Wenn ich morgens aufstehe, meine Schuhe anziehe und die Schuhbänder zubinde, frage ich mich oft: „Wer hat diese Schuhe eigentlich hergestellt?“ Wenn ich mich dann an den Tisch zum Frühstück setze, frage ich mich ebenfalls: „Wer hat den Tisch gefertigt und wer hat auf dem Bauernhof gearbeitet, der den Hafer für meinen Porridge produziert hat?“ Wenn ich zu meiner jährlichen Untersuchung in die Praxis meines Arztes gehe, frage ich mich: „Zu welcher Klasse gehört die dort arbeitende Pflegekraft?“ Wieso stelle ich mir solche Fragen? Nun, es liegt daran, dass anscheinend meine Sachkenntnis hinterfragt wird, wenn wir mit der Auffassung bombardiert werden, dass es die Arbeiterklasse nicht mehr gibt, dass sie sich aufgelöst hat und wir jetzt alle größtenteils zur „Mittelschicht“ gehören. Von Fred Weston.
Vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren wurde es Mode, die Idee zu verbreiten, der Klassenkampf gehöre der Vergangenheit an und die Arbeiterklasse existiere gar nicht mehr. Viele Autoren veröffentlichen weiterhin Artikel, Bücher, Forschungsarbeiten usw., in denen behauptet wird, dass die Arbeiterklasse entweder massiv an Gewicht in der Gesellschaft verloren hat und zu einer irrelevanten Kraft geworden ist oder sogar ganz aufgehört hat zu existieren.
Die akademische Welt verbreitet in diesem Sinn eine regelrechte Flut von Propaganda. Ein Beispiel dafür ist ein 1996 von den postmodernen Autoren Jan Pakulski und Malcolm Waters veröffentlichter Text mit dem Titel “The Death of Class”, in dem sie argumentieren, dass Klasse ein rein historisches Phänomen ist und dass eine Klassenperspektive heute ein Hindernis für das Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaft geworden ist. Sie stellen fest, „… dass sich die Klassen auflösen und dass die fortschrittlichsten Gesellschaften keine Klassengesellschaften mehr sind“.
Es war nicht nur der Zusammenbruch der Sowjetunion, der sich auf diese so genannten „Intellektuellen“ auswirkte. In den 1970er Jahren kam es in der ganzen Welt zu umfassenden Arbeiterbewegungen. Der französische Mai 1968, der Heiße Herbst 1969 in Italien und der enorme Aufschwung von Streiks und revolutionären Bewegungen in der gesamten kapitalistischen Welt waren Ende der 1970er Jahre wieder abgeebbt und in den 1980er Jahren kam es überall zu einem starken Rückgang der Streikbewegungen.
Große Streikbewegungen wurden mangels einer kämpferischen Führung niedergeschlagen. In Großbritannien war der Bergarbeiterstreik 1984/85 ein solcher entscheidender Wendepunkt: Ein gewaltiger Kampf der Bergarbeiter – mit teilweise aufständischen Zügen – endete in einer Niederlage. Ähnliche Kämpfe wurden in Italien (FIAT 1980), in den Vereinigten Staaten (Reagans streikbrechende Maßnahmen gegen die PATCO-Fluglotsen 1981) und in vielen anderen Ländern verloren.
