Revolution in Serbien: Sva Vlast Zborovima! Alle Macht den Räten! (Funke Nr. 232)

Sechs Monate nach dem tödlichen Einsturz eines Bahnhofvordaches in Novi Sad, Serbien strömen die Massen weiter auf die Straßen und bilden Strukturen der eigenen Macht. Parlament und Gemeinderäte sind paralysiert. Präsident Vučić und der bürgerliche Machtapparat sind ganz in der Defensive. Der Aufstand ist ein massenhaftes Erwachen aus drei Jahrzehnten Erniedrigung, Entfremdung und Spaltung. Von Vincent Angerer & Emanuel Tomaselli
In Serbien vollzieht sich der Übergang in eine neue Phase des internationalen Klassenkampfes. Mit den Zborovi – wörtlich: Räte – schafft die Bewegung eigenständige Strukturen, die den Institutionen des bürgerlichen Staates aktiv entgegengestellt sind. Eine Doppelmacht zwischen dem bürgerlichen Staatsapparat und der Selbstorganisierung der Bewegung ist im Entstehen begriffen.
Im März fanden 1697 Proteste in 378 Orten statt und 200 Zborovi tagten. Am Osterwochenende (18.–21. April) fanden über 70 Proteste statt – und mindestens 10 lokale Zborovi tagten, von der 9.000-Einwohner-Stadt Surdulica nahe der bulgarischen Grenze bis nach Novi Sad, wo gleich zwei Zbor-Tagungen abgehalten wurden.
Und es geht weiter: Die Zborovi begannen als lokale Massenversammlungen, jetzt beginnen sie sich auf regionaler Ebene zu zentralisieren. Ein gesamtserbischer Kongress aller Räte ist in Planung.
Die Bewegung geht in den sechsten Monat. Seit 15. April ist das Gebäude des serbischen Staatsfernsehens (RTS) in Belgrad blockiert, der aktuell heißeste Machtkampf zwischen Bewegung und Regierung. Unterbrochen wurde dieser kurzfristig am 22.4., um gemeinsam der 16 Todesopfer des verbrecherischen NATO-Bombardements des Senders vor 26 Jahren zu gedenken. Dies ist charakteristisch für die Aufstandsbewegung an sich: sie steht in scharfer Opposition zur Regierung und auch zu imperialistischer Einmischung und Ausbeutung Serbiens und seiner Arbeiter durch internationale Konzerne. Dies ist ein Problem für die EU und auch ihre lokalen politischen Ableger.
Aus Kragujevac, einer zentralserbischen Stadt, hat ein lokaler Zbor Arbeiter nach Belgrad geschickt, um die blockierenden Studierenden vor Regime-Gangstern zu schützen. Auch serbische Kriegsveteranen aus dem Bosnienkrieg sind vor Ort. Diese Leute, die einst Instrument von Mafiakapitalisten im Bürgerkrieg waren, stehen heute an der Seite der Jugend. Während der orthodoxen Osterfeiertage kamen muslimische Studierende aus dem mehrheitlich muslimischen Sandžak nach Belgrad, um ihre orthodoxen Mitstreiter während der christlichen Feiertage abzulösen.
Ein Veteran aus dem Bosnienkrieg begrüßte sie mit den Worten:
„An die Studierenden aus Novi Pazar möchte ich sagen: Selam Alejkum! Und auch an ihre Eltern, alle sollen wissen – es gibt nicht mehr unsere und eure Kinder, es gibt nur noch unsere Kinder. Man hat uns damals unter Lügen in den Krieg geschickt. Und eines dieser Zentren der Lüge war der RTS. Genau deshalb stehen wir heute hier. Wir Kriegsveteranen legen den Schwur ab, auf unsere Ehre und unser Leben, dass hier niemandem auch nur ein Haar fehlen wird.”
Der Aufstand ist ein massenhaftes Erwachen aus drei Jahrzehnten Erniedrigung, Entfremdung und Spaltung. Präsident Vučić ist paralysiert.
Bilder dieser Verbrüderung gehen durch die ganze Region: muslimische Frauen mit Hijab an vorderster Front der Bewegung im Sandžak. Ein Demonstrant aus Novi Pazar sagt unter Tränen: „Endlich ist einer der erbärmlichsten Aspekte dieses Regimes gefallen – die Spaltung. Wir sind alle eins, und nichts kann uns trennen. Vorwärts bis zur Erfüllung aller Forderungen!“
Diese Bilder und Videos verbreiten sich auch in den anderen ex-jugoslawischen Republiken. Auch in Bosnien kam es zeitgleich zu Versammlungen gegen das Bauprojekt in Majevica – Bosniaken, Kroaten und Serben nahmen gemeinsam teil. Die serbische Bewegung zerreißt nicht nur im Land die vergiftende nationale und religiöse Spaltung, sondern in ganz ex-Jugoslawien. Von Makedonien bis Slowenien und in Nachbarländern finden Solidarätskundgebungen statt und eine Ermutigung eigene soziale und politische Proteste zu starten.
Die Wurzeln der Zborovi reichen tief zurück in die soziale Struktur und die Tradition des Massenkampfes am Balkan. Schon 1804 erhob sich die bäuerliche Bevölkerung Serbiens gegen die osmanische Herrschaft – eine Agrarrevolution, die die Umverteilung von Land erzwang. Dabei spielten die Dorfkommunen (Zadruga) eine Schlüsselrolle – sowohl im Widerstand gegen die Osmanen als auch gegen die zögerlichen Dorfältesten. Engels analysierte sie später im „Ursprung der Familie“. Der Impuls zur Selbstorganisation wurde im titoistischen Jugoslawien institutionalisiert – als Hilfsorgan des autoritären Staates, nicht als Machtorgan der Arbeiter.
