Dieses Perspektiv-Dokument wurde Ende 2022 verfasst und bei einer Konferenz der Funke-LeserInnen und UnsterstützerInnen am 25. Februar 2023 diskutiert und verabschiedet. Es beschreibt die zentralen Bruchlinien und Widersprüche des Kapitalismus in der Welt und in Österreich und die Aufgaben der MarxistInnen.
Inhalt
Perioden und Merkmale des Kapitalismus im 20. Jahrhundert
Die Entwicklung des Kapitalismus in den 1990ern
Seit 2008: Einzelne Krisen verdichten sich zur Systemkrise
Die COVID-Krise
Ukrainekrieg: langfristige Destabilisierung und Neuordnung Europas
Österreich: Auf der Erdbebenlinie
Krise der bürgerlichen Demokratie
Parteien in der Krise
Die organische Krise des Reformismus
Die Lage der Arbeiterklasse
Die Rolle der Gewerkschaften und die Herbstlohnrunde
Die Rolle der Jugend für die kommende Revolution
Der Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase weist eine Tendenz zur „Fäulnis und Stagnation“ (Lenin) auf, die heute immer deutlicher durchschlägt. Aus dem ursprünglichen System der freien Konkurrenz entwickeln sich marktbeherrschende Konzerne heraus, die mit den Banken zum Finanzkapital fusionieren. Das Finanzkapital durchdringt den bürgerlichen Staatsapparat, dem für die Stabilität und die Interessensdurchsetzung des Kapitals nach innen und außen eine zentrale Rolle zukommt. Der Export von Kapital wird bedeutend, der Import von Extraprofit ermöglicht die Herausbildung von parasitären Schichten und die Bildung einer privilegierten Schicht in der Arbeiterklasse, der sozialen Stütze des Reformismus. Dieser historische Prozess begann in der Überwindung der Weltwirtschaftskrise von 1873-1876 und wurde im 20. Jahrhundert dominant.
Perioden und Merkmale des Kapitalismus im 20. Jahrhundert
Ein weiteres Merkmal des Imperialismus ist die Aufteilung der Welt in Einflusszonen und deren gewaltsame Neuverteilung. Dies führte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zwei Weltkriegen. Im Zweiten Weltkrieg wurden wirtschaftliche und politische Bedingungen geschaffen, die ein Abnehmen der Spannungen zwischen den einzelnen imperialistischen Mächten gestatteten. Die Welt wurde durch eine relativ statische Systemkonkurrenz zwischen „dem Westen“ und dem degenerierten und den deformierten Arbeiterstaaten (die ihrerseits das Resultat der siegreichen Revolution von 1917 und der militärischen Siege der Roten Armee waren, aber nunmehr aktiv gegen die Weltrevolution auftraten) neu geprägt. Die kolonialen Massen warfen das Joch des Kolonialismus in Massenkämpfen ab. In den dominanten imperialistischen Nationen herrschte hohes Wirtschaftswachstum, im historischen Vergleich relativer „sozialer Friede“, Fortschritt und Optimismus. Die Ausweitung des Welthandels vertiefte und erweiterte die globale Arbeitsteilung enorm und nährte das Wachstum der Weltwirtschaft. Diese Jahre des Nachkriegsaufschwunges prägen, gerade in Österreich, bis heute den politischen Überbau („Sozialpartnerschaft“) und das Bewusstsein großer Teile der Gesellschaft, insbesondere der älteren Generationen und der Arbeiterbürokratie. Der Mai 1968 und der lange heiße Herbst 1969 ff. in Italien setzten den Klassenkonflikt schlagartig wieder auf die Tagesordnung und waren der Startschuss für eine massenhafte Radikalisierung nach Links, insbesondere in der Jugend.
Tod dem Weltimperialismus (Plakat 1920, Sowjetunion) – D. Moor
Mit der Krise von 1973 erschöpfte sich der Nachkriegsboom ökonomisch, was in Europa zu einem Wiederaufflammen der Klassenkämpfe (Nelkenrevolution 1974, der Transicion in Spanien, Sturz der griechischen Militärdiktatur, Massenstreikbewegungen) führte. Dies führte zur Herausbildung linksreformistischer und zentristischer Massenströmungen in der Arbeiterbewegung. In dieser politischen Konjunktur wurde unsere Strömung, die Militant Tendency, in Großbritannien zur stärksten revolutionären Kraft seit der Linken Opposition der Zwischenkriegszeit und begann eine Internationale herauszubilden.
Niederlagen der Arbeiterbewegung (Fluglotsenstreik USA 1981, Bergarbeiterstreik GB 1984-85), die Expansion des Finanzsektors in den 1980er Jahren, v.a. aber der Zusammenbruch des Stalinismus und die Integration Russlands, Chinas und Indiens in den Weltmarkt in den 1990er Jahren ermöglichten dem Kapitalismus, die weitere Entfaltung seiner inneren Widersprüche aufzuschieben und stattdessen eine stürmische neue wirtschaftliche Wachstums- und politische Konsolidierungsphase zu entfachen. Die Asienkrise 1997-8 und das Platzen der „Dotcom-Blase“ von 2000 zeigten zwar an, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus nicht überwunden war, allerdings konnten diese Krisen und ihre politischen Folgen schnell eingedämmt werden.
Ab den 1990er Jahren „widerlegte“ die bürgerliche Volkswirtschaftslehre einmal mehr die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, wobei die stabilisierende Rolle des Finanzsektors und die grenzenlosen Möglichkeiten der Zentralbanken in den Mittelpunkt der Argumentation rückten. Die MarxistInnen hielten an der Analyse der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus fest und verteidigten dies theoretisch und politisch. Der Ausbruch der Finanzkrise von 2008 und die darauffolgende globale Rezession markieren einen neuen Wendepunkt der Weltsituation und leiteten eine Epoche der „Krisen, Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen“ (IMT) ein. Die langen 1990er Jahre, die die IMT als Jahre der „milden Reaktion“ charakterisierte, waren zu Ende gegangen.
Die Entwicklung des Kapitalismus in den 1990ern
Die 1990er waren geprägt von der wirtschaftlichen und politischen Dominanz der USA. Ideologisch wurde das „Ende der Geschichte“ (F. Fukuyama) ausgerufen: In Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft habe die Welt einen Endzustand erreicht, da nunmehr kein Widerspruch mehr bestehe und so ein weiterer gesellschaftlicher Fortschritt nicht mehr möglich sei. Die USA führte eine Serie von Kriegen (Panama 1989/90, Irak 91ff., Jugoslawien 99, Afghanistan 2001), um ihre „Neue Weltordnung“ durch sogenannte „Polizeieinsätze“ durchzusetzen und weiteten die NATO von 16 auf heute 30 Mitgliedsstaaten aus.
In Europa gelang es der Bourgeoisie in den 1990ern, den „Integrationsprozess“ zu beschleunigen und zu vertiefen. Neue Institutionen, die Durchsetzung des Euro (1999, bez. 2002), neue Verträge (Versuch einer „EU-Verfassung“ von 2004, Vertrag von Lissabon 2007) zeugen davon, dass in dieser wirtschaftlichen und ideologischen Konjunktur die (scheinbare) Überwindung des bürgerlichen Nationalstaates durch Kompromisse zwischen den in Konkurrenz zueinanderstehenden nationalen Bourgeoisien weitergetrieben werden konnte, als jemals zuvor in der Geschichte Europas in Friedenszeiten.
Eine politische Vorbedingung dafür war die völlige politische Kapitulation der reformistischen Massenorganisation vor den bestehenden Verhältnissen. Sie setzten bereitwillig, gegen den Widerstand der Arbeiterbewegung, Sparpakete (die im Vertrag von Maastricht in Vorbereitung der Währungsunion europaweit vereinbart wurden) und die (oft vollständige) Privatisierung von staatlichem Eigentum durch, verneinten den Klassenkampf auch ideologisch und gaben die programmatische und rhetorische Referenz auf den zukünftigen Sozialismus auf. Sie stellten sich völlig in den Götzendienst der Anbetung der existenten Verhältnisse, die sie als „europäisches Friedensprojekt“ darstellen. Die Führungen der reformistischen Massenorganisationen degenerierten in den Liberalismus. Diese allgemeine Entwicklung der reformistischen Massenorganisationen nach rechts ist ein bestimmendes Merkmal der heute vorgefundenen politischen Bedingungen der Arbeiterklasse.
Für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion bedeutete die Restauration des Kapitalismus in den 1990er Jahren ein Jahrzehnt von ökonomischem und zivilisatorischem Verfall (die Lebenserwartung fiel in Russland zwischen 1987 und 1994 um sechs Jahre), gesamtgesellschaftlicher Erniedrigung und die Barbarisierung einer ganzen Weltregion durch nationalistische Konflikte. Ein permanenter Zerfall der Produktivkraft ist jedoch nicht möglich und wie Ted Grant analysierte, würde ein kapitalistisches Russland wieder ein imperialistisches Russland werden. Mit dem Machtantritt von Putin Ende 1999 begann sich Russland wieder ökonomisch und politisch (inkl. militärisch) zu festigen. Der russische Kapitalismus konsolidierte sich durch die Herausbildung von Energiekonzernen und die massive Entwicklung der Produktivkräfte in der Förderung und dem Vertrieb fossiler Energieträger, was Russland zum weltweit führenden Exporteur von Erdöl und Erdgas machte und Europa zu seiner wichtigsten Abnehmerin. Der Wideraufstieg Russlands machte eine Konfrontation mit dem Westen, und hier insbesondere der USA, aber auch mit mitteleuropäischen Ländern unausweichlich. Der russische Krieg gegen Georgien 2008 war die erste militärische Intervention des widererstarkten russischen Imperialismus, seine Einflusszone gegen den vordringenden westlichen Imperialismus zu verteidigen.
Die deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas fielen schnell und „friedlich“ in die Einflusszone des westeuropäischen Imperialismus und sind seit 2004, beziehungsweise 2007 (Rumänien, Bulgarien) Teil der EU. Für Österreichs Kapital bedeutete die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und dem Balkan eine historische Chance, die es auch wahrnahm. In der Plünderung des ehemaligen Staatseigentums und im Export von Finanzkapital nahmen Österreichs Kapitalisten als wichtige „Auslandsinvestoren“ eine führende Rolle ein und haben (wenn auch im Vergleich zu den 1990er Jahren deutlich abgeschwächt) in einigen Märkten, gerade im Finanz- und Versicherungssektor, noch immer eine führende Stellung.