Dies führte zu einer Flaute im Klassenkampf, einem Rückgang der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in vielen Ländern und einem Vertrauensverlust in die reformistischen und stalinistischen Parteien, die für die Niederlagen der Arbeiterklasse verantwortlich waren. Dies wiederum wirkte sich auf viele Akademiker aus, die sich davor an die Linke gelehnt hatten.. Bei Paluski und Waters zeigt sich das gut, als sie schrieben:
„Mit dem nachlassenden Engagement für den Marxismus, dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und der schwindenden Attraktivität sozialistischer Ideologien im Westen verliert die Klasse ihre ideologische Bedeutung und ihre politische Zentralität. Sowohl die Rechte als auch die Linke geben ihre Beschäftigung mit Klassenfragen auf. Die Rechte wendet sich der Moral und der ethnischen Zugehörigkeit zu, während sich die kritische Linke zunehmend mit Fragen des Geschlechts, der Ökologie, der Staatsbürgerschaft und der Menschenrechte beschäftigt. […] Die Klassenunterschiede verlieren ihren offensichtlichen und allgegenwärtigen Charakter. […] Der Klassenradikalismus ist in den intellektuellen Salons und auf den Universitätsgeländen nicht mehr angesagt. Wie die Bommeln und die Che-Guevara-Barette ist die Klasse passé, vor allem bei den Verfechtern der postmodernen Avantgarde und den Vertretern der neuen geschlechts-, umwelt- und ethnozentrierten Politik.“ [eigene Übersetzung]
Auch die traditionellen Massenparteien der Arbeiterklasse, wie die Labour Party in Großbritannien, waren von all dem betroffen. Eine große Zahl von Menschen wandte sich von diesen Organisationen ab, während gleichzeitig der rechte Flügel seine Macht festigte. Der Aufstieg des Blairismus war eine Folge von all dem. Und im Einklang mit der Denkweise von Leuten wie Pakulski und Waters erklärte John Prescott, ehemaliger stellvertretender Premierminister unter Blair, vor den Parlamentswahlen 1997, dass „wir jetzt alle zur Mittelschicht gehören“. Tony Blair erklärte 1999 in seiner Rede vor dem Labour-Parteitag: „Der Klassenkampf ist vorbei“.
Nicht alle Akademiker sind jedoch der Meinung, dass die Arbeiterklasse ihre Bedeutung verloren hat. Die Akademiker Geoffrey Evans und James Tilley haben zum Beispiel argumentiert, dass Berichte über den „Tod der Klasse“ in Großbritannien verfrüht sind. Über die Tendenz, die Arbeiterklasse abzuschreiben, schreiben sie:
„Der Aufstieg der Mittelschicht wurde oft als Zeichen für das Ende der Klassenspaltung und der politischen Bedeutung der Klasse gesehen.” Die schwindenden Unterschiede zwischen den sozialen Klassen werden als natürliche Folge der Deindustrialisierung, des zunehmenden Wohlstands, des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates und des Zusammenbruchs der traditionellen Gemeinschaftseinrichtungen der Arbeiterklasse angesehen. Im Extremfall wird behauptet, dass „die Dynamik des Arbeitsmarktes, unterstützt durch den Wohlfahrtsstaat, die sozialen Klassen aufgelöst hat“ (Beck und Beck-Gernsheim 2002, S.203). “Es bleibt also eine formlose soziale Struktur ohne Klassenunterschiede übrig: eine Gesellschaft, in der jeder zur Mittelschicht gehört oder überhaupt keine Klasse hat.“ (Geoffrey Evans and James Tilley, The New Politics of Class: The Political Exclusion of the British Working Class, OUP Oxford, 2017)
Aber selbst Evans und Tilley, die die Idee verteidigen, dass die Arbeiterklasse weiterhin existiert, verweisen auf den Rückgang ihrer Größe und das Wachstum der sogenannten „Mittelschicht“. Sie können dies jedoch nur tun, indem sie Kategorien in die Mittelschicht einordnen, die eindeutig Lohnarbeit verrichten und daher vom marxistischen Standpunkt aus zur Arbeiterklasse gehören.
Was bedeutet es, zur Arbeiterklasse zu gehören?
Ein großer Teil der Verwirrung rührt von der Definition der „Arbeiterklasse“. In der akademischen Welt schauen viele auf das Bildungsniveau oder das Einkommen, um die Klassenzugehörigkeit zu bestimmen. Dies geht jedoch am eigentlichen Wesen der Arbeiterklasse vorbei. Es geht nicht darum, welche Art von Musik man hört, ob man diesen oder jenen Roman liest oder ob man einen hohen oder niedrigen Lohn hat. Arbeiterklasse oder Proletarier zu sein bedeutet, dass man, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, seine Fähigkeit zu arbeiten an jemand anderen verkaufen muss.
Marx und Engels sprachen von der „Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ (Kommunistisches Manifest). Arbeiterinnen und Arbeiter, die an Fließbändern in Autofabriken oder in Kohlebergwerken arbeiten oder als Buchhalter oder Designer am Schreibtisch sitzen und an Computern arbeiten, verkaufen alle ihre Arbeitskraft.
