Wir veröffentlichen hier die Resolution der Kommunisten-Internationalisten in Russland vom 24. Juni.
Die Stellungnahme wurde verfasst, nachdem der Chef der Wagner-Privatarmee, Jewgeni Prigoschin, einen Aufstand ausgerufen hatte und begann, mit seinen Einheiten Richtung Moskau zu marschieren. Die Situation hat sich nun etwas beruhigt: Die Wagner-Truppen haben ihren Vormarsch abgebrochen und nach hastigen Verhandlungen wurde angekündigt, Prigoschin werde ins Exil gehen. Wie die Genossen schreiben, war diese Episode eine Auseinandersetzung zwischen zwei Teilen der russischen Oligarchie. Wieder einmal haben die Oligarchen bewiesen, dass sie nicht daran interessiert sind, die russische Gesellschaft voran zu bringen oder die Lebensbedingungen der russischen Massen zu verbessern. Sie wollen nichts anderes, als ihre privilegierte Stellung erhalten, indem sie von der Arbeit der Arbeiter und Armen leben, indem sie rauben und plündern und jeden echten Widerstand der Massen unterdrücken. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse, der einzige Weg, die Arbeiter aus ihrer misslichen Lage zu befreien, die einzige Möglichkeit, den Krieg, die Korruption und den allgemeinen Verfall zu bekämpfen, besteht darin, dass die Arbeiterklasse die Macht in ihre eigenen Hände nimmt, alle Oligarchen enteignet und den gewaltigen Reichtum des Landes zum Nutzen Aller einsetzt. Das heißt: Der einzige Weg ist eine sozialistische Revolution.
Heute, am 24. Juni 2023, begann ein rechter Putschversuch in Russland. Nach erheblicher anfänglicher Verwirrung scharte sich die herrschende Klasse Russlands um den Präsidenten und verkündete, der Putschversuch sei ein „überraschender Verrat“, ein „Dolchstoß im Rücken“ der Nation.
Angesichts der stündlich neu eintreffenden Lageberichte, brauchen wir diese nicht zu wiederholen. Zunächst einmal sollte man eine unbestreitbare Tatsache festhalten: Es gibt in Russland bereits gut bewaffnete rechte paramilitärische Formationen mit Kampferfahrung, die bereit sind, die Existenz der bestehenden Regierung in Frage zu stellen.
Dem Bürgerkrieg, mit dem das Regime schon so oft die Bevölkerung eingeschüchtert hat, und vor dem es uns zu beschützen versprach, ist Russland jetzt einen Schritt nähergekommen. Diese Lage ist allerdings nicht durch die Anstrengungen der Opposition zustande gekommen, sondern durch das Großkapital und die Rechten, die dank der Restauration des Kapitalismus und insbesondere dank Putin groß geworden sind.
Auf den ersten Blick scheint die Wagner-Rebellion Mussolinis Marsch auf Rom zu ähneln, aber das wäre ein oberflächlicher Vergleich. Die Gruppe Wagner ist eine Privatarmee. Sie ist das Ergebnis des modernen Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft, in der der Staat versucht, eine größtmögliche Anzahl seiner Funktionen an Privatunternehmen auszulagern. Anders als die zahlreichen Freiwilligenverbände der Separatistenbewegung im Donbass 2014 ist die Wagner-Gruppe als kommerzielle Machtstruktur entstanden, um die militärische Aggression der russischen Oligarchen in Syrien – als in diesem Land der Bürgerkrieg tobte – mit physischer Gewalt zu unterstützen. Laut einer Recherche der Zeitung „The Bell“ entstand die Idee zur Schaffung einer solchen kommerziellen Struktur in der Armee, genauer an der Spitze des Verteidigungsministeriums, bereits 2010.
Hinter all dem Geschwätz von Seiten der Patrioten und Militärkorrespondenten ist Jewgeni Prigoschin vor allem eins: Ein Oligarch. Gestützt auf seine zahlreichen Verbindungen zum Umfeld Putins errichtete er ein gewaltiges Geschäftsimperium. Er begann als Gastronom, stieg dann in den Immobiliensektor ein und vervielfachte schließlich sein Vermögen durch Aufträge des Verteidigungsministeriums. Selbst seine umfangreichen Medienaktivitäten waren nie von seinen Geschäftsinteressen getrennt. Der Zugang zu militärischen Aufträgen musste erkauft werden. Prigoschin war nützlich für Putin und das Verteidigungsministerium. Er war stets bereit, die Drecksarbeit zu machen, ohne dabei aufzufallen.
Warum spielt er diese Rolle nicht mehr?
