Die gesamte Generation unserer (Ur-)Großväter sollen NS-Täter gewesen sein und damit schuld am Holocaust. Daraus ergebe sich heute eine besondere historische Verantwortung gegenüber dem Land der Überlebenden – Israel. Diese Geschichtslüge der Herrschenden verbirgt den Klassencharakter des Faschismus, entehrt den Widerstand der Arbeiterklasse und deckt die Verbrechen und die Profite der Kapitalistenklasse, damals und heute. Von Tobias Reinhard.
Jeder Geschichtsmythos will früh eingeübt sein. Schulbücher versuchen, im Umgang mit dem Nationalsozialismus (NS) zwei Sachen zu behaupten:
- Widerstand gegen den NS sei eine Angelegenheit von ein paar wenigen mutigen Menschen gewesen. Damit wird indirekt behauptet, dass die sogenannte NS-Volksgemeinschaft funktioniert habe.
- Die nationalsozialistische Bewegung habe klassenübergreifend die Massen unter dem Banner des Antisemitismus geeint.
Beides ist falsch!
Die soziale Zusammensetzung der NS-Bewegung war überwiegend kleinbürgerlich. Die Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 erfolgte auf demokratischem Wege, unter Zustimmung der Kapitalisten und des Staatsapparates. Das gemeinsame Ziel dieser Interessenskoalition war die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, „normale Verhältnisse“ einkehren zu lassen, ohne Streiks und mächtige Arbeiterorganisationen. Doch die Arbeiterbewegung stellte sich den faschistischen Banden entgegen, auch als diese an der Staatsmacht waren. Die Erfindung und Propaganda der „Volksgemeinschaft“ war eine brutale Kampfansage an alle inneren Feinde Hitlers. Wer sich ihr nicht unterordnen ließ, galt als Volksverräter und fand sich alsbald in den Folterkellern der Gestapo wieder.
Der Massenwiderstand gegen den NS
Es hat bis zum Jahr 2010 gedauert, bis überhaupt erste umfassendere Studien zum Arbeiterwiderstand erschienen sind (Leseempfehlung: Die Schriftenreihe von Siegfried Mielke und Stefan Heinz zu „Gewerkschafter im Nationalsozialismus“). Diese zeigen, dass der Arbeiterwiderstand gegen den NS immens war. Trotz der schnellen Zerschlagung aller Organisationen der Arbeiterbewegung durch den braunen Terror, durch Schlägertrupps der SA und SS, durch Notstandsgesetze und Schutzhaftterror, durch gleichgeschaltete Presse und Enteignungen aller kommunistischer und sozialdemokratischer Einrichtungen, durch Hausdurchsuchungen und Straßengewalt reorganisierten sich die politischen Kader der Arbeiterbewegung sofort im Untergrund.
Der NS konnte seine Herrschaft nur durch die totale Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung und Aufrechterhaltung des Gestapo-Terrors etablieren. Alleine in den ersten beiden Monaten der Kanzlerschaft Hitlers wurden über 200.000 Funktionäre, meist Kommunisten und Arbeiter, eingekerkert, gefoltert oder in Konzentrationslager gebracht. Die Nazis hofften, dass damit Ruhe in die Betriebe einkehren werde, dass die Arbeiter sich endgültig der erhöhten Ausbeutung fügen werden. Doch sobald die deutsche Arbeiterklasse sich vom ersten Schock erholt hatte, erlebten die Nazis eine massive Streikbewegung. Durch den Verfolgungsdruck der Nazis konnte der Widerstand zwar nur lokal und auf Betriebsebene stattfinden, dennoch stürmten Belegschaften die Lohnbüros und forderten die Zwangsabgaben an NS-Organisationen zurück.
Gestoppt werden konnte der breite Arbeiterwiderstand schließlich nur durch einen breit angelegten Schauprozess. 1935 standen 800 Arbeiter vor dem Volksgerichtshof. Erhängung durch das Fallbeil, Einlieferung in Konzentrationslager oder schwerer Kerker war die Konsequenz. Eingegangen in die Geschichtsbücher – bzw. nicht eingegangen – ist dieses Ereignis als „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“. Ab dem Zeitpunkt verlagerte sich auch die Hauptarbeit der Gestapo auf die Überwachung von Industriebetrieben. Terror in den Werkshallen war das einzige Mittel gegen offenen Widerstand der Arbeiter, die ihre rote Identität verteidigten. Eigentlich müssten die Gewerkschaften noch heute stolz auf diese Tradition sein.
