Die bürgerliche Demokratie ist in der Krise, weil die Herrschenden zunehmend gespalten sind und die Konzerne ihre Interessen immer schon mit Staatsmacht durchsetzen. Von Emanuel Tomaselli.
Die herrschende Klasse navigiert nur noch auf halbe Sicht und ohne klaren Kurs durch die Nebel der „Vielfachkrisen“ des Kapitalismus hindurch. Sinnbildlich dafür steht das historische Musterland der bürgerlichen Demokratie, die USA. Ihre Verfassung und das gut geölte Zusammenspiel ihrer parlamentarischen und staatlichen Institutionen regelten die Geschäfte der Herrschenden stets stabil und zuverlässig: „In den Vereinigten Staaten gibt es nur eine Partei, die Eigentümerpartei … und sie hat zwei rechte Flügel: Republikaner und Demokraten“, brachte der US-Historiker Gore Vidal die parteipolitische Verfasstheit des Landes auf den Punkt. Und trotzdem, die Fäulnis des Kapitalismus frisst sich durch den politischen Überbau, beide Parteien und alle Säulen der bürgerlichen Machtausübung (Gesetzgebung, Justiz, Sicherheitsapparate) hindurch. Donald Trump pendelt zwischen Gerichtssälen, Hinterzimmern und Massenversammlungen hin und her, und lässt keine Möglichkeit aus, die Politik von Biden zu sabotieren. Die staatlichen Institutionen werden dabei gespalten wie es zuletzt in den Jahren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten (1861-65) der Fall war.
Österreich liegt etwas dahinter, aber nicht weit. Sebastian Kurz, der wahre Austro-Trump (oder Orban) mit einem Netzwerk an Privatsponsoren und profitablen Russland-Beziehungen, landete vor Gericht und wurde in erster Instanz für schuldig befunden, eine Falschaussage zu Vorgängen in seiner ersten Regierung getätigt zu haben. Nehammer und seine Unterstützer können kurz aufatmen. Die traditionelle ÖVP (also Raiffeisenbank und Bauernbund) um den amtierenden Kanzler ist damit vorerst sicher im Sattel. Das Gerichtsurteil hat damit politische Auswirkungen und man weiß, es wird nicht der letzte Prozess gegen türkis sein.
Es wird trotzdem ein kurzer Trost der politischen Stabilität bleiben. In der letzten Legislaturperiode erlebten wir vier Kanzler, zur Erinnerung: Bierlein, Kurz, Schallenberg, Nehammer. Zur Realität der bürgerlichen Demokratie im Österreich der letzten Jahre gehören: ein Putsch in der ÖVP durch Kurz und Getreue („Projekt Ballhausplatz“ 2017), die permanente Krise der SPÖ, Freunderlwirtschaft und Korruptionsverdacht en gros (ÖVP, FPÖ) und im Schrebergartenformat (SPÖ), Paralysieren des Geheimdienstes durch politische Machtkämpfe, Politisierung der Justiz und offene Feindschaft zwischen ihren Abteilungen. Die Krisensymptome sind greifbar und mitunter menschlich tragisch, wie der Selbstmord von Christian Pilnacek, dem einst starken Mann im Justizministerium, zeigt.
Gleichzeitig: Von Postenbesetzungen bis zu langfristigen Weichenstellungen grundsätzlicher Fragen wie Klimaschutz und einer sicheren Energieversorgung liegt auf Regierungsebene vieles auf Eis. Einig sind sich die Parteien im Schüren von Rassismus, der militärischen Aufrüstung und der bedingungslosen Solidarität mit Israel im Krieg gegen die Palästinenser. Spaltung der Arbeiterklasse und Kriegstreiberei sind Programm aller Parlamentsparteien, die den Kapitalismus politisch verteidigen. Die Widersprüche innerhalb der Eigentümerpartei (Konservative, Liberale, Rechtsdemagogen) bestehen allein in den spezifischen Eigeninteressen der einzelnen Kapitalfraktionen.
