Reformierbare Fehlentwicklungen oder doch schon „stinkender Leichnam“ (Rosa Luxemburg)? Diese Frage stellen sich heute viele in der Arbeiterbewegung angesichts der Entwicklung der Sozialdemokratie. Von Emanuel Tomaselli.
Seit dem Einigungsparteitag in Hainfeld 1889 ist die Sozialdemokratie die dominierende politische Kraft in der österreichischen Arbeiterbewegung. Doch was ist davon noch übrig? Die schlechtesten Wahlergebnisse und Umfragewerte für die SPÖ seit es Wahlen gibt und eine ganze Generation, der die sozialdemokratische Parteispitze nur als verknöcherter Bestandteil einer durch Medienmanipulationen beschönigten, aber sichtbar verkommenen politischen Elite begegnet ist.
Krise des Programms
Die Politikwissenschaft erklärt sich den Niedergang der Politik als Krise von Großparteien, denen es zunehmend unmöglich sei, die komplexen und differenzierten Interessenslagen moderner Menschen zu einem politischen Programm zusammenzufassen. Dies ist weit von der Realität entfernt. Egal ob schwuler Pensionist, punkige Schülerin, stolzer Böhler-Arbeiter oder Kleinunternehmerin: Das Leben aller ist dadurch charakterisiert, dass ein immer größerer Anteil ihrer Arbeit dafür verwendet werden muss, die öffentliche Verschuldung zu refinanzieren und den Finanzsektor stabil zu halten. Die Auseinandersetzung um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird von der Sozialdemokratie jedoch nicht geführt, da die herrschenden sozialdemokratischen Cliquen die vom Kapital diktierten „Sachzwänge“ als alternativlos anerkennen. Anders formuliert: Sie sind Teil des politischen Hofes der Bankendiktatur geworden.
Im europäischen Kontext
Trotz der teilweise heftigen sozialen Auseinandersetzungen (beginnend mit der mehrwöchigen Streikbewegung gegen die Pensionsreform im Herbst 2009 in Frankreich) konnte die Arbeiterklasse bislang den Griff der Bürgerlichen auf die Programmatik und das Führungspersonal ihrer historischen sozialdemokratischen Organisationen nicht brechen. Im Gegenteil: Der Vorsitzende der sozialdemokratischen PASOK, Papandreou, beugte die Partei auf den Druck der Troika, bis sie zerbrach. Der Erosionsprozess begann mit der Lossagung wichtiger Sektoren der sozialdemokratischen Gewerkschaftsfraktion PASKE, dem Ausschluss von 22 Parlaments-Abgeordneten (weil sie gegen das Sparpaket stimmten) und endete mit der Entfernung von Papandreou als Parteivorsitzenden, sobald er in den Augen des europäischen Kapitals Schwäche in der Durchsetzung der Bankenrettungspolitik zeigte. Das deutsche Finanzministerium setzte daraufhin seinem „Mann in Athen“, Venizelos, als Nachfolgeparteichef durch. Bei den kommenden Wahlen im Mai wird die PASOK zwei Drittel ihrer ehemaligen WählerInnen verlieren, drei Viertel der GriechInnen geben an, jeden sozialdemokratischen Abgeordneten, der ihnen in die Finger kommt, verprügeln zu wollen. (Zum Ausgang der Wahlen siehe Wähler sprechen – Märkte zittern: Die Bedeutung der Wahlen in Griechenland und Frankreich)
Den gleichen Weg ging der Parteichef der spanischen PSOE, Zapatero, einst die Zukunftshoffnung der europäischen Sozialdemokratie. Nachdem ihm die Märkte andeuteten, dass sie sich eine neue Wirtschaftspolitik wünschen, kündigte Zapatero – ohne seine sichtbar schockierten Ministerkollegen zu informieren – eine brutale Lohnkürzungs- und Sozialabbaupolitik an. Er fügte gleich hinzu, dass er nach der Wahlperiode für kein politisches Amt mehr zur Verfügung stehe, also bereit sei, rücksichtslos zu agieren.
Selbst frei von Regierungsämtern akzeptieren die sozialdemokratischen Parteien die politischen Prämissen pro-kapitalistischer Politik. Ed Miliband von der britischen Labour Party verweigerte sowohl der Jugendbewegung gegen die Verdreifachung der Studiengebühren als auch den Gewerkschaften im Kampf gegen die Pensionsreform jegliche politische Unterstützung. Gleiches gilt für die Demokratische Partei in Italien. Letzteres Beispiel zeigt, dass eine traditionelle Arbeiterpartei unter bestimmten Bedingungen überhaupt ihren Klassencharakter ändern und zu einer normalen bürgerlichen Partei werden kann.