Der aktuellen Bewegung gingen zahlreiche Niederlagen und Kämpfe voran: Fabrikbesetzungen in den frühen 2000ern, die Unibesetzungen in Beograd (die bewusst die Zborovi-Tradition erneuerte, 2006-7) und Zagreb (2009) bis zu den Protesten gegen imperialistische Bauprojekte ab 2016. Der Tiefpunkt war der Ausbruch einer Welle von brutaler tödlicher Gewaltanschlägen an Schulen im Jahr 2023 – Ausdruck des aufgetürmten Stresses in der Gesellschaft, die gleichzeitig entsetzt auf diese Barbarei reagierte. Die Bewegung gegen das Immoprojekt Beograd Waterfront (2017-2016, Ne davimo Beograd) – war anfangs breit, wurde jedoch rasch in parlamentarische Bahnen gelenkt. Zwar kokettiert ihr Nachfolger, das grünliberale Bündnis ZLF, mit ökologischen Protesten wie dem Widerstand gegen den Lithiumabbau – doch stets unter dem Vorbehalt, der Kampf richte sich nicht gegen die EU. Dass ausgerechnet Brüssel die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen dieses Ausverkaufs maßgeblich mitgestaltet, bleibt dabei unerwähnt. Genau solche Erfahrungen haben das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber parteipolitischen Stellvertreterlösungen gestärkt.
Die Lehre aus all diesen Erfahrungen – alt wie neu – ist klar: Nur die Massen selbst können sich befreien. Nicht das Parlament, nicht „linke“ NGOs, nicht westliche Fördermittel – das ist alles Korruptionssumpf für die Reichen. Die Zborovi hingegen sind die Keimform eines neuen Systems – eines Systems, das der Jugend eine Perspektive bietet, die nicht Emigration oder Ausbeutung bedeutet. Weder Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, noch Ausbeutung ihrer Arbeitskraft!
In der Bewegung gibt es zwei große Denkrichtungen: eine will die Ablösung der Vučić-Regierung durch eine technokratische Übergangsregierung, eine andere bevorzugt eine permanente Weitermobilisierung und Ausbau der Gegenmacht der Zborovi.
Diese und alle anderen Fragen müssen in der Bewegung offen ausdiskutiert werden, nur so kommen wir voran. Argumentieren, zuhören, abstimmen und vor allem praktisch voranschreiten! Die Ablehnung der parlamentarischen Politik der Ausbeuter darf uns nicht hindern die politischen Zukunftsfragen in der Bewegung offen auszudiskutieren. Wer Politik und politische Organisationen aus der Bewegung draußen haben will, öffnet nur die Hintertüre für die alte bürgerliche Politik, in der alle wichtigen Entscheidungen im Verborgenen getroffen werden.
Wir Kommunisten sagen daher offen: Eine Technokraten-Regierung wäre eine Sackgasse, keine Lösung, sondern eine Niederlage. Mittels der alten Institutionen und der Macht der Bosse in den Banken, Bergwerken und Fabriken würde sie die alte Erniedrigung und Ausbeutung wieder festigen. Die Lage der Massen würde dadurch sogar verschlechtert. Daher sagen wir: Alle Macht den Räten! Die Zborovi sollen aus ihren Reihen eine zentrale Regierung bilden.
Die Enteignung aller Räuber und Profiteure sollte ein erstes zentrales Gesetzesprojekt dieser neuen serbischen Regierung sein. Wer von der Ausbeutung der Bevölkerung lebt – ob durch internationale Firmen oder lokale Schergen – soll enteignet werden, so kann das ganze serbische Volk sein Schicksal selbst bestimmen.
Dann werden nicht mehr Banker aus Brüssel oder Wien, sondern die Massen selbst am Balkan entscheiden, wie produziert wird – für wen und wozu und wie lange die Arbeitszeit ist. Das ist der Weg der Befreiung für alle Völker am Balkan: Nur gemeinsam kommt man voran!
Ein Student kommentierte die Kundgebung in Novi Pazar so: „Es war unglaublich. Noch nie habe ich in meinem Leben gesehen, wie Menschen so sehr an einem Strang ziehen. Es ging nicht mehr um Religion oder Herkunft – die Leute waren einfach nur noch gemeinsam.“
Dann fügte er hinzu: „So etwas wird sich nie, nie, aber wirklich nie mehr wiederholen.“
Doch wenn die Massen die Macht übernehmen, wenn sie über die Zborovi das Land regieren und den Imperialismus verjagen – dann wird jeder Tag so sein.
• Schluss mit Vučić! EU/Österreich: Hände weg vom Balkan!
• Für die Enteignung der Konzerne und Banken!
• Keine „Experten“-Regierung: Alle Macht den Massen! Für eine Regierung der Zborovi!
• Für eine demokratische Regierung der Zborovi
• Für eine sozialistische Föderation Jugoslawiens und des Balkans
Funke 233/28.04.2025
Montag, 18 Uhr
Ort: O.0.01 Stiftungssaal Universitätsstraße 65-67
Dienstag, 18 Uhr
Ort: Hörsaal 15.05 im RESOWI-Zentrum (Universitätsstraße 15)
Mittwoch, 18 Uhr
Ort: Hörsaal 14A im Hauptgebäude (Karlsplatz 13, Stiege III, 3. OG)
Donnerstag, 08.05., 18 Uhr,
Ort: Hörsaal 3 – GeiWi (Campus Innrain)
Freitag, 18 Uhr,
Hochschulstraße 1, Dornbirn (Treffpunkt Cafe Schräg)