49
[2] ebenda
[3] ebenda S. 50
[4] ebenda S. 63
[5] ebenda S. 52
[6] Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 21, S. 155 ff.
[7] Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. S. 89
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