Die Klassenzugehörigkeit hängt davon ab, ob man Eigentümer der Produktionsmittel ist oder nicht. Die Eigentümer sind die winzige Minderheit der Kapitalisten, und sie zahlen ihrerseits Löhne an die Millionen von Arbeitern, die an den Produktionsmitteln arbeiten müssen, um einen Gewinn für die Kapitalisten zu erarbeiten. Wenn wir diese Kriterien anwenden, dann sehen wir, wenn wir uns die tatsächlichen Statistiken weltweit ansehen – die hartnäckigen Fakten -, dass die Arbeiterklasse nicht nur existiert, sondern dass sie nie größer war, sowohl in absoluten Zahlen als auch in Bezug auf ihr relatives Gewicht in der Gesellschaft.
Fortgeschrittene kapitalistische Länder
Wenn die postmodernen Denker von heute von einem Schrumpfender Arbeiterklasse sprechen, beziehen sie sich meist auf die industrielle Arbeiterklasse, d.h. die Fabrikarbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, und leiten aus den Statistiken ab, dass die Arbeiterklasse nicht mehr die Kraft ist, die sie einmal war.
Hier müssen wir diese Leute jedoch darauf hinweisen, dass sich die Arbeiterklasse nicht nur aus Fabriksarbeitern zusammensetzt. Der Mehrwert (Profit) wird nicht nur in der Fabrik produziert, sondern im gesamten Produktionsprozess. So trägt ein Softwareentwickler auch zu den Endprodukten bei, die für den Konsum produziert werden. Ein Transportarbeiter ist für den Gesamtprozess unerlässlich, ob er nun Rohstoffe aus einer Mine zur Verarbeitung in einer Produktionsanlage transportiert oder ob er täglich Millionen von Arbeitnehmern zu ihren Arbeitsplätzen befördert.
Eine Reinigungskraft, die für ein Unternehmen arbeitet, das sich um die Reinigung einer Fabrik kümmert, würde heute als Dienstleistungsarbeitskraft eingestuft werden, obwohl sie eigentlich zum Prozess der industriellen Produktion beiträgt. Zudem wurden viele Arbeitsplätze, die früher als Teil des verarbeitenden Gewerbes galten, ausgelagert und werden nun als Dienstleistungen eingestuft, was die Statistiken verzerrt. Als Beispiel weist The Manufacturer darauf hin, dass dies in Großbritannien der Fall ist:
„Obwohl der Beitrag des verarbeitenden Gewerbes zum BIP auf dem Papier zurückgegangen ist, werden viele der für die Hersteller erbrachten Dienstleistungen, die früher als Teil des verarbeitenden Gewerbes betrachtet wurden – wie Catering, Reinigung, Gebäudedienstleistungen, Sicherheit, Logistik usw. – heute anderen Bereichen der Wirtschaft zugeordnet.
Diese Beiträge sind jedoch direkt vom Verarbeitenden Gewerbe abhängig und könnten eigentlich als Teil des BIP-Inputs des Verarbeitenden Gewerbes betrachtet werden. Viele fordern daher, den wahren Wert des verarbeitenden Gewerbes anzuerkennen, wodurch sich der weithin zitierte Anteil von 10 % an der Bruttowertschöpfung auf 23 % mehr als verdoppeln und die Gesamtstatistik des verarbeitenden Gewerbes im Vereinigten Königreich erheblich beeinflussen würde.”
Es gibt andere Teile der Arbeiterklasse, die nicht direkt am industriellen Produktionsprozess beteiligt sind, aber dennoch eine wichtige Rolle spielen. Die überwältigende Mehrheit der Arbeitsplätze erfordert heute ein gewisses Maß an Bildung, z. B. die Fähigkeit, Anweisungen zu lesen oder an Schulungen teilzunehmen. Dafür werden Lehrer benötigt, die die nächste Generation von Arbeitnehmern ausbilden. Wenn sich Arbeitnehmer verletzen oder krank werden, müssen sie „wiederhergestellt“ und in den Produktionsprozess zurückgeführt werden. Die Pflegekraft, die ich vorhin erwähnt habe, sorgt dafür, dass ich in einem Zustand bin, in dem ich weiterarbeiten kann.
Diese Schichten sind also auch Teil der Arbeiterklasse als Ganzes. Egal, ob sie in einem Krankenhaus, einer Schule oder einer Hochschule arbeiten, auch sie arbeiten für einen Lohn und sind nicht Eigentümer der Produktionsmittel.