Blutig hingegen verlief die Desintegration und die kapitalistische Restauration in Jugoslawien, wo der Sturz des Kapitalismus (wie auch in Albanien) nach 1945 nicht durch die Rote Armee, sondern gestützt auf Volkserhebungen und die Partisanenarmeen durchgesetzt worden war. Heute sind Slowenien und Kroatien Teil der EU und die Staaten des „Westbalkans“ Bosnien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien offiziell Beitrittskandidaten. Allerdings ist diese Perspektive aufgrund unlösbarer Widersprüche im kapitalistischen Weltsystem nicht realistisch, die Zeichen deuten auch hier auf ein Wideraufflammen nationalistischer und imperialistischer Konflikte hin. Der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo ist dabei ein erster Vorgeschmack. Der Balkan wird neuerlich zu einer aktiven geopolitischen Konfliktzone, Österreich spielt hier auch politisch und militärisch als Wächter der Profitinteressen der eigenen Banken und Konzerne eine imperialistische Rolle.
In China vollzog sich die Restauration des Kapitalismus in der spezifischen Form, dass der politische Überbau des deformierten Arbeiterstaates beibehalten wurde. Dies ergibt ein totalitäres Regime mit einer enorm ausgebeuteten und entrechteten, aber auch der größten und damit potenziell mächtigsten Arbeiterklasse der Welt. China ist heute der mit Abstand größte Warenproduzent der Weltwirtschaft und hat in fast allen Warengruppen die Konkurrenz in den USA, Europa und Japan um Längen überholt. Nach außen tritt China zunehmend als imperialistischer Konkurrent des seit dem Zweiten Weltkrieg dominanten US-Imperialismus auf. Die chinesische Wirtschaft fing 2008 ff. die Weltwirtschaft auf, mittlerweile ist China eine führende Wirtschaftsmacht mit Kapitalexport und einer expansiven Handelsstrategie (Road and Belt Initiative). Die Verteidigung ihrer global dominanten, ökonomisch und militärisch führenden Macht gegenüber China ist die zentrale Linie der US-Bourgeoisie der heutigen Periode.
Seit 2008: Einzelne Krisen verdichten sich zur Systemkrise
Die Geschichte vollzieht sich als Abfolge von Perioden langsamer, gradueller Veränderungen, die die Bedingungen für schnelle Umschläge (Krisen, Kriege, Revolutionen) vorbereiten. Die Krise von 2008-2009 war ein solcher nachhaltiger Wendepunkt. Der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im August 2008 löste eine weltweite Wirtschaftskrise aus. Es zeigte sich, dass die erwarteten Profite aus dem Kreditgeschäft (seinerseits ein Resultat des Platzens der Dotcom-Blase) auf den übersättigten Märkten (insbesondere Immobilien) nicht realisiert werden konnten, sondern die Kredite sich entwerteten. Regierungen eilten den Banken weltweit zur Hilfe. Österreich war besonders betroffen, da die heimischen Finanzinstitute in Ost- Mitteleuropa hohe finanzielle Risikopositionen offen hatten und damit allesamt vom Bankrott bedroht waren. Diese Katastrophe wurde durch politische Schützenhilfe und staatliche Hilfen (letztendlich kostete diese Aktion den Steuerzahler in Ö etwa 10 Mrd. €) und Garantien abgefangen.
„Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (Das Kapital) Der Kapitalismus kann also gar nicht „aus der Krise lernen“, wie die Bourgeoisien weltweit damals auf Stein und Bein schworen. Wirtschaftskrisen „korrigieren“ vielmehr die dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche durch Vernichtung von Reichtum und Produktionsmitteln.
Die immer stärkere Konzentration des Kapitals in Konzerne und die Tendenz die nationalstaatlichen Grenzen zu überwinden, sind systemimmanente Prozesse, um die Beschränkung der Produktivkraftentwicklung durch das Privateigentum und den Nationalstaat zu überwinden. Da der Kapitalismus diese grundlegenden Widersprüche jedoch nicht überwinden kann, führt dies aber zu neuen Widersprüchen und Konflikten.
Nach der 2008er Krise gab es eine Politik der Schuldenaufblähung, in dem Versuch, die Überproduktion durch ein Ankurbeln der Wirtschaft einzudämmen. Die Schulden stiegen auf ein historisches Allzeithoch (350% der Weltwirtschaftsleistung). Gleichzeitig erhöhten die Zentralbanken die Geldmenge durch Niedrigzinsen und den Aufkauf von Finanzpapieren auf den Märkten. Die Schaffung von fiktivem Kapital trieb den Reichtum der besitzenden Klassen in historische Höhen, trug aber wenig zum Wirtschaftswachstum bei, da das Geld hauptsächlich nur auf den Finanzmärkten zirkulierte und dort die Preise von Anlagen (Aktien, Immobilien, neue Finanzprodukte) anheizte. Weit davon entfernt, die Krise so zu lösen, wurde dadurch eine noch tiefere Krise vorbereitet. Letztendlich war das ein fertiges Rezept für neue Spekulationsblasen, Inflation, die Destabilisierung der Währungen und Bankrotte. Allerdings wurde diese Gefahr geleugnet und theoretisch in der Modern Monetary Theory (MMT) sogar „widerlegt“. Die MMT, die von vielen Reformisten als „Heilmittel“ für den Kapitalismus bejubelt und gefördert wurde, sah sogar im immer weiteren Gelddrucken die harmonische Lösung aller gesellschaftlichen Probleme und Widersprüche.
Gleichzeitig entschleunigte sich der Integrationsprozess des Weltkapitalismus („Globalisierung“) und kehrte sich zuerst langsam, dann schlagartig in Protektionismus. Im Kampf um schrumpfende Profitmöglichkeiten wenden sich die Imperialisten zunehmend gegeneinander. Das manifestierte sich im Scheitern der Welthandelsrunde in Doha 2014 erstmals offen. Die Liberalisierung des Welthandels, kehrte sich in Protektionismus, Schutzzölle (auch genannt „Klimazölle“) und das globale Ringen der imperialistischen Mächte um die Kontrolle der Handelsrouten, essentieller Rohstoffe und Technologien (Chips), Märkte und Einflusszonen um. Diese Verschärfung der Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten ist in letzter Instanz auch der Grund für den Krieg in der Ukraine. Wie Lenin erklärte, werden Verschiebungen der Einflusszonen (oder der Versuch, dies zu verhindern) oft mit offener Gewalt durchgesetzt. Natürlich finden sich dafür propagandistisch immer ehrenhafte Anlässe und Gründe, die im Westen aktuell gängigsten lauten: Verteidigung der Demokratie und Freiheit, Verteidigung des Rechtes auf Selbstbestimmung einer unterdrückten Nation, Kampf gegen Terror, … Der Imperialismus muss seine Einflusspolitik gewöhnlich in salbungsvolle Worte kleiden, um die Unterstützung der heimischen Arbeiterklasse für den Krieg zu sichern, wiewohl v.a. die US-Bourgeoisie keinen Hehl daraus macht, dass sie die Expansion Chinas im Pazifik, aber auch in anderen Weltregionen wie Afrika zu stoppen gedenkt.
Die COVID-Krise
Der Ausbruch der COVID-Krise im Frühjahr 2020 fiel dementsprechend in eine Zeit, in der der Weltkapitalismus von Krisen und offenen Widersprüchen geprägt und die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse ökonomisch bereits angelegt war. Dem tiefen Einbruch der Weltwirtschaft im Frühjahr 2020 ging ein Jahrzehnt von niedrigen Wachstumsraten im Westen kombiniert mit einer stürmischen Akkumulation der Produktivkräfte in China voraus. Es herrschten globale Überproduktion, hohe Schulden und aufgeblähte Bilanzen der Zentralbanken sowie geopolitische Konflikte. 2020 kam dann die COVID-Krise: Die globalen Lieferketten brachen zusammen, das öffentliche Leben und der Konsum wurde durch Produktionsstopps und Lockdowns eingeschränkt.
Die Bourgeoisien reagierten mit einer nochmaligen massiven Ausweitung der Geldmenge mit gleichzeitig hohen Budgetdefiziten (Ausgaben für Covid-Umsatzersatz, Kurzarbeit, usw.) und einem extremen Wirtschaftsnationalismus inklusive Grenzschließungen für Waren- und Personenverkehr. Jetzt floss das fiktive Kapital tatsächlich in die Realwirtschaft, da hier plötzlich Mangel an Waren aller Art (inklusive von Arbeitskraft) auftraten, während die Nachfrage sich aufstaute, sich verschob und mit den Öffnungen ruckartig anstieg. Unmittelbar nach dem Aufheben der ersten Lockdowns hoben also die Inflation und Teuerung ab. Am 24.2.2022 überfiel dann die russische Armee die Ukraine. Der größte Krieg in Europa seit 1945 begann. Krise folgt auf Krise und sie verdichten sich zu einem eng verwobenen und interagierenden Komplex. Die Krise des Kapitalismus hebt sich qualitativ auf eine neue Ebene und schafft neue Widersprüche.
Ukrainekrieg: langfristige Destabilisierung und Neuordnung Europas
Der imperialistische Konflikt um die Ukraine ist ein neuer Wendepunkt der gesamten Weltsituation, der besonders Europa tief und langfristig trifft. Er umfasst die zwei größten Länder und Armeen Europas, zwei ausdifferenzierte moderne Gesellschaften mit einer großen Arbeiterklasse und technischem Know-how. Russland mobilisiert alle Ressourcen, um seine Interessen in der Ukraine durchzusetzen und zählt dabei mindestens auf die wohlwollende Neutralität Chinas und anderer Staaten. Die Ukraine wird durch massive finanzielle und militärische Hilfen des Westens gehalten. Entscheidend für die Dauer und den Ausgang des Konfliktes ist die Fähigkeit der Ressourcenaufbringung (Militärische Güter, Menschenmaterial, Kapital) und das Stillhalten der Arbeiterklasse, auch in den imperialistischen Ländern des Westens: Dieser Krieg wird bis zur Erschöpfung einer der beiden Lager geführt werden.
Die Konfliktaustragung mittels Handelspolitik wurde auf eine neue Ebene gehoben. Sanktionen und Umlenkung der russischen Energieexporte von Europa nach China und Indien brachten am Kontinent eine Vervielfachung der Preise für Energie und auch für Lebensmittel.