Die Triebkraft des Chaos
Die politische Chaotisierung fließt aus der organischen Krise des Kapitalismus und speziell dem Auseinanderfallen des freien Welthandels, der die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Die Kontrolle über den Staatsapparat und die Gesetzgebung ist damit ein zentrales Instrument der Profitmaximierung nach innen und außen. Klingt kompliziert, ist aber einfach. Wenn Klimaministerin Gewessler ein Gesetz zur Förderung von Solarstrom durchsetzt, profitiert davon eine andere Kapitalistenfraktion als jene, die weiter auf russisches Erdgas und Verbrenner-Motoren setzt. Neos und Grüne stehen für eine offensive prowestliche Politik, was offensive „Klimapolitik“ und Konfrontation mit Russland beinhaltet. Die FPÖ steht dafür, die historisch gewachsenen Profitinteressen Österreichs in Russland selbstbewusster zu verteidigen und dafür eine Schwächung der Beziehungen zum „kollektiven Westen“, insbesondre der EU, in Kauf zu nehmen. ÖVP und SPÖ-Spitze hoffen darauf, dass die internationalen Krisen letztendlich an Österreich vorbeiziehen und man weiter mit allen gute Geschäfte machen kann. Diese Vorstellung, die Zeit zurückdrehen zu können, ist die größte Utopie von allen.
Der entstehende „Multilateralismus“ offen miteinander konkurrierender imperialistischer Mächte bedeutet nicht, dass die Welt friedlicher wird, sondern das genaue Gegenteil. Die weltweit seit 1945 dominanten USA konnten in den vergangenen zwei Jahren nur gegenüber ihren Verbündeten in Europa zentrale Interessen vollständig durchsetzen, etwa die wirtschaftliche Abkoppelung der EU von Russland, die nur den USA nützt.
Der Abstieg des Wirtschaftsstandortes Österreich, der von Export von Finanzkapital und Waren abhängig ist, ist in dieser neuen Weltsituation unausweichlich. Damit stehen zentrale Fragen im Raum: Wie positioniert sich die kleine Räubernation Österreich zukünftig zu den großen Räubern, die miteinander im offenen Konflikt stehen? Welche Kapitalfraktion kann ihre Profitinteressen unter den veränderten Bedingungen am besten durchdrücken? Und letztlich: Welche mögliche Regierungskonstellation eignet sich am besten dafür, die Kosten des Niedergangs auf den Rücken der Arbeiterklasse abzuladen? Dies sind die grundlegenden Spaltungslinien innerhalb der Bürgerlichen Österreichs.
Der Ukrainekrieg hat Österreich auf eine geopolitische Bruchlinie geschoben. Das ist es, was die Entwicklung hierzulande in den kommenden Jahren wirtschaftlich und politisch prägen wird. Egal welche Farben die kommende Regierung haben wird, es wird eine der sozialen Angriffe zur Kompensation der verlorengehenden Profite der Konzerne werden. Dies ist möglich, weil die Reformisten an der Spitze der Arbeiterbewegung vor den „Sachzwängen“ kapitulieren, um sie mitverwalten zu dürfen.
Konzerne verunmöglichen Freiheit
Im Juli 2015 stimmten knapp zwei Drittel der griechischen Wahlberechtigten in einer Volksabstimmung gegen das von der EU und ihren Mitgliedsstaaten aufgezwungene massive Spar- und Verarmungspaket. Wenige Tage später war die griechische Regierung Geschichte und die Sparmaßnahmen durchgesetzt. Es gibt also Limits, was im Kapitalismus demokratisch entschieden werden kann und was nicht. Diese Grenzen werden von den Konzernen gesetzt. Lenin erklärte:
„Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenz. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d.h. nach Verletzung der nationalen Unabhängigkeit.“
Man könnte meinen, Lenin kommentiert das Weltgeschehen im Live-Ticker. Das Klima ist gekippt, und die Weltklimakonferenz wird von einem Ölscheich geleitet; westliche Medien berichten im Einheitssenderformat über Gaza, um dann die Reichweite moralzersetzender sozialer Medien einzuschränken; ohne dass irgendein Wahlvolk befragt worden wäre, werden am ganzen Kontinent Sonderbudgets für die „Kriegsfähigkeit“ locker gemacht; Banken gelten als „systemrelevant“ und werden daher bei Pleite von Steuerzahlern aufgefangen; …
Wir ziehen die Schlussfolgerung: Die Fäulnis der bürgerlichen Demokratie ergibt sich nicht aus dem Werk dieses oder jenes Demagogen, sondern aus der Produktionsweise des Kapitalismus selbst. Die Enteignung der Konzerne ist die Voraussetzung für eine friedliche und demokratische Entwicklung der Menschheit. Die Arbeiterklasse braucht ein politisches Programm, das wirklich etwas verändern kann: der Sturz des Kapitalismus.
(Funke Nr. 221/27.02.2024)