Marxisten würden nicht abstreiten, dass die Zahl der Industriearbeiter in vielen fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländern zurückgegangen ist. In Großbritannien beispielsweise sind in der verarbeitenden Industrie heute 2,7 Millionen Menschen beschäftigt, während es in den 1970er Jahren noch 8 Millionen waren. Seit den 1980er Jahren ist diese Zahl in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern insgesamt von etwa 195 Millionen auf 155 Millionen gesunken (ein Rückgang von etwa 40 Millionen), und darauf konzentrieren sich die meisten Akademiker, wenn sie das Bild einer schrumpfenden Arbeiterklasse zeichnen wollen. Dabei sind sie aber – wie wir oben erläutert haben – in zweierlei Hinsicht unehrlich.
Global gesehen ist die industrielle Arbeiterklasse jedoch nicht nur nicht geschrumpft, sondern sie ist in den letzten 40 Jahren sogar enorm gewachsen, wie wir später zeigen werden.
Die Rolle der Arbeitsproduktivität
Ein wichtiges Element, das hier verstanden werden muss, ist, dass die Arbeitsproduktivität in der Industrie seit der industriellen Revolution massiv gestiegen ist. Heute wird mit einer viel geringeren Anzahl von Industriearbeitern wesentlich mehr produziert als mit der großen Anzahl von Arbeitern in der Vergangenheit.
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre stieg beispielsweise die Produktivität eines einzelnen Textilarbeiters um das 2.000-fache, d. h. ein Arbeiter kann heute eine Menge Textilien produzieren, für die zwei Jahrhunderte zuvor 2.000 Arbeiter erforderlich gewesen wären. In der jüngeren Vergangenheit ist die Produktivität im verarbeitenden Gewerbe im Zeitraum 1979-89 um 4,7 % pro Jahr gestiegen, was einer Gesamtsteigerung von 50 % entspricht. Das bedeutet, dass in vielen Branchen die gleichen oder mehr Waren produziert werden, obwohl die Zahl der dort Beschäftigten gesunken ist.
Wie hätte die industrielle Arbeiterklasse auch verschwinden können? Ihre Rolle ist nach wie vor unverzichtbar für die Herstellung der Dinge, die wir brauchen.
Die Tatsache, dass weniger Arbeitnehmer in kürzerer Zeit mehr produzieren, deutet keineswegs auf eine Schwächung der Arbeiterklasse hin, sondern hat ihre Macht massiv gestärkt. So sind beispielsweise in der britischen Energiewirtschaft weniger Arbeitnehmer beschäftigt als in der Vergangenheit, nachdem die Zahl der Beschäftigten in den letzten 30 Jahren stark zurückgegangen ist, nämlich auf etwa 175.000. Aber diese geringere Zahl von Arbeitnehmern hat objektiv eine immense Macht, denn sie könnten die gesamte Wirtschaft lahm legen, wenn sie streiken würden. Stellen Sie sich vor, die Elektrizitäts-, Gas- und Ölarbeiter würden zusammen mit Arbeitern der Wasserwirtschaft beschließen, koordiniert zu streiken. Die gesamte Wirtschaft würde zum Stillstand kommen.
Wenn wir all diese Fakten zusammennehmen, ist es nicht überraschend, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung im Vereinigten Königreich weiterhin als Arbeiterklasse sieht. Eine Studie, die auf der Website British Social Attitudes veröffentlicht wurde, zeigt, dass der Anteil der Bevölkerung, der sich als Arbeiterklasse versteht, im Zeitraum 1983-2012 konstant um die 60 %-Marke lag.
Unter Ignorierung dieser eindeutigen Tatsachen stellen die bereits erwähnten postmodernen Autoren Pakulski und Waters fest, dass „… die Mitglieder einer Klasse sich ihrer Gemeinsamkeit bewusst sein und einige anerkannte Begriffe zur kollektiven Selbstbeschreibung verwenden müssen. Ein Gefühl der Differenz zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ ist eine notwendige Bedingung für die Bildung von Klassenakteuren, die die am weitesten entwickelten Beispiele von Klassenartikulation kennzeichnet.“
Dies scheint zu implizieren, dass wenn die Menschen das „sie und wir“ nicht sehen, wenn also Millionen von Arbeitern sich nicht als einer bestimmten Klasse zugehörig empfinden, es auch keine Klasse gibt. Es versteht sich jedoch von selbst, dass die Art und Weise, wie man sich selbst wahrnimmt, nicht notwendigerweise der Klasse entsprechen muss, der man tatsächlich angehört. Ein sehr gut bezahlter Arbeiter, der einen hohen Lohn erhält, mag sich selbst als Teil der Mittelschicht betrachten, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er Lohnarbeiter ist. Und wenn die Krise des Kapitalismus solche Menschen plötzlich mit der Aussicht konfrontiert, dass ihre Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, können sie sich schlagartig ihrer tatsächlichen Klassenzugehörigkeit bewusst werden.