Statt dem prognostizierten stürmischen Post-Covid-Wirtschaftswachstum zeigen nun alle ökonomischen Indikatoren weltweit nach unten. Europa ist im 3. Quartal dieses Jahres wieder in eine Rezession bei gleichzeitig hoher Inflation (10% im Jahresvergleich) gerutscht. Die Prognosen der EZB gehen mittelfristig von niedrigem Wachstum und weiterhin hoher Inflation aus. Die jüngsten Prognosedaten lauten: Die Wirtschaft der Eurozone soll 2023 um 0,5 Prozent wachsen. 2024 sollen es 1,9 Prozent Wachstum sein, sowie 1,8 Prozent in 2025. Die EZB erwartet für das Jahr 2023 eine Inflationsrate von 6,3 Prozent, 2024 soll die Teuerungsrate auf 3,4 Prozent sinken, für 2025 liegt die Prognose bei 2,3 Prozent. Die Repräsentanten der EZB und alle anderen Forschungsinstitute lagen in ihren Prognosen schon in den letzten Jahren ständig falsch und verneinten die Gefahr von Inflation noch laut, als sie schon begonnen hatte abzuheben. Jetzt weisen die Ökonomen der EZB darauf hin, dass diese Krise nicht auf ökonomische Einzelfaktoren zurückzuführen ist, und dass die Macht der Zentralbanken in der Inflationsbekämpfung sehr reduziert ist: Durch eine Reduktion der aufgeblähten Geldmenge kann sie eine Wirtschaftskrise befördern, indem sie die Kreditnachfrage reduziert. Dies geschieht durch die Erhöhung der Leitzinsen und die Reduktion ihrer Bilanz (Die EZB kündigte an, ihren Bestand an Unternehmensanleihen ab März 2023 monatlich um 15 Mrd. zu reduzieren).
„Die eingegangenen Daten bestätigen, dass die Risiken für die Wachstumsaussichten eindeutig abwärtsgerichtet sind. Das gilt insbesondere auf kurze Sicht. Ein lang andauernder Krieg in der Ukraine stellt nach wie vor ein erhebliches Abwärtsrisiko dar. Das Vertrauen könnte weiter schwinden, und angebotsseitige Engpässe könnten sich erneut verstärken. Auch könnten die Energie- und Nahrungsmittelkosten dauerhaft höher bleiben als erwartet. Eine Abschwächung der Weltwirtschaft könnte das Wachstum im Euroraum zusätzlich belasten. In Bezug auf die Inflationsaussichten überwiegen die Aufwärtsrisiken. Auf kurze Sicht stellt ein weiterer Anstieg der Endkundenpreise für Energie das größte Risiko dar. Mittelfristig könnte die Inflation höher als erwartet ausfallen, falls die Preise für Energie- und Nahrungsmittelrohstoffe anziehen und diese Entwicklung stärker auf die Verbraucherpreise durchschlägt, die Produktionskapazität im Euroraum dauerhaft beeinträchtigt wird, die Inflationserwartungen anhaltend auf ein Niveau oberhalb des Zielwerts des EZB-Rats steigen oder es zu unerwartet kräftigen Lohnzuwächsen kommt. Sinkende Energiekosten und eine weiter abnehmende Nachfrage würden indessen den Preisdruck mindern.“ (EZB, Wirtschaftsbericht 2022/7.)
Die ökonomische Perspektive ist eine mehrjährige stagnierende Ökonomie, ohne dass die herrschende Klasse sich sicher sein kann, dass die hohe Inflation in dieser Zeit eingedämmt werden kann – besonders in Europa. So droht eine „Stagflation“ mit hoher Inflation und viel Potential für neue, tiefe Einbrüche. Die Situation ist besonders in Europa extrem komplex. Neben China und Russland sind auch EU-Staaten (insbesondere Deutschland) als wichtige imperialistische Konkurrenten der USA betroffen. Das Ziel der USA ist es, gleichzeitig die EU in der festen Umarmung als Verbündeten klar ihrer politischen Dominanz unterzuordnen und dabei den russischen Imperialismus zu schwächen. Mit der Abkopplung Europas von der billigen russischen Energie hat sie ein langjähriges politisches Ziel ihrer Außenpolitik materiell und politisch durchgesetzt. Das bedeutet einerseits Energieunsicherheit und anhaltend hohe Preise für Energie sowie massive Kosten für die Energiekonversion in Europa. Für das kommende Jahr hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ein Fehlvolumen von 30 Mrd. m3 Erdgas angegeben, das entspricht 7,5% des (bereits reduzierten) Jahresbedarfs von 2021 von 400 Mrd. m3 der EU-Staaten. Gleichzeitig haben sich die Energiepreise in Europa durch die Abkoppelung von Russland vervielfacht, der deutsche Importpreis ist 2021 um 700% höher als im Durchschnitt der Jahre 2010-2020. Bloomberg beziffert die budgetären Mehrkosten für die Subvention und Teuerungsausgleiche für Energiekosten in Europa mit 1000 Mrd. € pro Jahr, eine Summe, die sich die Herrschenden, angefangen mit den schwächeren Ökonomien, nicht lange leisten können.
Die Mehrkosten für Energieimporte für Österreich werden für das Jahr 2022 mit 8 Mrd. € beziffert (ÖNB). Das reduziert die Profitabilität der Industrie nachhaltig und führte ab Herbst 2022 – als die Gaspreise besonders hoch waren – zu temporären Betriebsschließungen. Die deutsche Chemieindustrie verlautbarte, dass 40% ihrer Produktion unrentabel ist, obwohl der Gaspreis vom Höhepunkt im Sommer aktuell wieder um zwei Drittel gesunken ist (15.12.22).
Die herrschende Klasse befürchtet eine „Deindustrialisierung“ Europas. Wegen der Energieknappheit und der gleichzeitig gesetzten protektionistischen Maßnahmen der USA („inflation reduction act“ vom August 2022) drohen wichtige industrielle Kapazitäten und Investitionen von Europa an die USA verloren zu gehen. Durch massive Subventionen wollen die USA es dem Kapital schmackhafter machen, ihre Produktion ins eigene Land zu verlagern, was viele – auch europäische – Konzerne auch in Erwägung ziehen. Die USA zeigt sich hier gegenüber ihrem wichtigsten Verbündeten kompromisslos. So meinte der US-Präsident Biden im Dezember zu Frankreichs Präsident Macron: „The USA does not apologize.“
Dieser Krisenkomplex wird zentrifugale Kräfte innerhalb der EU und der Euro-Zone wieder akut werden lassen; die Konflikte zwischen den nationalen Bourgeoisien in der EU werden weiter zunehmen. Die deutsche Bourgeoisie war gezwungen, im Ukraine-Krieg gegen ihre eigenen unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen zu handeln. Nach monatelangem Zögern und Taktieren hat die deutsche Regierung aus der Not eine Tugend gemacht und die geschaffenen Tatsachen der Abkoppelung von Russlands Energie als Gegebenheit akzeptiert. Als Treppenwitz sei hier angemerkt: Während Deutschland kein m3 russisches Pipelinegas mehr erreicht, hat Frankreich gleichzeitig seine Uraneinkäufe in Russland verdreifacht und auch der belgischen Diamantschleifer-Lobby ist es gelungen, russische Diamanten aus jedem der nunmehr neun Sanktionspakete der EU herauszuverhandeln. Unter diesen neuen – politisch durchgesetzten – Gegebenheiten ist das deutsche Kapital bei Strafe seines Untergangs auf dem Weltmarkt gezwungen, seine Interessen auch innerhalb Europas deutlicher und unilateraler als bisher zu vertreten.
Das muss einen Konflikt mit den Interessen anderer europäischer nationaler Bourgeoisien erzeugen, angefangen mit Frankreich, gefolgt von den starken südeuropäischen Bourgeoisien Spaniens und Italiens. Eine zentrale Konfliktlinie wird hier sein, dass letztgenannte Länder den in der COVID-Krise eingeschlagenen Weg der EU-Gelder (Stichwort: das 750 Mrd. € Hilfspaket „next generation EU“) weiterführen und ausbauen möchten. Dies bedeutet im Wesentlichen eine Subventionierung von EU-Ländern durch die mächtigste Wirtschaft, Deutschland. Die Regierung Scholz hat indessen den deutschen „Doppel-Wumms“ von 200 Mrd. € Hilfszahlungen für das eigene Kapital beschlossen, also eine „Germany first“ Politik nach dem Motto „deutsches Geld für die deutsche Wirtschaft“. Andere Bourgeoisien sehen darin den Bruch von EU-Wettbewerbsregeln durch Deutschland. Sie können sich derartige Hilfszahlungen nicht leisten. Ein weiterer Konflikt wird das Ausmaß und das Tempo der Geldmengenreduktion und der Zinsanhebungen der Zentralbank sein. Diese Maßnahmen führen zur Verteuerung von Krediten, was die Staatsfinanzierung hochverschuldeter Nationen wie z.B. Italien (180% des BIP) verteuert und die weniger wettbewerbsfähigen Betriebe zusätzlich unter Stress setzen wird.
Gleichzeitig bildet sich mit Polen und Schweden und dem Baltikum (hinter denen die USA stehen) erstmals politische Gegenspieler Deutschlands im Nord-Osten des Kontinents. Diese Länder stehen (aus unterschiedlichen Gründen!) für eine harte Linie im Ukraine-Konflikt und eine stärkere Unterordnung Europas unter die USA. Der Krieg in der Ukraine wird Europa nicht näher zusammenbringen, sondern im Gegenteil die Spannungen zwischen den Bourgeoisien auf Dauer erhöhen und das ideologische Gespenst des rabiaten Nationalismus wieder aus der Gruft herauslassen.
Die verschärfte kapitalistische Konkurrenz verlangt von dem Kapital eine stärkere Auspressung der Arbeiterklasse, um die Profite zu retten. Das gilt sowohl für Lohn- und Arbeitsbedingungen, als auch für staatliche Ausgaben wie Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Pensionssystem. Gleichzeitig sind sich die Herrschenden der Gefahr von sozialen Explosionen bewusst, die sie im vergangenen Jahr in Ländern wie Kasachstan und Sri Lanka genau beobachteten. Auch die Gelbwestenbewegung in Frankreich, die an der Frage von Treibstoffpreisen ausbrach, haben sie nicht vergessen. Die Länder, die es sich leisten können, versuchen derzeit den sozialen Frieden zu wahren, indem große Einsparungspläne hintangestellt werden oder Einmalzahlungen wie Heizkostenzuschüsse ausgegeben werden. Doch diese Politik ist nicht langfristig finanzierbar, steht jetzt schon unter Druck und wird den Klassenkampf überall auf die Tagesordnung setzen. Schon jetzt sehen wir Anfänge davon im Westen, am deutlichsten in der größten Streikwelle Großbritanniens seit vier Jahrzehnten.