Der entscheidende Unterschied zwischen Werner Faymann und Giorgos Papandreou liegt in den unterschiedlichen materiellen Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik. Dies lässt sich darauf reduzieren, dass Österreich eine viel höhere Arbeitsproduktivität hat, was die ökonomische Basis bietet, die Angriffe auf den Lebensstandard in Österreich scheibchenweise vorzutragen und politische Ablenkungsmanöver im Steuerbereich zu lancieren.
Kadavergehorsam
Im Jahr vier der Krise muss man nüchtern festhalten, dass sich bisher kein Abgeordneter der Sozialdemokratie in Europa gegen die Interessen der Bankendiktatur gestellt hat, ohne aus der Partei ausgeschlossen worden zu sein. Im Gegenteil: Die Führungen der europäischen Sozialdemokratien schafften es, die Organisation der Arbeiterklasse zum Instrument zu machen, mit dem sie die Lasten der Krise auf die Bevölkerung abwälzen. Die sozialdemokratische Führung agiert heute in gesellschaftspolitischen Fragen als der „linke Flügel“ des jeweiligen Bürgertums, wobei in der Wirtschaftspolitik der nationale Schulterschluss mit dem Kapital gilt.
Wie eng der Spielraum der sozialen Basis der Sozialdemokratie heute ist, zeigt Niki Kowall von der Sektion 8, der mit seiner Initiative zum Verbot des kleinen Glückspieles Furore machte. In einem Gespräch mit dem „Standard“ lehnte er die Annahme eines Mandates mit der folgenden Begründung ab: „Entweder die Totalkonfrontation mit dem Klub, oder ich müsste viele Leute enttäuschen, die große Hoffnungen in mich gesetzt haben.“ Dabei muss man hinzufügen, dass Kowalls Anspruch eine Politik ist, die „jenseits von Neoliberalismus und Marxismus“ – die er als Zwillinge versteht – „vernünftige (wirtschaftspolitische) Reformen“ durchzusetzen vermag. Sein Programm lautet, auf „europäischer Ebene aktiv und glaubwürdig für eine koordinierte Steuer- und Lohnpolitik, für eine strikte Finanzmarktregulierung und eine Devisentransaktionssteuer einzutreten.“
Der politische Spielraum in der Sozialdemokratie wird jedoch völlig vom unmittelbaren Interesse der Finanzindustrie und ihrer Lobbyorganisationen dominiert, und dieser Druck ist so stark, dass selbst Maßnahmen, die für sich genommen auf eine Stabilisierung der Ökonomie und der Gesellschaft abzielen, keinen Platz haben. Damit hat die Sozialdemokratie ihr historisches Kerngeschäft zumindest für den Moment aufgegeben.
Kapital, Staatsapparat und Bürokratie
Der zentrale Grund der politischen Herrschaft des Bürgertums über die Massenorganisationen der Arbeiterklasse liegt in der materiellen Abhängigkeit des sozialdemokratischen Parteiapparates von den Institutionen des Nationalstaates, der Kommunen und der EU. Die Sozialdemokratie der 1. Republik gab sich noch strenge personelle Trennungen zwischen Staatsämtern und Parteifunktionen. Mit dieser Tradition wurde 1945 gegen den heftigen Widerstand der Parteilinken gebrochen. Heute ist eine unabhängige Existenz der Partei vom Staat und dessen Ressourcen nicht mehr vorstellbar. Die Politik ist von Staatsräson geprägt. Der materiell von dieser Politik abhängige Apparat in Partei und öffentlichen Ämtern fügt sich diesem Druck aus Motiven der Sicherung der persönlichen Existenz. Dieser Trend wird dadurch gestärkt, dass die heutige Sozialdemokratie ihre FunktionärInnen hauptsächlich aus UniabsolventInnen und Angehörigen des bestehenden