Die globale Arbeiterklasse ist massiv gewachsen
Um ein vollständiges Bild zu erhalten, ist es notwendig, den Prozess global zu betrachten. Das kapitalistische System ist ein Weltsystem, und die Kapitalisten investieren in der ganzen Welt, um ihre Profite zu maximieren. Daher bedeutet die Schließung von Industrieanlagen in einem Land wie etwa Großbritannien nicht zwangsläufig eine Schwächung der Arbeiterklasse auf globaler Ebene.
Der zahlenmäßige Rückgang der Industriearbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bedeutet keineswegs ein Schrumpfen der Arbeiterklasse als Ganzes. Im Gegenteil, diese Arbeitsplätze wurden durch andere Formen der Lohnarbeit in anderen Sektoren in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ersetzt, und neue Arbeitskräfte werden in den Produktionsprozess aufgenommen, wenn in Ländern, in denen die Löhne niedriger sind, neue Produktionsstätten eröffnet werden.
Wenn wir unseren Blick etwas von den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern abwenden und das größere Bild im Weltmaßstab betrachten, sehen wir eine ganz andere Situation als die, die unsere postmodernen Akademiker beschreiben. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Industriearbeiter in den ehemaligen „Entwicklungsländern“ von etwa 190 Millionen auf 500 Millionen gestiegen. Das ist ein Zuwachs von über 300 Millionen (siehe Grafik). Wir sehen also, dass zwar in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eine gewisse Deindustrialisierung stattgefunden hat, dass aber auf globaler Ebene ein enormes Maß an Industrialisierung stattgefunden hat.
Die Zahlen, die uns für China vorliegen, zeigen beispielsweise, dass die Zahl der Industriearbeiter dort über 100 Millionen beträgt. Nach einer Phase, in der die Zahl der Industriearbeiter Ende der 1990er Jahre aufgrund der Schließung von Betrieben im chinesischen „Rostgürtel“, d. h. in einigen der alten staatlichen Industriebetrieben, zurückging, stieg die Zahl ab 2000 wieder an und erreichte 2005 rund 110 Millionen. Chinas verarbeitendes Gewerbe trägt heute mehr zur weltweiten Produktion bei als die Vereinigten Staaten (siehe Global manufacturing scorecard: How the US compares to 18 other nations).
In Indien wird die Zahl der Industriearbeiter auf etwa 55 Milionen geschätzt. (Siehe Employment Growth in India’s Organized Manufacturing in the Post-GFC period). In absoluten Zahlen ist das verarbeitende Gewerbe in Indien genauso groß wie in Frankreich und Italien und größer als in Großbritannien.
Um nur einige weitere Beispiele zu nennen: In Brasilien liegt die Zahl der Beschäftigten im industriellen Sektor bei über 8 Millionen, in Vietnam bei 12 Millionen und in Mexiko bei 10 Millionen.
All dies bedeutet, dass die industrielle Arbeiterklasse weltweit noch nie so stark war wie heute. Aus den jüngsten Zahlen geht hervor, dass die Zahl der Industriearbeiter weltweit inzwischen auf über 700 Millionen gestiegen ist – eine beeindruckende Kraft. Letztendlich wird die Lebensqualität eines Menschen durch den Zugang zu Nahrung, Wohnung, Kleidung, Transportmitteln usw. bestimmt. All dies wird von diesen Millionen von Arbeitnehmern produziert und keine noch so große postmoderne Spielerei kann diese Klasse aus der Welt schaffen.
Wie oben gezeigt, besteht die Arbeiterklasse nicht nur aus Industriearbeitern, sondern es gibt viele andere Sektoren, die die Arbeiterklasse ausmachen, wie das Baugewerbe, das Transportwesen usw.