Österreich: Auf der Erdbebenlinie
Warum beschreiben wir das so ausführlich? Österreich befindet sich inmitten dieser neu aufgeworfenen Widersprüche, und hat eigene Interessen, ist aber zu schwach, um eine unabhängige Position einzunehmen. Und: Die gegebene geopolitische Destabilisierung und Polarisierung laufen der Ausrichtung des österreichischen Kapitals voll zuwider. Österreichs Kapitalexport konzentriert sich seit drei Jahrzehnten auf Osteuropa, Russland und den Balkan, Wien ist eine Drehscheibe für russisches (und ukrainisches) Auslandskapital (Russland ist zweitgrößter Investor in Österreich), 1/3 des russischen Auslandsgeheimdienstes soll laut Geheimdienstexperte Thomas Riegler in Wien stationiert sein, Wien beherbergt 25% der russischen Spione in der der EU und das Land ist von russischer Energie abhängig.
80% des Erdgases wurde bisher aus Russland bezogen und diese Verträge laufen bis 2040. Die OMV ist seit 2017 Miteigentümerin eines großen russischen Gasfeldes. Bundeskanzler Nehammer reiste nach Kriegsbeginn daher als einziger westlicher Staatschef nach Moskau, um mit Putin einen Gas-Spezialdeal auszuhandeln, ohne offen die Disziplin der EU zu brechen. Die öffentliche Antwort des Kremlherrns auf die im Privaten geäußerte Bitte lautete schlicht: Njet. Stattdessen gelang es der Regierung im Sommer, eine Vereinbarung mit Deutschland zu schließen, um Erdgas der OMV, das in Norwegen gefördert wird, über deutsche Pipelines nach Österreich zu transportieren. Das geschieht im politisch akkordierten Abtausch für die Aufrechterhaltung der deutschen Gas-Einlagerung auf österreichischem Gebiet. Damit werden etwa 40% des heimischen Bedarfs gedeckt. Der Anteil von russischem Gas ist von 79% (Februar 2022) auf 23% (Oktober 2022) gesunken. Der Gesamtverbrauch konnte im Jahresvergleich in den Monaten Oktober und November um 26% gesenkt werden. Aufgrund der Kälte, den anhalten Schwierigkeiten in der europäischen Stromproduktion und anderen Faktoren ist der Gasverbrauch im Dezember 2022 sowohl in Österreich als auch in Deutschland wieder über dem Vorjahresniveau. (Daten siehe energie.gv.at)
Bisher konnten in Europa Abschaltungen durch akuten Gas- und Strommangel vermieden werden, und die Gasversorgung für diesen Winter ist gesichert. Die Situation ist jedoch weiter instabil und störungsanfällig: Kriegsverlauf und Sanktionen, private Profitinteressen und Geschäftsgeheimnisse, Witterung, Streiks, Weltmarktsituation, innereuropäische Verteilungsstreits, technische Möglichkeiten von Energietransport und -konversion, … machen die Energieversorgung unplanbar und offen für Schocks. Bei Beibehaltung der reduzierten Mengen aus Russland wird diese instabile Situation in der Energieversorgung noch mindestens bis ins Frühjahr 2026 akut anhalten (Bruegel-Institut).
In der OMV kam zu einem Führungswechsel, einige Stimmen im Management des 33 Mrd. € Konzerns verlangen eine Verstaatlichung des Gasgeschäfts, um die Unsicherheiten aus der Bilanz hinauszubekommen und mögliche Verluste zu sozialisieren. Derweil werden auch ständig neue Investoren und eine mögliche Aufspaltung des Konzerns als Möglichkeiten genannt. Der 10%-Finanzierungsanteil (950 Mio. €) an der Nord-Stream2-Pipline ist nach der Sprengung einer der zwei Gasleitungen und der politischen Abkoppelung jedenfalls ein betriebswirtschaftlicher und politischer Abschreibeposten: Diese Pipeline wird auf absehbare Sicht nie Gas nach Europa führen. Bereits im Jahr 2020 wurde die US-Botschaft bei der OMV vorstellig, um sich mit dem dortigen Management über die künftige energiepolitische Orientierung des Konzerns zu unterhalten. Der Traum, dass Österreich zu einer Energiedrehscheibe wird, ist ausgeträumt, dies versucht nun Erdogan in der Türkei zu verwirklichen. Österreich ist aufgrund seiner geographischen Situation (kein Meereszugang) gezwungen, zwischen vielen Staaten zu balancieren, um die Energieversorgung zu stabilisieren.
Aktuell planen drei Viertel der 63 heimischen, in Russland investierten Unternehmen unverändert in Russland aktiv zu bleiben, das ist der höchste Wert für ein westliches Land, und auch weltweit ein Top-Platz. Nur chinesische, indische, türkische und südkoreanische Unternehmen zeigen sich hier stressresistenter. Auch die Raiffeisen Bank International (RBI), mittlerweile die größte Auslandsbank in Russland mit 30.000 Angestellten, will dort weiter Profite machen. Seit dem Krieg vervierfachte sie dort ihren Gewinn und macht aktuell 50% des Konzernprofits auf diesem Markt. (orf.at, 3.11.2022) Dass das gleiche Unternehmen gleichzeitig in spekulativer Absicht ukrainische Staatsschulden aufkauft, steht sinnbildlich für Lenins Analyse des imperialistischen Krieges: „Er ist schrecklich, schrecklich profitabel.“ Allerdings: Eine sichere Bank sind diese Extraprofite nicht, sie sind nunmehr mit hohem politischem Risiko und dem Potential tief zu fallen und in Österreich neue staatliche Hilfsmaßnahmen zu erfordern, behaftet.
Kapitalexport hat den Zweck, Extraprofit zu importieren. Das österreichische Kapital ist bereits mit der Finanzkrise 2008 ff auf den wichtigsten Kapitalexportmärkten massiv unter Druck gekommen und musste, trotz der Hilfestellungen des Staates, seine Position in Osteuropa reduzieren. Die aktuelle Krise wird diese Tendenz verstärken. Dies bedeutet weniger Profitimport und damit weniger finanziellen Spielraum für die Bourgeoisie, um die soziale Lage in Österreich stabil zu halten.
Die Krise offenbart die kapitalistische Fäulnis und die ihr innewohnende Zuspitzung der imperialistischen Konflikte. Die Bourgeoisie hat keine politische Kontrolle über diesen Prozess und keine langfristigen Perspektiven. Mit der Eskalation des Ukrainekrieges durch die Invasion der russischen Armee und die massive militärische und finanzielle Eingebundenheit des Westens hat sich die Position Europas am Weltmarkt massiv verschlechtert. Die jahrzehntelang stabile und billige Energieversorgung des Kontinents ist dahin und muss nun durch neue Handelswege, Geschäftspartner und massive Kostensteigerungen kompensiert werden, ohne dass in den kommenden Jahren die zeitweise Unterversorgung mit Energie ausgeschlossen werden kann. Der Handel und Kapitalverkehr mit Russland (zehntwichtigstes Import-, 16.-wichtigstes Exportland Österreichs; 6,3 Mrd. Bestand österreichischer Auslandsinvestitionen in Russland, 22,4 Mrd. Bestand russisches Eigentum in Österreich) ist nun von der politischen Zustimmung der stärkeren imperialistischen Länder des Westens (Sanktionen) und dem Willen der sich militarisierenden Ökonomie Russlands abhängig). Der Kampf um Einflusszonen in Osteuropa, dem Kaukasus, in Zentralasien und am Balkan wird immer neue akute Konfliktfelder aufreißen. Die eingeleitete Aufrüstungspolitik (Militärausgaben der EU-Länder sind 2022 erstmals auf über 200 Mrd. € gestiegen) geht zu Lasten der öffentlichen Budgets und produktiver Investitionen.
Aus allen genannten Faktoren ergibt sich, dass die Arbeitsproduktivität weltweit sinkt: man braucht mehr Arbeitskraft, um die gleiche Menge an Gütern und Dienstleistungen herzustellen. Die Bourgeoisien werden dazu gezwungen, härtere Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu fahren, was dem Klassenkampf überall Auftrieb verschafft. Der restliche Nachkriegsspeck des reichen Westens wird aufgezehrt, der Sozialpartnerschaft und dem Einkaufen des sozialen Friedens durch imperialistische Extraprofite wird die Grundlage auch in Österreich immer weiter entzogen. Es gibt kein Zurück zur „Normalität“. Eine neue Normalität entsteht.
Krise der bürgerlichen Demokratie
Die österreichische Bourgeoisie ist angesichts der geopolitischen Plattenverschiebungen politisch orientierungslos. Als vor 30 Jahren der Stalinismus zusammenbrach, nützte sie dies als Chance, schnell auf neue Märkte vorzudringen, Extraprofite zu machen und politischen Einfluss über die engen Grenzen des Landes hinaus auszuüben. Jetzt ist sie in der Defensive und steht vor lauter schlechten Optionen. Dies fällt nach innen mit einer Krise der repräsentativen Demokratie zusammen. Letzter Befund gilt für alle westlichen Demokratien gleichermaßen und ist letztendlich eine Widerspiegelung der materiellen Fäulnis der kapitalistischen Produktionsweise. Wir diskutieren in den folgenden Paragraphen ihre konkrete Ausgestaltung, den Verlauf und die potentielle Weiterentwicklung in Österreich.
Das SORA-Institut erhebt seit 2018 die Einstellung der ÖsterreicherInnen zur Demokratie. Der Titel der aktuellen Studie ist eine prägnante Zusammenfassung des Ist-Zustandes: „Multiple Krisen – Demokratie unter Druck“. Trotz des relativ kurzen Vergleichszeitraumes zeigt die Studie Verschiebungen in der Wahrnehmung der demokratischen Institutionen quer durch alle Einkommensschichten. Auf die Frage nach dem Funktionieren des politischen Systems antworten 2022 64% (2018: 33%) mit „nicht gut“ und nur 34% (2018: 64%) mit „gut“. Das Vertrauen in die Institutionen ist ebenfalls im Sinkflug (Bundesregierung 33%/-9%, Parlament 38%/-8%, Bundespräsident 53%/-6%). Gleichbleibend hingegen ist ein relativ hohes Vertrauen in den noch als „unpolitisch“ verstandenen Staatsapparat, also die Behörden (58%), Justiz (65%) und der Polizei (77%). Der Grund ist, dass letzterer sich in der Politik noch vergleichsweise zurückhaltend geben kann, anstatt wie in anderen Ländern direkter einzugreifen, um die bürgerliche Stabilität (z.B. gegen Massenproteste) zu retten. Die eigene Erfahrung wird hier die Klasse lehren.