Putins bonapartistisches Regime ist ein System der Unterdrückung durch die Bürokratie, das heißt: durch den Staat, der sich die ökonomisch herrschende Klasse unterwirft. Dem staatlichen Gewaltmonopol kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Dieses Prinzip wurde durch die Auslagerung der Funktionen des Verteidigungsministeriums direkt unterlaufen. Mehr und mehr systemische Widersprüche entstanden zwischen dem Verteidigungsministerium und Prigoschin. Sie führten schließlich zu Konflikten, deren Triebfeder nicht die Politik, sondern das Geld war.
Schoigu (Putins Verteidigungsminister) zwang den Freiwilligenverbände Verträge auf, die Prigoschin zwangsläufig von den Finanzströmen abgeschnitten hätten und ihn in eine machtlose, rein dekorative Figur zu verwandeln drohten. Prigoschin führte gegen diese finanzielle Erpressung einen Kampf auf dem Feld der Medien. Angesichts seiner medialen Ressourcen und der allgemein ungleichen Verteilung der Medien war das allerdings ein einseitiges Spiel.
In seinem realen ökonomischen Programm unterscheidet sich Prigoschin nicht von Putin. Doch in seiner Agitation wandte er sich an alle, die mit dem – allzu oft völlig mittelmäßigen – militärischen Führungspersonal unzufrieden waren. Vor allem aber ermutigten seine Worte die Leute, die den „Krieg bis zum Sieg“ wollen: Jene, die wie Prigoschin für eine Militarisierung der Wirtschaft, für eine Generalmobilmachung und für die Verhängung des Kriegsrechts sind. Ein solches „Aktionsprogramm“ könnte zu nichts anderem führen als zu einem Umschwung der Stimmung der arbeitenden Menschen und des militärischen Personals, weg von einer passiven Unterstützung des Krieges hin zu seiner aktiven Ablehnung. In Kombination mit der unvermeidlichen wirtschaftlichen Krise und der politischen Instabilität könnte das eine revolutionäre Situation bedeuten.
Das war jedenfalls eine mögliche Gefahr und eine unbeabsichtigte Auswirkung die Prigoschins Verhalten hervorrief. Doch eine wirklich revolutionäre Situation wird nicht nur durch eine offene Opposition gegenüber den Behörden und der Unfähigkeit der Herrschenden, weiter wie gewohnt regieren zu können, charakterisiert, sondern auch durch den Kontrollverlust auf Seiten der herrschenden Klasse bis hin zur Entstehung einer Doppelmacht.
Bislang hat Prigoschins Putsch allerdings noch nicht dazu geführt, dass die Massen die Bühne der Geschichte betreten. Bislang bleibt die Macht der Regierung gefestigt und die „Prigoschinisten“ sind politisch Isoliert. Der Lauf der Geschichte hat sich beschleunigt, aber noch haben wir keine dramatische Verschlechterung des Lebensstandards der Massen, keine große Enttäuschung seitens der Mehrheit der Russen über das Putin-Regime, keine drastische Steigerung ihrer politischen Aktivität erlebt. Heute bleibt die Arbeiterklasse Zuschauerin in diesem dramatischen Schauspiel – oder besser: Zirkus. Keine der Konfliktparteien ruft die Massen dazu auf, sich aktiv auf ihre Seite zu stellen, vielmehr wollen beide, dass die Massen sie enthusiastisch (aber ohnmächtig) vom Spielfeldrand aus unterstützen.
Die entstandene Situation unterzieht die russische Linke einem entscheidenden Test. Nur dieses Mal könnte es sich um eine Frage von Leben und Tod handeln. Es ist jetzt unangemessen, sich darauf herauszureden, dass es sich um einen Kampf zwischen „Kröte und Viper“ (russischer Ausdruck für eine Situation in der keine der beiden Seiten zu unterstützen oder Maßnahmen zu ergreifen sind) handle. In Wirklichkeit läuft dieses Vorgehen auf praktische Untätigkeit – kriminelle Untätigkeit – hinaus. Es ist Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Wir rufen die Massen nicht auf, sich zwischen Prigoschin und Putin zu entscheiden. Wir rufen zum Handeln auf: Zu unabhängigem, politischem Handeln im Interesse der Arbeiterklasse. Jeder russische Kommunist muss sich ehrlich die Frage stellen: Bin ich bereit dazu?
Was tun?
Erstens müssen klare, der realen Welt entsprechende, politische Forderungen formuliert und unter den Massen verbreitet werden. In der gegenwärtigen Lage können wir uns nicht auf „praktische Aktivität“ zurückziehen, die nicht zu einer Politisierung der Massen und zu einer systematischen Entwicklung ihres Klassenbewusstseins beiträgt, wie etwa den gemächlichen Aufbau der Gewerkschaften, Genossenschaften und dergleichen. Diese Herangehensweise war bereits gestern veraltet und ist heute sinnlos. Die zentralen gesellschaftlichen und ökonomischen Widersprüche des modernen Russlands können nur mit politischen Mitteln gelöst werden.