Betrachtet man die Gesamtheit der Erwerbstätigen weltweit nach Sektoren und nicht nur die in der Industrie Beschäftigten, so ergeben sich folgende Zahlen: Im Dienstleistungssektor sind 1,65 Milliarden Menschen beschäftigt, in der Landwirtschaft 873 Millionen und in der Industrie 758 Millionen. Im Jahr 1991 betrug die Gesamtzahl der Erwerbstätigen weltweit 2,35 Milliarden. In diesem Jahr werden es nach Angaben der ILO voraussichtlich rund 3,6 Milliarden sein.
Wenn man berücksichtigt, dass 25 Prozent der Weltbevölkerung unter 15 Jahre und 10 Prozent über 65 Jahre alt sind, bleiben etwa 5 Milliarden Menschen im erwerbsfähigen Alter. Wie man es auch dreht und wendet, wenn man die Kinder von Arbeitnehmern, ihre nicht arbeitenden Partner und ihre Eltern im Ruhestand hinzurechnet, wird mehr als deutlich, dass die Arbeiterklasse nicht nur existiert, sondern die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung ausmacht.
Dies sind die Totengräber des Kapitalismus, wie Marx erklärte. Die Niederlagen im Klassenkampf der 1970er Jahre haben es der Kapitalistenklasse ermöglicht, ein neues Gleichgewicht zu erreichen, eine vorübergehende Stabilisierung des Systems. Sie konnten überall gegenüber der Arbeiterklasse in die Offensive gehen,Rechte zurücknehmen, die sie in früheren Kämpfen als Zugeständnis gaben, in vielen Fällen die Gewerkschaften zerschlagen, die Arbeitsbelastung erhöhen und einen größeren Teil des Mehrwerts aus der Belegschaft herauspressen.
Zu diesem Prozess gehörte auch die Verlagerung von Investitionen in Gebiete der Welt, in denen sie billigere Arbeitskräfte finden konnten. Dies wurde auch als Druckmittel gegen die organisierten Arbeitnehmer in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eingesetzt. Die Arbeiterklasse wurde zu dieser Zeit zurückgedrängt. Die Kehrseite dieses Prozesses war jedoch, dass die Arbeiterklasse als Ganzes weltweit zahlenmäßig massiv gestärkt wurde. Objektiv betrachtet war das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen also noch nie so günstig wie heute für die Arbeiterklasse.
Das ist die konkrete Weltlage. Die Menschen, die die Schuhe, die ich trage, den Tisch, an dem ich sitze, und das Essen, das ich esse, hergestellt haben, gibt es tatsächlich. Die Rolle der kapitalistischen Propaganda – verbreitet durch die Massenmedien, durch Schulen und Hochschulen, durch Bücher und Artikel – besteht jedoch darin, die Masse der arbeitenden Menschen glauben zu machen, dass sie schwach und isoliert sind und daher nicht die Macht haben, die Gesellschaft zu verändern.
Unterstützt werden sie dabei von den Führern der Gewerkschaften, der Labour-Partei in Großbritannien und all den anderen so genannten „Führern“ der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene, die ständig die Kämpfe der Arbeiter verraten und daran arbeiten, das Vertrauen der Arbeiterklasse zu untergraben.
Die Leute an der Spitze, die Kapitalistenklasse und ihre seriösen Strategen, sind sich jedoch durchaus bewusst, wie groß die Arbeiterklasse wirklich ist, und sie fürchten um ihre eigene Zukunft, sollte sich diese Klasse ihrer eigenen Stärke bewusst werden.
Die Weltwirtschaftskrise, in die wir eingetreten sind, ist in Umfang und Tiefe beispiellos. Ihre Auswirkungen beginnen sich in Massenbewegungen bemerkbar zu machen, wie die jüngsten Ereignisse mit großen Streikwellen in Frankreich und Großbritannien oder die aufständischen Bewegungen in Peru oder Sri Lanka zeigen. In einem Land nach dem anderen haben wir das Potenzial für einen revolutionären Umsturz des gegenwärtigen Systems gesehen.
Das Leben lehrt, und die Arbeiterklasse wacht langsam auf und erkennt, wie ernst die Krise wirklich ist. Dies wird die mächtige Kraft in Bewegung setzen, zu der die globale Arbeiterklasse geworden ist. Mit einer revolutionären Führung könnte sie den Kapitalismus mit der Leichtigkeit auslöschen, wie ein Elefant eine Fliege zertrampelt. Die Aufgabe der Marxisten ist es, diese Führung aufzubauen.