Das Systemvertrauen ist im untersten Einkommensdrittel am geringsten, hier empfinden die Menschen, kontinuierlich als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden (73%), im Parlament nicht vertreten zu sein (68%) und durch ihre eigene politische Beteiligung keinen Hebel zu haben (60%). Im mittleren Einkommensdrittel herrscht die Stimmung vor, dass die Politik ein Selbstbedienungsladen unter ihrem Ausschluss sei (78%) und hier ist der Abfall des Vertrauens in das politische System am größten. Das oberste Einkommensdrittel sieht in der Bevormundung durch den Staat (48%) das größte Problem. Quer durch die Reihen ist die Zuversicht, dass die Hautprobleme der Gesellschaft (Teuerung: 42%, Ungleichheit: 20%, Klimawandel: 15%, Ukraine-Krieg: 14%, Zuwanderung: 13%) gelöst werden können extrem gering (zwischen 4% bei der Teuerung und 13% bei der Zuwanderung).
Der Anteil jener, der sich mit gar keiner Partei identifizieren, hat sich von 13% auf 38% verdreifacht. Weniger als 30% der befragten WählerInnen sind mit der Regierung zufrieden.
Bemerkenswert ist dabei, dass alle bürgerlichen Regierungen in diesem Erhebungszeitraum darauf bedacht waren, eine offene Konfrontation mit der Arbeiterklasse zu vermeiden. Keine Regierung wagte, die Forderung der Industriellen nach einer neuen Pensionsreform anzutasten, die für heuer angekündigte Arbeitsmarktreform ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Stattdessen versuchen die Regierungen, nicht nur die Profite der Kapitalisten durch staatliche Zahlungen zu stabilisieren, sondern auch die Einkommensverluste der Arbeiterklasse so weit zu begrenzen, dass der „soziale Friede“ so weit wie möglich gewahrt wird. Die Bundesregierung hatte 2020 die Corona-Hilfen unter dem Slogan „Koste es, was es wolle“ gestartet. 1.475€ sind pro Kopf 2020 durchschnittlich für Corona-Wirtschaftshilfen ausgegeben worden, der höchste Wert in der EU, wo es im Durchschnitt 325€ waren. Nach anfänglichem Zögern wurde die gleiche Politik heuer bezüglich der Energiekrise vollzogen. Ein temporärer Strompreisdeckel, eine seit Jahren verschobene Lohnsteuersenkung (tritt mit 1.1.2023 in Kraft) und eine Serie von Einmalzahlungen wurden getätigt, mit dem dezidierten Ziel „soziale Unruhen“ (Arbeitsminister Kocher) bzw. „einen heißen Herbst“ (VP-Innenminister Karner) zu verhindern. An der politischen Haltung der ÖsterreicherInnen zur Regierung änderte dies nichts, im Gegenteil. Die offensichtlichen Unregelmäßigkeiten und Bedienung von spezifischen Interessensgruppen in der Wirtschaft (Tourismus, Handel) bei den Geldgeschenken untergruben die politische Autorität der Regierenden weiter. Angesichts der weiter krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus wird diese Scheckbuch-Politik an ihre Finanzierungsgrenzen stoßen.
Die politischen Schlussfolgerungen liegen auf der Hand: Es besteht ein latentes Potenzial, dass die herrschende Unzufriedenheit sich in Parteikrisen manifestiert, zu einer weiteren Ausfransung des Parteienspektrums führt und der Ausgang von Wahlen zunehmend unberechenbar wird. Dies ist die Grundlage für politische Instabilität, ein über Jahrzehnte unbekanntes Phänomen in Österreich.
Weiters ist wegen dieser latenten Unzufriedenheit und Wut, die durch die bestehenden Parteien kaum mehr kanalisiert werden kann, auch immer der Ausbruch einer Bewegung auf der Straße eine Möglichkeit. Das ist nicht vorhersehbar, darf aber in einer derart instabilen Situation nicht außer Acht gelassen werden. In Deutschland zitterte die herrschende Klasse im Herbst vor „Gelbwestenprotesten“ wegen der hohen Energiepreise. In Tschechien gingen zehntausende auf die Straße, um gegen hohe Preise und Ukraine-Krieg zu protestieren. Die massenhaften Anti-Covid-Maßnahmenproteste waren ein Zeichen dafür, dass dieses Potential in Österreich auch besteht – auch wenn sie unter Führung der Rechten und mit reaktionären Inhalten kein Ansatzpunkt für eine Klassenpolitik waren.
Parteien in der Krise
Die Bundeskanzlerpartei ÖVP liegt in Umfragen seit Monaten deutlich abgeschlagen bei knapp über 20% Wählerunterstützung und damit hinter der FPÖ (die derzeit in der oberen 20%-Zone liegt) und SPÖ (derzeit mittlere 20%-Zone) auf Platz drei. Es folgen gleichauf die Grünen und Neos bei knapp über 10 Prozent. Weniger als 30 % der befragten WählerInnen sind mit der Regierung zufrieden. (siehe z.B. Standard-Umfrage (9.12.) oder via statista.com)
Neuwahlen, um politische Krisen zu lösen sind, entgegen der alten Propaganda, die Ausnahme und nicht die Regel. Denn die Wahlergebnisse und selbst das Parteienangebot sind immer unberechenbarer. Gewählt werden soll aus Sicht des Kapitals erst, wenn eine berechenbare und im besten Fall erwünschte politische Konstellation vorbereitet wurde. Das ist aktuell in Österreich nicht der Fall, daher wird die bestehende Regierung möglichst lange weiterwursteln, sofern sie von der Arbeiterklasse nicht davon abgehalten wird.
Die Spitzen von ÖVP und Grünen sind entschlossen, die Regierung bis zum regulären Ende der Legislaturperiode weiterzuführen. Die neue rassistische Kampagne ist dabei zynisches politische Kalkül beider Regierungsparteien: „Daher haben sich die zwei Regierungsparteien eine Strategie zurechtgelegt, die sie vor herben Wahlniederlagen schützen soll. In Sachen Wirtschaft wollen Kanzler Karl Nehammer und sein grüner Vizekanzler Werner Kogler eine harmonische Achse bilden. Das soll auch bei der Regierungsklausur Anfang Jänner demonstriert werden. Aber: In den Herzensangelegenheiten von Grün und ÖVP-Klima- und Migrationspolitik soll es einen teils kalkulierten Streit geben. Die ÖVP reagiert zunehmend nervöser auf den Aufstieg der Blauen in Umfragen und erklärt sich das – etwas verkürzt – nur mit den wieder steigenden Migrationszahlen. Die ÖVP soll hier bis zur NÖ- und Salzburg- Wahl aufs Gas drücken dürfen, während Grüne den Kurs nicht nur kritisieren dürfen, sondern sogar sollen. „Das hilft uns dann bei unseren Wählern.“ Nur, ob das nicht ein Spiel mit dem Feuer ist?“ (Österreich, 22.12.22)
Entwicklung der ÖVP
Die regierende ÖVP ist eine breit aufgestellte bürgerliche Volkspartei. Sie ist bündisch organisiert, eng mit dem Staatsapparat verwoben, von der Ministerialbürokratie über die Kammern bis hinunter in die Gemeindestuben und freiwilligen Feuerwehren des hintersten Ortes im vorderletzten Alpental. Sie ist organisch mit mächtigsten Kapitalgruppen und ihren Interessensgruppen und Medienkonzernen verwachsen und personell verschnitten. Die ÖVP ist seit 37 Jahren in der Bundesregierung und ist seit ihrer Gründung DIE Garantie für politische Stabilität im Sinne des Kapitals. Doch das ist jetzt nicht mehr der Fall.
„Stimmung=Wechselstimmung“, mit dieser richtigen Perspektive organisierte Sebastian Kurz und seine UnterstützerInnen im Frühjahr 2017 einen minutiös geplanten Putsch gegen die sozialpartnerschaftlich orientierte ÖVP-Führung unter Vizekanzler Reinhold Mitterlehner. Die zentrale Idee war, wieder ohne Sozialdemokratie zu regieren und die Gewerkschaften aus dem Staatsapparat zu drängen. Dies gelang, allerdings enttäuschte Kurz die Kapitalisten, indem er weit mehr Energie in die Kommunikation seiner selbst als die Umsetzung zentraler Projekte der Kapitalisten steckte. Damit aber leitete er die bisher instabilste Periode der österreichischen Innenpolitik der Zweiten Republik ein. Er hinterließ in der eigenen Partei einen politischen Scherbenhaufen, der noch nicht wieder repariert werden konnte, sondern weiter destabilisierend wirkt.
Kurz machte die ÖVP zweimal (2017 und 2019) zur stärksten Partei, bildete zuerst eine Koalition mit der FPÖ (Dezember 2017 bis Mai 2019) und dann mit den Grünen (ab Jänner 2020). Dazwischen amtierte eine sogenannte „Expertenregierung“, die in Wirklichkeit eine Allparteienregierung der Nationalen Einheit war. Seit 2017 gab es fünf BundeskanzlerInnen und 6 Amtsperioden. Ständige Ministerwechsel und ein oft bemerkenswert unglaubwürdiges Ministerportfolio kennzeichnen die ÖVP-geführten Regierungen der letzten Jahre. Nur sechs von 15 MinisterInnen wurden seit Antritt der türkis-grünen Regierung im Jahr 2020 noch nicht ausgewechselt.
Die Kurz‘sche Politik war durch die Begünstigung der Machtausübung und die Selbstbelohnung seines Loyalisten-Netzwerkes gekennzeichnet und von persönlicher Eitelkeit geprägt. Dies alles ging über die traditionelle Methodik der ÖVP und die Normen des bürgerlichen Staates in Österreich hinaus. Diese Machtstrategie umfasste ein gut organisiertes Netzwerk in Politik (Der Politikwissenschaftler Filzmaier schätzt, dass der aktuelle ÖVP-Parlamentsclub zu 30-50% aus Kurzloyalisten besteht), Staatsapparat, Medienlandschaft („seriöse“ bürgerliche Medien, Boulevardkonzerne und ORF), und inkludierte sowohl traditionelle ökonomische Machtfaktoren (Raika) als auch neureiche Aufsteiger und Finanziers (Sigma-Holding, Novomatic, Pierer, Sigi Wolf, Society-Ladies).
Die inneren Widersprüche seines türkisenen Projektes zwangen Kurz aber im Oktober 2021 zum Rücktritt. Unmittelbar verantwortlich dafür waren Staatsanwälte, die es sich nicht nehmen ließen, die Machenschaften, Finanzierungen und den mutmaßlichen Amtsmissbrauch des Kanzlers und seiner Entourage gerichtlich zu verfolgen. Als die Situation unhaltbar wurde, stellten sich die Grünen mit Unterstützung der bürgerlichen Öffentlichkeit offen auf die Seite des Justizapparates, holten sich die politische Zustimmung der ÖVP-Landeschefs und managten für den Kanzler einen ehrenvollen „Schritt zur Seite“.