Apparates rekrutiert. Selbst auf Wiener Bezirksratslisten werden Mandate, die historisch Teilorganisationen oder Fachgewerkschaften zustehen, nach „Parteinotwendigkeit“ vergeben. Statt VertreterInnen von sozialen Gruppen, wie etwa den EisenbahnerInnen, die im organisierten Kontakt mit ArbeitskollegInnen stehen, erobern dann geschichts- und traditionslose, freischwebende Individuen, die ihre politische Existenz allein einem Apparat verdanken, die politische Arena. Laura Rudas und Niko Pelinka stehen stellvertretend für diese Prozesse: In zwei Wahlkämpfen dem uncharismatischen Parteichef das jugendliche Gesicht danebenhalten und schon ist die Karriere ins Laufen gekommen. Doch das Einüben dieser Korrumpierungsmethoden beginnt schon viel früher, etwa durch die Zuerkennung von Ferialpraktika für ausgesuchte GenossInnen der SJ. Früh übt sich, wie man persönliche Loyalitäten und gewissenslose jugendliche Abstimmungsautomaten wie einen Max Lercher schafft. So werden Konferenzen beschickt, so werden Karriereleitern gelegt und Gremien besetzt. Die Führungsstrukturen der Organisation der Arbeiterklasse werden so zu einem in sich abgeschlossenen Soziotop, geprägt von materiellen Abhängigkeiten und einer politischen Meinungsbildung, die immer von oben nach unten verläuft. Die nun eingeleitete „Öffnung der Partei“ für Nicht-Mitglieder verfolgt das Ziel, historisch gewachsene Strukturen zu unterlaufen und diese Maschinerie noch effizienter zu machen.
Doch halt!
Wenn die Bürgerlichen auch volle Kontrolle über die Tagespolitik der Partei haben, so ist die Arbeiterklasse als soziale Basis der Partei doch noch immer ein zentrales Element für das Verständnis der Sozialdemokratie. Sowohl bürgerliche Kommentatoren als auch Politiker wie Schüssel und Gusenbauer sehen im Gewicht der Gewerkschaftsbewegung ein zentrales Element, warum die SPÖ „sich vom Klassenkampf noch nicht völlig verabschiedet hat“ und in der „Wettbewerbsgesellschaft noch nicht vollkommen angekommen ist“, wie es Oliver Pink im Leitartikel der „Presse“ vom 17.4. formuliert hat.
Der Unmut in der Gesellschaft sucht nach Möglichkeiten, sich politisch zu artikulieren. Wenn die Arbeiterklasse die Bühne der Geschichte betritt, kann dies an einer Massenorganisation mit ihrem breiten Organisationsnetz in Wohnvierteln und besonders der Verankerung in den Betrieben, auch wenn ihre Politik und ihre Struktur noch so verkommen ist, nicht spurlos vorüber gehen. In Österreich konnte sich historisch neben der Sozialdemokratie nie eine andere relevante Arbeiterpartei herausbilden, und die Gewerkschaften sind in einer Einheitsorganisation zusammengefasst, die von der Sozialdemokratie geführt wird. Unter diesen Bedingungen wäre es ein fataler Fehler, die Bedeutung der sozialdemokratischen Tradition in künftigen Klassenkämpfen und in der Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung nicht zu verstehen.
Konkret
Historische Gesetze bieten keine Antwort auf die konkrete Frage: „Was soll ich mit dieser Partei noch anfangen?“ Die SPÖ zu ignorieren und Luftschlösser linker Projekte im gesellschaftlichen Vakuum zu bauen, führt ins politische Nichts. Ebenso hoffnungslos ist es, auf Selbstheilungsprozesse zu hoffen und in Übereinstimmung mit der Löwelstraße homöopathische Therapien zur Parteireform zu lancieren, wie dies die SJÖ-Spitze derzeit tut.
