Die angespannte Stimmung zwischen Brüssel und den ukrainischen Grenzstaaten ist zunehmend belastet seit Polen ein Einfuhrverbot auf ukrainische Agrarprodukte verkündete. Die Maßnahme offenbart tiefe Risse in der sorgfältig gepflegten Fassade der Einheit Europas – vor allem da Ungarn, die Slowakei und Bulgarien dem polnischen Beispiel folgten. Valentin Iser und Piotr Kwasiborski berichten.
Die Situation der Weltmärkte war schon vor der Eskalation des Ukrainekonflikts angespannt. Mit der russischen Invasion – die Ukraine und Russland sind zwei der wichtigsten Getreideproduzenten weltweit – setzte dann aber schnell eine Panik vor potenziellen Getreideengpässen ein. Hauptsorge war Weizen, da dieser für Millionen von Menschen und Vieh weltweit die Ernährungsgrundlage bildet, aber Raps und Sonnenblumen waren ebenfalls maßgeblich betroffen.
Preise schossen nach der Invasion rasant in die Höhe, was sowohl auf die vom Krieg beeinträchtigte Logistik, als auch auf Spekulation zurückzuführen ist. Die ABCD-Monopole (ADM, Bunge, Cargill und [Louis] Dreyfus), die zwischen 75 und 90% des weltweiten Getreidehandels kontrollieren, machten im letzten Jahr hunderte Milliarden Dollar an Profiten, selbst als sich der Markt ab Mai wieder stabilisierte. Bereits im April des letzten Jahres – zwei Monate nach der Invasion – führte die offene Spekulation von nur zehn Hedgefonds auf Soja und Weizen zu Erlösen von 1.5 Milliarden Pfund.
Die Preise sind nach der ersten Angstwelle wieder merklich gefallen. Seit die EU ihre Pläne verkündete, den Wirtschaftsraum für Agrarimporte aus der Ukraine zu öffnen, sind die Weizenpreise wieder auf das Vorkriegsniveau gefallen. Der Plan sah vor, dass ukrainisches Getreide die EU durchqueren (also die Zölle an den EU-Grenzstaaten umgehen) solle, um in die gesamte EU oder auf dem Weltmarkt exportiert werden zu können.
Doch durch das Fehlen jeglicher Infrastruktur, um diese enormen Mengen an Getreide zu transportieren, hat diese „Solidaritätsmaßnahme“ die Einheit Europas an die Wand gefahren und die lokalen Märkte der Grenzstaaten völlig überflutet. Es gibt momentan bloß drei Eisenbahnverbindungen zwischen Polen und der Ukraine, die zwei verschieden breite Gleissysteme verwenden. Im besten Fall hat Polen Kapazitäten für den monatlichen Transport von einer Million Tonnen Getreide, realistisch liegen sie aber eher bei 500.000 bis 700.000 Tonnen. Aktuell wird in Polen ein Überschuss von 5 Millionen Tonnen Weizen vermutet, sowie 700.000 Tonnen Raps, die nächste Ernte ist in drei Monaten.
Mehrere Skandale offenbaren die Beteiligung von organisierter Kriminalität. Minderwertigere Getreidetypen, die nur für Biodiesel oder industriellen Anwendungen erlaubt sind, wurden als Speisegetreide weiterverkauft.
Dieses völlige Chaos auf den lokalen Märkten brachte den Vorsitzenden des polnischen Nationalen Rates der Bauernverbände (Krajowa Rada Izb Rolniczych) dazu, zu fordern, dass das überschüssige Getreide einfach verbrannt werden sollte. Eine absurde Realität, die kein anderes System außer der Kapitalismus hätte hervorbringen können.
Die Maßnahmen der EU, die angeblich der Ukraine helfen sollen, brachten die getreideproduzierenden Staaten an der ukrainischen Grenze (wie Polen, Ungarn und Bulgarien) in Widerspruch mit mittel- und westeuropäischen Ländern, die weiter vom Zufluss an Getreide entfernt sind, wie die Verbote auf ukrainische Agrarimporte seitens Polens und mehrerer Grenzstaaten gezeigt haben.
Die Maßnahmen der polnischen Regierung sind von kurzsichtigen politischen Zielen diktiert. Die traditionell ländliche Wählerbasis zu befriedigen hat höhere Priorität als allgemeine strategische Erwägungen. Es ist ironisch, wie ein säbelrasselnder Staat wie Polen seinen neu gefundenen ukrainischen FreundInnen in dieser Frage plötzlich die kalte Schulter zeigt. Die polnische Bourgeoisie behauptet ihre offenkundige Tapferkeit gegenüber dem russischen Aggressor nur solange es ihre Profite nicht ernsthaft gefährdet.
Selbst wenn Brüssel und Warschau den Getreideüberschuss zu ihrer alleinigen Priorität machen würden, wäre der lokale Markt auch im besten Fall mit Millionen Tonnen an Überschuss vollkommen überschwemmt. Das setzt voraus, dass die EU überhaupt Abnehmer findet. Denn die Länder, die den größten Bedarf an Lebensmitteln hätten, sind in so endlosen Schuldenspiralen gefangen, dass sie sich selbst bei den aktuell niedrigen Preisen das teure EU-Getreide nicht leisten können. Der Transport des Getreides aus Osteuropa, ob über die Donau oder die baltischen Häfen, ist einfach nicht kosteneffizient. So hat Spanien lieber Getreide aus Lateinamerika importiert!
All dies ist nur ein weiteres Beispiel der chronischen Instabilität, die die Krise des Kapitalismus überall erschafft. Die Märkte sind von einem Ereignis nach dem anderen erschüttert worden: Handelskriege, die Pandemie, unterbrochene Lieferketten, Inflation, Ukrainekrieg, etc. Es beweist außerdem, wie der Ukrainekonflikt als bloßer geopolitischer Spielball des Westens fungiert.
Währenddessen sind Milliarden Menschen täglichem Leid ausgesetzt. Schätzungen zufolge sterben 5 bis 13 Menschen pro Minute an Hunger – das sind 7.745 – 19.701 Menschen am Tag. Gleichzeitig stecken Millionen Tonnen Getreide in Polen fest und man spekuliert über ihre Verbrennung.
Nur durch die völlige Enteignung aller Monopole und multinationaler Konzerne, die für Profit mit lebenswichtigen Ressourcen spekulieren und handeln, sowie mit der Einführung einer Planwirtschaft, die für Bedürfnisse und nicht für Profite wirtschaftet, können wir diesen Wahnsinn beenden!
(Funke Nr. 214/24.05.2023)