Der Kurzzeit-Bundeskanzler Schallenberg war als Platzhalter für Kurz gedacht, doch der adelige Diplomat konnte sich nur zwei Monate halten. Die neue Zuspitzung der Corona-Krise im Winter 2021 erzwang, dass eine Person mit Hausmacht in der ÖVP ins Zentrum rückt. Dies war Innenminister Nehammer, der sowohl Teil des Kurzschen Netzwerkes war, als auch tief in der ÖVP-NÖ verwurzelt ist und außerdem als „Mann für das Grobe“ positioniert war.
Beim Parteitag der ÖVP im Mai 2022 wurde Bundeskanzler Nehammer mit 100% der Stimmen gewählt. Im Vorfeld dieser Veranstaltung traten die drei engsten Kurz-LoyalistInnen als MinisterInnen zurück, nachdem Versuche eines neuerlichen Kurz-Putsches im Vorfeld der Veranstaltung gescheitert waren. Es entsprach schon immer dem Wesen der bürgerlichen Demokratie, die wirklich wichtigen Fragen in Hinterzimmern und nicht in offener Debatte zu behandeln. Die vergangenen Parteitage der ÖVP waren jedoch gänzlich frei von Politik und formalem demokratischen Prozedere und wurden als feudale Loyalitätskundgebungen abgehalten. Das zeigt die Schwäche und die anhaltende innere Gespaltenheit der ÖVP. Nehammer hat keine Kontrolle über die Partei. Seine handverlesene Generalsekretärin Laura Sachslehner trat in offener Opposition gegen den Bundeskanzler im September 2022 zurück und in die Wiener ÖVP ein. In weiterer Folge bereite dies die Rückkehr des unter Justiz-Verdacht stehen Kurz-Anhängers Fleischmann vor.
Zeitgleich und um von ÖVP-Krisen und sozialer Unzufriedenheit abzulenken, wurde eine Neuauflage der rassistischen Migrationspolitik gestartet, die vorerst in einem Veto gegen den Schengenbeitritt Rumäniens und Bulgariens endete. Solche Manöver sind in der jetzigen Situation gegen das Interesse des österreichischen Kapitals, das weder ein chaotisches „Orban-gleiches“-Verhalten in Brüssel, noch die Brüskierung der Bourgeoisien seiner wichtigsten Einflusszone wünscht und zudem unter Arbeitskräftemangel leidet, also die allseits beschworene „qualifizierte Migration“ wünscht (mind. 26.000 Rumäninnen arbeiteten 2020 in Ö in der Pflege). Zur Verdeutlichung: Die OMV ist größter Auslandsinvestor in Rumänien und übt dort starken politischen Einfluss in allen Parteien aus. In Rumänien liegen auch die größten unerschlossenen Erdgasvorkommen unter Kontrolle österreichischen Kapitals. Die RBI ist drittgrößte Bank im Land, etc. Das österreichische Veto gegen Rumänien und Bulgarien stellt die ÖVP diametral gegen die Profitinteressen der größten heimischen Kapitalgruppen und entfremdet die Bourgeoisie des Ostbalkans von Wien. Aber: die politische Krise der ÖVP ist so tief, dass die ehemals seriösen Bürgerlichen der ÖVP demagogische politische Tiraden wagen müssen, um sich an der Macht zu halten.
Die Grünen
Die Grüne Partei erweist sich in Person des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellens und seit ihrem Eintritt in die Regierung als Partei der Stabilität für das österreichische Kapital. Durch beruhigende Worte („so sind wir nicht“) eilte Van der Bellen der Regierung und dem politischen System wiederholt zur Hilfe. Die grüne Regierungsmannschaft und Parlamentsfraktion adjustieren ihre moralischen und politischen „Grund“sätze bis zur Selbstaufgabe in Permanenz, um die Stabilität der Regierung zu gewährleisten.
Das ist für sie und ihr Gewicht im Staatsapparat und als Vertreterin der herrschenden Klasse lohnend. Mit dem Klima-Ministerium ist es den Grünen gelungen, was der FPÖ im Innenministerium versagt blieb: der Aufbau eines von ihnen kontrollierten Apparats zur Administration von beträchtlichen Geldsummen, in dem Fall des Klimabonuses. Damit haben es die Grünen geschafft, ein Teil des Staatsapparats zu werden und nicht nur Regierungspersonal zu stellen. Die strategisch notwendige Energietransformation weg von Erdöl und Erdgas ist im spezifischen Interesse einiger Kapitalgruppen (High-tech, Green Tech, NGOs), die schon länger auf die Grünen setzten. Jetzt werden mit staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe (9 Mrd. €) Energieumstellungen der Industrie finanziert, was die organischen Verbindungen der Partei in den traditionelleren Sektoren des Kapitals stärken wird.
Die Grüne Partei war nie eine Mitgliederorganisation im klassischen Sinn, sondern eine kleinbürgerliche Bewegung mit politischer Repräsentanz und staatlicher Finanzierung. Jetzt ist sie Bestandteil des Staatapparates, organisch mit dem Kapital verbunden und politisch in jeder Hinsicht abgetestet und auf Stabilität und imperialistische Expansion für das Kapital getrimmt. Im Justizministerium erzwangen die Grünen personelle Veränderungen, die ein im Sinne der bürgerlichen Gewaltenteilung normales Funktionieren der Justiz ermöglichte. Diese Haltung inspirierte auch Journalisten in vielen Medienkonzernen, eine kritischere Haltung gegenüber mit Kurz verbündeten ChefredakteurInnen einzunehmen, was zu zahlreichen Redaktionskonflikten und auch Rücktritten (etwa Rainer Novak bei „Die Presse“) führte. Die Grünen sind eine lupenreine liberale bürgerliche Partei. Sie nutzen ihre Regierungsbeteiligung, um die politischen Verhältnisse in diesem Sinne zu verschieben und sich dabei fest als Vertreter des Kapitals und den Apparaten der Klassenherrschaft zu verankern.
Fall und Wiederaufstieg der FPÖ
Die FPÖ wurde in der Regierung Kurz I fast zerstört. Schon ihre erste Regierungsbeteiligung in einer ÖVP-Regierung (2000-2002) endete in einer Parteispaltung. Der Austritt von HC Strache und einiger Getreuer im Zuge des Ibiza-Skandals bedeutete in Wirklichkeit eine Stärkung der Partei, da der Parteiretter von 2002 mittlerweile politisch völlig verbraucht war und bereits an vielen persönlichen Problem litt. Für eine kurze Periode (Mai 2019- Mai 2020) wurde die FPÖ von Nobert Hofer geführt. Hofer stand für jederzeitige Regierungswilligkeit, Kickl stand für die Stärkung der Partei durch konsequente Oppositionspolitik. Im Juni 2021 konnte sich Kickl gegen den zermürbten Hofer durchsetzen und seither eine Dynamik für die FPÖ schaffen.
Unter seiner Führung wurde die FPÖ wieder zur Partei mit der derzeit (laut Umfragen) höchsten Wählerunterstützung. Sie ist die einzige politische Kraft im Parlament, die konsequent in Opposition zur Regierung steht und dies während der Corona-Zeit offensiv und auf der Straße gegen die Corona-Maßnahmen vertrat. Sie steht gegen eine österreichische Beteiligung in den Ukraine-Krieg und gegen Russlandsanktionen sowie für die Schließung der Grenzen. Diese konsequent-demagogische Politik hat die Unterstützung für die FPÖ wieder regeneriert. Auch die offensiv formulierte reaktionär-konservative Gegenreaktion auf die reaktionär-liberale Identitätspolitik ist gesellschaftlich nicht isoliert.
Die Partei und ihr Vorsitzender genießen kein Vertrauen im Kapital, weil er als Minister bereits einmal getestet wurde und durch eine sehr eigenmächtige Politik aufgefallen ist. Das österreichische Kapital braucht gesamthaft die guten Verbindungen zu seinen Nachbarn und der EU als Ganzes als Markt für Waren und Kapital. Die nationalistische Demagogie gegen Flüchtlinge mit den praktischen Folgen des „Grenzen schließen“ ist, wie oben beschrieben, bereits aus der Feder der ÖVP ein Problem für das Kapital, das die EU braucht – die FPÖ wäre in dieser Frage noch unberechenbarer. Weiters wirkt die FPÖ auch in der Arbeiterklasse und Jugend enorm polarisierend, und die Erinnerungen an ihre letzte Regierungsbeteiligung sind frisch und sie endete in der Katastrophe. Ein Wunschszenario ist eine baldige neue Regierungsbeteiligung der FPÖ aus Sicht des Kapitals nicht.
Aber wir sollten nicht auf liberale Politikwissenschaftler hören, die eine neue Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Kickl kategorisch ausschließen. Die Krise des österreichischen politischen Systems ist in jeder Hinsicht zu tief, als dass man eine 25-30%-Partei prinzipiell aus der Regierungsverantwortung ausschließen könnte. Zudem, die von der FPÖ vertretenen Positionen sind sowohl international als auch in Österreich die politische Übersetzung der real stattfindenden Entglobalisierung, die nationalstaatliche Alleingänge politisch anschiebt. Kleinere und schwächere Kapitalisten sowie Kleinbürgerliche, die nicht so stark auf internationale Lieferketten angewiesen sind, aber umso mehr unter der Konkurrenz aus dem Ausland leiden, stehen dieser Politik offen. Daher kann die FPÖ in diesen Schichten Unterstützung generieren.
Die FPÖ ist dabei keine faschistische Partei, die die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie anstrebt, sondern Mehrheiten im Parlament durch Wahlen und Abstimmungen. Kickl argumentiert nicht für den Austritt aus der EU, sondern würde dort „nur“ ein neues Problem unter anderen sein. Seine Einschätzung der Corona-Maßnahmen, wie auch seine Kritik an der Selbstbeschädigung des Standortes Österreich durch die Russland-Sanktionen sind Minderheits-Positionen, die aber auch in der österreichischen Bourgeoisie und in der ÖVP politischen Rückhalt haben. Eine Rückkehr der FPÖ in die Regierung ist sicher nicht der Wunsch der Kapitalisten, aber nicht ausgeschlossen.
Ausfransung der Parteienlandschaft?