Vom Versagen der Reformisten
Mielke und Heinz argumentieren, dass die Arbeiterorganisationen aus Scham die Aufarbeitung ihrer Geschichte nie aufgenommen haben. Tatsächlich, die deutsche Arbeiterklasse wurde von ihren stalinistischen und sozialdemokratischen Führern angesichts der faschistischen Gefahr komplett verraten. Die SPD hoffte bis zum Tag ihrer Zwangsauflösung, dass sie in die NS-Regierung eingebunden werde, dies entsprach auch der politischen Linie der Gewerkschaftsbürokratie. Ein ganz absurdes Beispiel bietet die Vorstandssitzung des deutschen Metallarbeiterverbandes vom 3. Februar 1933, also wenige Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Unter dem Titel „Zur allgemeinen politischen Lage“ brachten die Bezirksvorsteher die Stimmung der Industriearbeiter ein: „In den großen Städten wollen die Massen zur Aktivität übergehen und fordern den Generalstreik!“ Anstatt dieser Forderung zu folgen, wurde die Diskussion von oben abgewürgt mit der Begründung, dass man erstmal abwarten müsse. Diese Politik des Abwartens fand auch internationale Zustimmung, der britische Gewerkschaftsdachverband etwa sprach sich gegen einen Generalstreik gegen Hitler aus. Die stalinistische KPD wiederum vertrat bis 1935 die linksradikale „Sozialfaschismustheorie“, wonach die Sozialdemokratie der „Zwilling“ des Faschismus sei. Damit untergruben die Führungen der KP und SP die Möglichkeit einer Einheitsfront der beiden Arbeiterorganisationen – eine politische Voraussetzung für den Sieg des Faschismus.
Burgfrieden in der 2. Republik
Mit Kriegsende 1945 hatten die Massen die Schnauze voll von Krieg und Ausbeutung. Der Faschismus, der jegliche „Versöhnung“ zwischen Kapital und Arbeit durch blanke Gewalt und Terror durchsetzte und die Ausbeutung der Arbeiterklasse auf ein Maximum trieb, hämmerte den Arbeitern das Wesen des Kapitalismus in die Köpfe. Wenn es darauf ankommt und sie die Möglichkeit haben, dann sind die Bosse bereit, Arbeiter bis zum Tode schuften zu lassen – sie bei Ungehorsam in Lager stecken zu lassen. Bis zum Schluss war die Gestapo die natürliche Verbündete der Unternehmer. Der Kapitalismus selbst ist die Grundlage für den Faschismus. Die Arbeiterklasse hatte das verstanden. Die Restaurierung des Kapitalismus in Österreich sollte dementsprechend ein Gewaltakt gegen die Arbeiter werden.
Der US-Imperialismus und sein politisches Instrument, der Alliierte Rat, waren sich dessen bewusst. Es galt 1945 als Gebot der Stunde, eine Burgfrieden-Regierung zu installieren. Im Parlament sollten zu 50% Bürgerliche und zu 50% Arbeiterparteien vertreten sein. Letztere sollten die Massen unter Kontrolle halten, sie besänftigen und von jeglicher Aktivität abhalten. Ein weiterer Motor dafür war der Militärapparat der Besatzungsmächte. Im ersten Jahr nach Kriegsende wurde ein hartes Regime aufgeboten: Versammlungen waren verboten, Zeitungen ebenso, Kommunikation überhaupt war krass eingeschränkt durch ein Verbot der Bewegungsfreiheit und nicht zuletzt bestand auch bis Dezember 1945 das Verbot der gewerkschaftlichen Betätigung. Das von der Revolution von 1918 inspirierte und erzwungene Betriebsrätegesetz von 1919 wurde nicht wieder in Kraft gesetzt, sondern 1947 durch ein die Sozialpartnerschaft vorwegnehmendes neues Gesetz über die Arbeiter, die die Großbetriebe in Realität kontrollierten, darübergestülpt. Weiters kam es auch in der Beamtenschaft praktisch kaum zu einer Entnazifizierung.
In diesem Rahmen wurde die SPÖ von unliebsamen Elementen gesäubert. Linke Kräfte wurden ausgeschlossen (dieser Prozess war Anfang der 1950er weitgehend abgeschlossen) und der Partei- und Gewerkschaftsappat vom US-Imperialismus gesteuert und kontrolliert neu aufgebaut. So ließen Besatzungsmächte auch nur diejenigen emigrierten Sozialdemokraten nach Österreich zurückreisen, die ihre bedingungslose Zusammenarbeit mit einem kapitalistischen Wiederaufbau anboten. Der geniale britische Revolutionär Ted Grant bezeichnete die Re-Stabilisierung des Kapitalismus in Westeuropa schon ab 1945 als „demokratische Konterrevolution“.