Zweitens müssen wir die Komfortzone des Internets und der lokalen Initiativen verlassen und uns ins reale Leben begeben. Uns ist klar, dass es unter den heutigen Umständen sehr schwer und auch gefährlich ist, offene politische Propaganda zu betreiben. Doch die Arbeit auf YouTube im Besonderen und im Internet im Allgemeinen hat begonnen, die reale Arbeit der Aktivisten zu verdrängen. So werden Linke zu bloßen Konsumenten von Inhalten gemacht. Das Internet allein ist noch nie eine Triebkraft für die linke Bewegung in Russland gewesen und kann das auch nicht werden. Wie viele Menschen sind wegen der Tausenden LiveJournal-Blogs bei einer Organisation politisch aktiv geworden? Wie viele von den Abonnenten der großen Blogger sind politische Aktivisten geworden? Höchstens eine Handvoll. Doch jeder persönliche Kontakt, jede Beteiligung an einem Arbeitskampf, jede noch so kleine kollektive Aktion, ganz zu schweigen von jedem ehrlichen und offenen Einstehen für die eigene Meinung im Umfeld, hebt das Bewusstsein der Massen weit effektiver als ein Dutzend YouTube-Videos.
Drittens brauchen die Linke und die ganze Arbeiterklasse eine eindeutige und klare Positionierung gegen den Krieg, die wir an die Menschen bringen müssen. Ja, das birgt ernsthafte Risiken und die Gefahr der Strafverfolgung. Aber deutlicher als alle Stellungnahmen haben die jüngsten Ereignisse die zerstörerische Bedeutung des anhaltenden Krieges gezeigt. Die Ereignisse beweisen, dass die Positionen der Linken niemals die Mehrheit erobern werden, wenn es ihr nicht gelingt, im realen Leben Propaganda gegen den Krieg zu machen.
Es ist naiv, zu glauben, dass die Massen im Moment der Krise begeistert zu prominenten Medienpersönlichkeiten strömen werden. Sie werden sich an jene wenden, die sie im realen Leben kennen und deren Arbeit sie mit eigenen Augen gesehen haben. Wir werden natürlich weniger Menschen gewinnen, als sich in den Kommentarsektionen der Top-Promis herumtreiben, aber dafür werden wir sie aus der Passivität herausreißen und zu Aktivisten machen.
Viertens müssen wir neben sozialökonomischen Forderungen auch demokratische Forderungen aufstellen. Wir kämpfen für eine echte Arbeiterdemokratie, von oben bis unten in der Gesellschaft. Aktive Propaganda – gegen den Krieg, für die Ideen des Kommunismus, der Arbeiterdemokratie, des Antimilitarismus – wird den Zünder der Revolution in Gang setzen: die Jugend.
Jetzt müssen die meisten Aktivisten eine Entscheidung treffen. Bleiben wir am Spielfeldrand stehen und hoffen, dass die nächste Mobilisierung, die nächste Bombe an uns vorübergeht? Oder beteiligen wir uns am Aufbau einer revolutionären Kaderorganisation, die unabhängig von der Kapitalistenklasse und ihren Beamten ist und sich weder von ihrer „patriotischen“, noch ihrer „sozialen“ Rhetorik blenden lässt?
Wir müssen jetzt ein klassenbasiertes Antikriegsprogramm in die Arbeiterkollektive und Gewerkschaftsorganisationen hineintragen. Wir müssen die politische Unabhängigkeit unserer freidenkenden Studentenkollektive schützen und stärken. Aber um gegen die willkürlich handelnden Behörden und ihre reaktionäre „Alternative“ zu kämpfen, brauchen wir letztlich eine politische Organisation. Bildet Solidaritätsgruppen an euren Arbeitsplätzen, diskutiert die Nachrichten, schließt euch bestehenden politischen Gruppierungen an, die fortschrittliche Forderungen aufstellen!
Die Aktivisten unserer Organisation gehörten zu den ersten, die gegen den Krieg aufgetreten sind; sie initiierten die Gründung des Bündnisses marxistischer Internationalisten; sie organisierten zahlreiche Kampagnen zur Verteidigung der politischen Gefangenen, insbesondere des Führers der Lieferdienst-Fahrer, Kirill Ukraintsew; und sie führten im Mai einen Vereinigungskongress durch, auf dem sie die Organisation der Kommunisten-Internationalisten (OKI) gründeten. Wir haben durch die Tat bewiesen, dass man sich innerhalb Russlands dem Regime widersetzen kann. Im Programm der OKI haben wir unsere Vision und unsere Anforderungen dargelegt. Wenn du all dem zustimmst, dann schließ dich der Organisation der Kommunisten-Internationalisten an.
- Gegen Putin! Gegen Prigoschin!
- Friede den arbeitenden Menschen, Krieg den Palästen!
- Wenn wir es nicht tun, dann tut es niemand!