Der Reformismus, allen voran die Sozialdemokratie, dominiert die Arbeiterbewegung fast vollständig. Er steckt in einer tiefen Krise, was keine konjunkturelle Phase, sondern in der gegebenen Epoche des kapitalistischen Niedergangs ein objektiv bedingter Prozess ist. Aufgrund seiner besonderen Bedeutung als derzeitige Führung der Arbeiterklasse und die Herausbildung einer marxistischen Führung diskutieren wir ihn ausführlich in einem eigenen Kapitel. Hier genügt es vorerst festzuhalten, dass die SPÖ für die Arbeiterklasse kein geeignetes politisches Instrument für die Durchsetzung auch nur irgendeines politischen oder sozialen Interesses ist, und diesbezüglich auch keine Illusionen in der Arbeiterklasse bestehen. Obwohl sie nunmehr seit 5 Jahren in der Opposition ist, gibt es in der Gesellschaft keinerlei Enthusiasmus gegenüber dieser Partei.
Parteipolitische Apathie in der Arbeiterklasse, die Angst vor sozialem Abstieg und Ausgeschlossenheit aus dem politischen Prozess in den höheren Einkommensschichten der Klasse und im Kleinbürgertum sowie das Fehlen von Parteienbindung in der Jugend bedeuten, dass sich der Unmut daher andere Ausdrucksformen sucht. Denn trotz der Diskreditierung der konkreten politischen Angebote ist die Demokratie doch tief im Massenbewusstsein verankert, v.a. in Deutschland und Österreich, wo sie über Jahrzehnte ideologisch als Antwort und alleinige Alternative zu Faschismus und Krieg ins Massenbewusstsein eingehämmert wurde. Wenn Wahltag ist, gehen die meisten wählen und stellen dazu Überlegungen an, auch wenn sie mittlerweile meist bedeutet, das „kleinere Übel“ anzukreuzen. Solange die Bourgeoisie ihre Klassenherrschaft demokratisch ausübt (und das ist aus ihrer Sicht die beste, weil sicherste Form) prägen Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten, einzelne PolitikerInnen etc. die Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit.
Nur einmal konnte eine Formation der Arbeiterbewegung das Vakuum füllen: Die Wahl in Graz machte die KPÖ erstmals zur stärksten Partei. Der amtierende Kandidat für das Amt des Bundespräsiden, Van der Bellen, zählte auf die Unterstützung aller Parlamentsparteien außer der FPÖ und erlangte trotzdem nur 55% der Stimmen, nur in der ältesten Wählerschicht (über 60) hatte er eine absolute Mehrheit. Nur 14 % der Wahlteilnehmer im Tirol zeigten sich mit dem politischen Angebot zufrieden. Es gibt das Potential, aber auch die Notwendigkeit neue Zirkusponys in die parlamentarische Arena zu bringen, um die Legitimität der bürgerlichen Demokratie in den Augen der Massen glaubhaft und lebendig zu halten.
Derzeit hat unter den vielen Interessenten (siehe Bundespräsidentenwahl) die Bier-Partei am meisten Potential für eine erfolgreiche und dem Kapital genehme Bundeskandidatur. Dominik Wlazny erreichte als Präsidentschaftskandidat 8,7%, unter Jugendlichen (16-29) war er mit 20% der zweitstärkste Kandidat. Wlazny inszeniert sich als cool, politisch liberal und sozialpolitisch links. Er hat eine rudimentäre politische Organisation und es gibt offensichtlich ein von ihm und der herrschenden Klasse geteiltes Interesse, sein Engagement in der großen Politik aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zur KPÖ, die seit Graz nur in einzelnen nationalen Umfragen abgefragt wurde, wird Wlazny in den Medien als ernsthafter und etablierungswürdiger politischer Faktor behandelt. Dies zeigt das Interesse des Kapitals daran, im Sinne der politischen Stabilität eine politisch nicht diskreditierte und leicht kontrollierbare linksliberale Formation zu unterstützen.
Die organische Krise des Reformismus
Eine empirische Beschau der Sozialdemokratie ergibt den Befund einer dahinsiechenden sozialliberalen Partei, ohne politisches Leben, Relevanz und Initiative. Eine umfassende Beurteilung darf sich aber nicht auf den Augenschein von Oberflächenmerkmalen beschränken, daher zur Erinnerung:
„Die österreichische Sozialdemokratie ist tief in der Arbeiterklasse verankert. Sie kontrolliert die Gewerkschaften mit ihren 1,2 Mio. Mitgliedern und kann sich auf das Betriebsrätewesen stützen. Sie zählt viele Teilorganisationen, die spezifische soziale Bedürfnisse organisieren und artikulieren: Kinderfreunde, Volkshilfe, Mieterschutzorganisationen, Naturfreunde, Sportvereine… Sie kontrolliert mit der Arbeiterkammer ein Teil des Staatsapparates, der alle Lohnabhängigen erfasst. Kurz: eine Revolution in Österreich ist nicht vorstellbar ohne einen massenhaften Bruch in dieser Tradition.“ (ÖP2019) Die Sozialdemokratie ist eine Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung. Auch diese Analyse ist weiter korrekt, aber in welchem Verhältnis stehen beide Feststellungen?
Die Vorsitzende der Partei ist eine liberale Karrierebeamtin, die durch eine Kette von Zufällen nach der Wahlniederlage der SPÖ im Herbst 2017 von ihrem Vorgänger, dem Manager Christian Kern, an die Parteispitze gestellt wurde. Dort ging sie eine Interessenskoalition mit dem mächtigen Wiener Parteiapparat ein. Das Hauptinteresse der Wiener SPÖ sind stabile Beziehungen zur Bundesregierung, um die politische Kontrolle über den Wiener Staatsapparat stabil zu halten. Genau dasselbe Interesse haben die Spitzen der Gewerkschaften. Daher unterstützen auch die Gewerkschaftsspitzen Rendi-Wagners Vorsitz der Partei.
Aufgrund der permanenten Krisenerscheinungen der Bundesregierung hoffen diese Kräfte, dass sie schon bald zurück an die Regierung kommen. Das bestimmt ihre Taktik maßgeblich mit. Nach innen herrscht eine unpolitische Stimmung und ein intolerantes Regime, das selbst in den Jugendorganisationen durchgesetzt wurde. Aber Rendi-Wagner ist weder in der Partei noch der Gesellschaft in allgemeinen ein Zugpferd, und daher ist es nicht gegeben, dass die SPÖ allein durch die inneren Widersprüche der türkis-grünen Regierung im Schlafwagen an Regierungsposten zurückkehren kann. Dass die Bundesregierung im Zuge der Corona Krise (ab März 2020) eine „Widerauflage der Sozialpartnerschaft“ und Einbindung der Länder signalisierte (also eine Wiedereinbindung der Wiener Landesregierung, und der Gewerkschaftsspitzen) und die SPÖ 2022 mehrere Monate in Wahlumfragen führte (Frühjahr bis Herbst 2022) dämpfte die Konflikte in der Partei. Aber Chaos und Unstimmigkeit sind aus der Partei nicht wegzubekommen.
Wichtigstes Sprachrohr ist dabei die burgenländische Landespartei, die medial aber auch parteiintern über das Burgenland hinaus starke Machtpositionen aufgebaut hat. Doskozil streute Umfragen, dass er selbst beliebter sei als Rendi-Wagner und im Gegensatz zu ihr garantieren könne, dass die SPÖ nach 5 Jahren wieder stärkste Partei werden könne. Ex-Parteichef Kern hört auch nicht auf zu sticheln und gemeinsam mit seinem ehemaligen Generalsekretär Max Lercher politische Projekte zu entwickeln, allerdings ohne entscheidende Schritte zu setzen. Gleichzeitig unterstützt Kern auch Doskozil. Die Parteivorsitzende ist so schwach, dass sie gezwungen war, gleichberechtigt mit ihrem Vorgänger die Parteilinie zu Energiekosten zu präsentieren.
Fotomontage. Bilder: SPÖ / anonym (reddit)
Alle diese Charaden und Intrigen haben keinen Klasseninhalt. Sie helfen aber, die Krise des Reformismus zu verfestigen und zu vertiefen, was in historischer Perspektive eine notwendige Vorbedingung für die Revolution ist. Für die MarxistInnen ist es daher vor allem wichtig, die Verantwortung der Arbeiterpartei politisch zu benennen. Eine Sozialdemokratie mit der Verankerung und Tradition wie in Österreich, die auch nur in einer einzigen Frage eine Klassenposition formuliert und dafür einen Kampf organisiert, würde die politische Situation in Österreich schlagartig verändern. Aufgrund des Klassencharakters der Partei ist es auch nicht ausgeschlossen, dass eine Figur wie Corbyn in Großbritannien auftreten könnte. Voraus- oder absehbar ist das aber nicht.
Die ArbeiterInnen werden kämpfen, wenn sie dazu bereit sind, und sie werden dazu jedes Werkzeug nehmen, das ihnen greifbar ist und nützlich erscheint, und womöglich welche improvisieren. Zu diesem Zeitpunkt wird sich zeigen, wie viel soziale Reserven die Sozialdemokratie mobilisieren kann.
Um zu gewinnen, braucht die Arbeiterklasse aber klare Ideen, die man nicht willkürlich improvisieren kann. Die IMT ist eine ernsthafte theoretisch und politisch klar definierte und von allen anderen Tendenzen und Ideen abgegrenzte revolutionär-marxistische Strömung in der Arbeiterbewegung. Die Aufgabe der MarxistInnen ist es dabei zu helfen, durch die Formulierung von Klassenstandpunkten in exemplarischen Kämpfen, insbesondere in den Jugendorganisationen und Gewerkschaften, den notwendigen politischen Bruch der Arbeiterklasse mit dem Reformismus in der Realität vorzubereiten. Solange die Sozialdemokratie diese objektive Bedeutung für die Arbeiterklasse in Österreich genießt, wäre alles andere nichts anderes als der Weg in die moralisch bequeme Nischenpolitik und Sektierertum. Die historische Aufgabe, vor der die Arbeiterklasse steht, ist aber die Machtübernahme.
Der Wahlsieg der KPÖ in Graz bestätigt unsere Analyse der politischen Instabilität. Dieser Erfolg fand auf der Basis statt, dass die Partei in der Stadt eine glaubwürdigere, reformorientierte Opposition zur verhassten ÖVP präsentieren konnte als die blutleere SPÖ. Dieser Wahlsieg eröffnete die Perspektive einer politischen linken Alternative zur Sozialdemokratie: Das ein Bedürfnis dafür besteht, zeigten Wahlumfragen nach der Grazwahl, die einer bundesweit kandidierenden KPÖ bis zu 5% voraussagten.
Die Bourgeoisie jedenfalls nimmt die potenzielle Gefahr einer wiedererstarkten KPÖ ernster, als sie öffentlich zugeben würde. Obwohl eine von drei Kommunen in Österreich wegen der Inflation in eine finanzielle Schieflage rutscht, statuiert sie gerade an Graz ein Exempel und drohte mit einer Entmachtung der Stadtregierung durch eine kommissarische Verwaltung. Es ist klar, dass dahinter strategische Überlegungen stehen, den „Kommunismus“ scheitern zu lassen. Die attestierte finanzielle Schieflage der Kommune ist im Übrigen allein den Privatisierungen und Finanzgebarungen von 20 Jahren ÖVP-FPÖ Regierung geschuldet, und finanzierte keine einzige Reform zugunsten der Arbeiterklasse.