Gleichzeitig bedeutete dieser Prozess für die SPÖ-Führung, dass sie endlich dort angekommen war, wo es die Bürokratie immer hinzieht: Verankerung im Staatsapparat; Kontrolle über Ministerien, Posten in Aufsichtsräten, direkte Kontrolle über Vergabe aller möglicher Gelder und massiver Ausbau des Apparats. Das ist das Wesen reformistischer Sozialdemokratien! Die Konsequenz für die Arbeiterklasse war das Gegenteil. Sie bezahlte die Zeche für den Wiederaufbau. Die Wirtschaftshilfen des Marshallplans gingen an die ehemaligen NS-Unternehmer, die ohnehin schon Kriegsgewinner waren. Die Arbeiter wurden mit Lohn-Preis-Gesetzen abgespeist, was miese Löhne, Hunger und lange Arbeitszeiten bedeutete.
Gleichzeitig bereitete der Alliierte Rat die „Vergangenheitsbewältigung“ vor. Es wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, darunter das „Wirtschaftssäuberungsgesetz“, das bereits im Dezember 1945 in Kraft trat. Nur zur Anwendung kam es nicht, da der Systemwettbewerb zwischen den USA und der Sowjetunion im Anrollen war. Auch in der Beamtenschaft kam es so praktisch kaum zu einer Entnazifizierung. Die Vertreter des Alliierten Rates sprachen von einer „eisenharten Zeit, wo wirtschaftliche Erwägungen allen anderen vorangehen“ (Oberst Jung).
Wer ebenfalls gegen die Entnazifizierung bellte, das war der sozialdemokratische Apparat. In Vorarlberg brachte es der rote Arbeiterkammerpräsident Anton Linder auf den Punkt: Man müsse „durch wahre menschliche Solidarität das traurige Erbe des Faschismus liquidieren“ und „den Geist des Misstrauens und des Hasses überwinden“. Darin liegt der wahre Kern der „Aufarbeitung“. Einstampfen aller Erfahrungen. Schluss mit dem Gejammere von Klassengesellschaft und Ausbeutung und damit kein Zulassen der Meinungen aller Aktivisten, die sich zuvor antinazistisch betätigten. Zudem war das Personal in der Justiz und die Verwaltungsbeamten neben dem Chef noch dasselbe wie während dem NS. Wer mit Behörden zu tun hatte oder lohnabhängig war, hielt besser den Mund. In diesem Klima etablierte sich auch die Schutzbehauptung, man hätte von allem nichts gewusst. Es versteht sich von selbst, dass man lieber in die Defensive ging, da es auch von den Arbeiterparteien nicht nur keine Rückendeckung gab, sondern Zurechtweisungen. Der gesellschaftliche Konflikt wurde durch eine neue „nationale Einheit“ und Burgfriedenpolitik komplett zugedreht.
Heute daraus lernen?
Ein Neuanfang 1945 hätte bedeuten müssen: ein kompletter sozialer und politischer Neuanfang. Das arisierte Kleineigentum hätte man zurückgeben müssen, die Groß-Profiteure aus Zwangsarbeit und dem KZ-System (und das waren alle Großkapitalisten Deutschlands und Österreichs) hätten enteignet werden müssen. Die Produktion in den 6000 „herrenlosen Betrieben“ wurde von den Arbeitern selbst wieder hochgefahren, die Arbeiterkontrolle über die Produktion wurde in vielen Betrieben spontan hergestellt. Eine Arbeiterregierung hätte einen Aufruf an das Exil und die Überlebenden lanciert, zurück zu kommen und hier zu bleiben.
Stattdessen stellten sich die Reformisten von SPÖ und KPÖ in den Dienst des kapitalistischen Wiederaufbaus und die Profiteure der faschistischen Hyperausbeutung füllen bis heute die Liste der reichsten Familien Österreichs und Deutschlands.
In der Schule hört man nichts von Profiteuren des Nationalsozialismus. Weil es um ein unehrliches „Nie wieder!“ geht, beschränkt man sich fast ausschließlich auf Kriegsverbrechen und Verfolgung. Dort heißt es dann: jeder wusste von den Deportationen, aber niemand habe was dagegen gemacht. Naziterror gegen die eigene Bevölkerung wird einfach ausgeklammert und ersetzt durch Feigheit oder gleich durch Antisemitismus als überhistorische ideologische Konstante aller Deutschen und Österreicher. Damit verkommt die Erinnerung an den NS und all seine Verbrechen endgültig zum dummen Moralisieren. Das ist ganz im Interesse der herrschenden Klasse. Lieber wiederholt man die Nazipropaganda von der „Volksgemeinschaft“ anstatt von Klassengesellschaft zu reden. Dahinter stecken damals wie heute manifeste Profitinteressen.
(Funke Nr. 219/06.12.2023)