Die Frage muss konkret gestellt werden: Steckt die Führung der SPÖ mit den österreichischen Banken und europäischen Institutionen, die unseren südeuropäischen KollegInnen das Leben unmöglich macht, unter einer Decke oder ist sie deren politischer Gegner? Die Antwort ist offensichtlich. Eine politische Reformierung der Parteispitze und der von ihr geschaffenen Strukturen ist unmöglich, sie ist Teil des politischen Systems der Bankendiktatur. Will sich die Arbeiterklasse ihre Organisationen zurückerobern, muss die Linke offensiv auf einen politischen Bruch mit der Sparpolitik hinarbeiten. Sparpaket, Rettungsmechanismen, Koalition mit Bürgerlichen, Entdemokratisierung: Überall, wo die Parteiführung im Sinne der Bürgerlichen Politik macht, sagen wir klar und öffentlich NEIN. In diesen Fragen, die das Leben der Lohnabhängigen, der Jugendlichen und der Pensionisten direkt verschlechtern, stellen wir uns gegen die Parteiführung. Wir stellen Anträge und kämpfen für Mehrheiten in jedem Gremium, in jeder Teilorganisation, in der wir aktiv sind. Wir machen unseren Mandataren unmissverständlich deutlich, dass wir erwarten, dass sie im Parlament, Landtag und Gemeinderat gegen Kürzungen stimmen müssen, und führen dementsprechende Abstimmungen herbei. So stärken wir den schwankenden Abgeordneten den Rücken, so fordern wir offen bürgerliche SP-PolitikerInnen heraus.
Eine besondere Verantwortung in der Verankerung und Propagierung dieser Politik kommt der Sozialistischen Jugend zu. Sie wird von der Arbeiterbewegung als linker Flügel gesehen und geschätzt. In der Geschichte der Jugendorganisation agierte sie oft als Fraktion, die den Unmut breiterer Parteikreise artikulierte (1918, 1933, Ende der 1940er und Anfang der 1980er).
Verteilungskämpfe stehen europaweit auf der Tagesordnung und werden zumindest das kommende Jahrzehnt prägen. Ökonomische Kämpfe, die auf der Straße, den Unis und den Betrieben ausgetragen werden, haben einem immanent politischen Charakter. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich einen politischen Ausdruck geben. Und dies wird maßgeblich darüber entscheiden, in welcher Form sich die Sozialdemokratie entwickelt. Ist die Parteilinke stark genug, wird sie mit den sozialen Kämpfen im Rücken die Bürgerlichen aus der Partei hinausdrängen können. Bleibt sie schwach, wird der Druck auf die Gewerkschaftsführungen gewaltig steigen, eine neue Arbeiterpartei aufzubauen. Eine Spaltung der Sozialdemokratie, wie nach 1934, wäre dann das Resultat.
Nicht ausschließen sollten wir jedoch, dass in Österreich die Bürgerlichen früher oder später die SPÖ in die Opposition schicken. Diese würde es der Sozialdemokratie ermöglichen, wieder stärker ein eigenes Profil zu entwickeln und somit politische Autorität zurückzugewinnen. Sie verfügt noch immer über nicht zu vernachlässigende soziale Reserven in der Gesellschaft. Nach der schwarz-blauen Wende von 2000 haben wir das schon einmal gesehen. Dies würde die Differenzierungsprozesse in der Sozialdemokratie wieder verwischen und den Reformismus stärken.
Ausgeschlossen werden kann jedoch, dass die kommenden Jahre vorbeiziehen, ohne dass die Lebensinteressen der Lohnabhängigen politisch und massenhaft artikuliert werden. Wie es Marx im „18. Brumaire“ treffend beschreibt, liegt der Ausgangspunkt dieser unweigerlichen Entwicklung in den jeweiligen nationalen Traditionen der Arbeiterbewegung: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“
In den Ländern, in denen es eine historisch starke kommunistischen Arbeiterbewegung gibt, sehen wir (mit der spezifischen Ausnahme Italiens) programmatische Linksentwicklungen, Mitgliederzuwächse und teils spektakuläre Wahlsiege von Parteien links der Sozialdemokratie. In Österreich ist diese Tradition zu klein, als dass sie Ausdruck der antikapitalistischen Stimmung werden könnte. Dies macht die politische Situation in Österreich für den Moment so verzwickt. Was wir jedoch in keinem Land sehen, ist, dass voluntaristische linke Projekte Meter machen, im Gegenteil sie stürzen in die Krise (siehe Wahlen in Frankreich: Der Mensch zuerst – aber wie?).
Der Klassenkampf verlangt heute weder blinden Aktivismus noch faule Kompromisse mit verfaulten „Führern“. Er verlangt die geduldige Verankerung von demokratischen Methoden in den Betriebsräten, Gewerkschaften und politischen Organisationen unserer Klasse. Und vor allem verlangt er programmatische Klarheit der AktivistInnen. „Der Funke“ sieht seine Aufgabe darin, alle Ansätze zu unterstützen und weiterzuentwickeln, die dazu führen können, dass die Arbeiterklasse wieder eine Kampfpartei bekommt.
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