Die Grazer KP-Führung ging sofort in die Defensive und akzeptierte dankend angebotene „Hilfestellungen“ der Bürgerlichen zur finanziellen Stabilisierung der Stadt. Sie wird so auch gezwungen sein, Kürzungen und Gebührenerhöhungen umzusetzen. Das zeigt in der Praxis, dass die Partei fest auf dem Boden des Reformismus steht, auch wenn er von „linkerer“ Spielart ist, und dass auf dieser politischen Basis alle Straßen zum selben Ergebnis führen: Wer das kapitalistische System praktisch akzeptiert und zur Basis seines Handelns macht, muss in der tiefen Krise die Arbeiterklasse angreifen.
Die Strategie der KPÖ Graz bestand immer in kleinteiliger Realpolitik: karitative Arbeit, politische Sauberkeit (Facharbeiterlohn ihrer Funktionäre) und Charisma der Spitzenkandidatin Elke Kahr als regional erarbeitete lokale Spezifika. Wie pessimistisch ihre Weltsicht und die Möglichkeiten der Arbeiterklasse sind, zeigt sich etwa darin, dass einer der Bundessprecher der KPÖ die revolutionäre Bewegung im Iran noch im dritten Monat allein als „Proteste“ begreift, und damit meilenweit sowohl hinter den tatsächlichen Ereignissen als auch ihrer Widerspiegelung im Bewusstsein der iranischen Massen (selbst im Exil) zurückbleibt.
Die KPÖ orientiert auch über Graz hinaus auf kommunale Kleinstarbeitsarbeit mit niedrigem politischem Anspruch. Sie versuchte darüber hinaus auch Straßenproteste gegen die Teuerung zu organisieren. Diese Demos blieben klein. Weil die KPÖ aber keine Analyse der Rolle der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und von sich selbst hat, hat sie – einmal mehr – pessimistische Schlüsse aus dieser Erfahrung gezogen. Unter diesen Voraussetzungen kann das Potential einer kämpferischeren Alternative zum sozialdemokratischen Reformismus sich nicht verwirklichen. Die KPÖ kann zwar weiterwachsen, aber in kleinerem Ausmaß und ohne größere politische Strahlkraft aufzubauen – was als Möglichkeit objektiv angelegt und ein Schritt nach vorne wäre.
Die Lage der Arbeiterklasse
Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen sinkt seit 40 Jahren zugunsten der Profite, die Realeinkommen stagnieren in Österreich seit 1998. Es gab zwei große Gegentendenzen, die die Situation für die Arbeiterklasse erträglich machten. Niedrige Zinsraten erlaubten auch ArbeiterInnen, Konsumausgaben und die Bildung von Eigentum (Eigentumswohnung und Häuser auf dem Land) durch Kredit. Und zweitens verbilligten sich Konsumgüter (v.a. Unterhaltungselektronik und Handys) und Fernreisen relativ zu den Löhnen. Das Leben der Arbeiterklasse schien zumindest für deren obere und mittlere Schichten recht stabil, und man konnte sich was leisten, wenn man dafür hart arbeitete. Dies stimmt jetzt immer weniger. Inflation, Zinssteigerungen, extreme Preissteigerungen bei Immobilien, Reisen etc. rücken die Möglichkeiten der Verbesserung des Lebens von der Arbeiterklasse weg. Andererseits steigen Mietpreise, Energiepreise und Nahrungsmittelpreise deutlich schneller als die Inflationsrate, ein sehr hoher Anteil des Lohneinkommens geht also für die täglichen Bedürfnisse drauf. In ärmeren Schichten der Klasse stellt sich die Frage: anständiges Essen oder Heizen bereits heute. 19 Prozent (Q2/2022) der Bevölkerung befürchteten, ihre Wohnkosten nicht mehr oder nicht rechtzeitig bezahlen zu können. Im ersten Quartal des Jahres waren es nur 14 Prozent und gegen Ende des Vorjahres nur zwölf Prozent. (Statistik Austria, „So geht’s uns heute“, Studie zu sozialen Krisenfolgen) Krieg, Krise und Protektionismus werden von der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt bezahlt.
Die Arbeiterklasse wurde bereits durch die Pandemie unter Druck gebracht. Sie bedeutete eine schlagartige Umstellung der Lebensgewohnheiten und Möglichkeiten. Homeoffice beispielsweise vereinzelte Beschäftigte voneinander und verschränkte die Arbeitswelt mit der Familie und war das Einfallstor, um die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit aufzuweichen. Dies wurde von vielen Unternehmen als Chance verstanden durch eine bleibende Reorganisation der Arbeit Büroarbeitsplätze abzubauen, die Arbeitszeit zu entgrenzen, die Arbeitsnorm zu erhöhen und die Betreuung von Kindern flexibel und zu Hause nebenbei zu organisieren. Andere Teile der Klasse waren und sind hingegen gezwungen, über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu arbeiten.
Fast überall herrscht eine eklatante Unterbesetzung an Personal. Daraus resultiert eine Steigerung der Arbeitsintensität, die an die Grenzen der individuellen Belastbarkeit führen. In essentiellen Leistungen (Spitäler, Kindergärten, öffentlicher Verkehr) und im öffentlichen Dienst verdichtet sich eine Serie von Prozessen zu einer tiefen Krise, die sich nicht auflösen wird. In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese Bereiche niedergespart, Aufnahmestopps verhängt, Dienstposten eingespart, die Arbeit verdichtet und der soziale Status der Beschäftigten niedrig gehalten („Kindergartentanten“) und durch politische Kampagnen („faule Beamte“) zerstört. Dieser gesamte Bereich ist dementsprechend überaltert und kann in der jetzt beginnenden Pensionierungswelle (mehr als ein Drittel des Pflegepersonals, LehrerInnen, KinderpädagogInnen, usw. steht in den kommenden Jahren vor dem Pensionsantritt) seine Leistungsfähigkeit nicht aufrechterhalten. Aktuell fehlen beispielsweise 1.800 KinderpädagogInnen, 2030 sollen es 13.700 sein. (Uni Klagenfurt/Institut für Berufsbildungsforschung (öibf), siehe Kurier, 22.12.2022) Von 127.000 Pflegebeschäftigen (67.000 im Krankenhaus, 60.000 in der Langzeitpflege) erreichen ein Drittel innerhalb der kommenden zehn Jahre das Pensionsalter, was in Kombination mit anderen Faktoren (demographische Entwicklung, Verweildauer im Beruf, …) einen prognostizierten Bedarf von 75.000-100.000 neuen Pflegekräften bedeutet. (Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich, Gesundheit Österreich GmbH) Abgesehen von den direkt Beschäftigten betrifft dies die gesamte Arbeiterklasse. Die Krise des öffentlichen Sektors schiebt die Privatisierung von öffentlich erbrachten und solidarisch finanzierten Leistungen an (2-Klassenmedizin), macht Druck auf die Erhöhung des Pensionsantrittsalters und die weitere Verdichtung und Ausweitung der Arbeitszeit im Allgemeinen.
Die erfahrene gesellschaftliche Anerkennung in der COVID-Krise und symbolische Statusverbesserungen, etwa die Akademisierung von Pflege, Kinderpädagogik und der Erwerb neuer Titel für jeden kleinsten „Zusatzskill“, den man erwerben muss, stimmen nicht mit der vorgefunden Arbeitsrealität überein. Charakteristisch (aber nicht einzigartig) für diesen Prozess ist der Pflegesektor. Die durchschnittliche Verbleibzeit an einem öffentlichen Spital liegt bei einem Neubeitritt deutlich unter 10 Jahren. Bei ca. 75.000 Dienstposten sind ca. 10.000 Stellen dauerhaft unbesetzt. Die Arbeit ist ein ständiger Stress und für viele eine Überforderung, die zulasten der eigenen Gesundheit geht. Die „Missed Nursing Care“ brachte unter anderem diese Ergebnisse hervor: 84% aller Pflegepersonen fehlt die Zeit für notwendige Tätigkeiten, 3/4 überlegen den Beruf zu verlassen, eine durchschnittliche Pflegeperson in einem österreichischen Spital ist im Nachtdienst für 22 PatientInnen verantwortlich. 67,8% der Befragten gaben an, dass die Pflegepersonalbesetzung in den letzten 3 Monaten selten oder nie angemessen war. Dies ist ein Teufelskreis, da Arbeiten unter permanenten Stress zu Krankheit führt. Angesichts der chronischen Unterbesetzung bedeuten Krankenstände, dass die Dienstpläne nicht halten, und Beschäftigte ständig angehalten werden einzuspringen. Ständig muss man gegenüber Vorgesetzten das Recht auf Planbarkeit und Freizeit argumentieren etc.
Die Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse entbrennt daher nicht nur an der Frage der Löhne, sondern auch der Arbeitsbedingungen, insbesondere der Unplanbarkeit der eigenen Zeit und der Arbeitsverdichtung. In Großbetrieben wird zur Steigerung der Arbeitsproduktivität die Ortsgebundenheit der Arbeit aufgehoben: Man tritt die Arbeit mal hier, mal da an, hat keine feste soziale Struktur in der Firma mehr. Viele fühlen sich zudem als Mensch entwertet, als reine Zählstelle die herumgeschoben wird, ohne dass man eine Anerkennung erfährt. Dies ist eine politisch noch sehr unbewusste Haltung, die im Internet zu Diskussionen über „Quiet Quitting“ führt. Jeder kennt mindestens jemanden der sagt: „Ich mag meine Arbeit (im Sinne von „die Tätigkeit“), aber ich halte es nicht mehr aus.“ Es häufen sich auch zornige Reaktionen. Die Arbeiterklasse ist massiv unter Druck, die gesellschaftlichen Sicherheitsventile verschleißen sich. Die Krise des Kapitalismus hämmert das Bewusstsein.
Die Bourgeoisie führt externe, zufällige und sogar hehre Gründe für die Verschlechterung des Lebens der Arbeiterklasse an. „Für die Teuerung ist Putin verantwortlich, für den Arbeitskräftemangel die Generationenpyramide und für die Rettung des Klimas ist es jedenfalls begrüßenswert, wenn man im Winter Steckrüben statt Frischgemüse isst (Saisonalität! CO2-Fussabdruck!!, Regionalität!!!).“ „Ausländer“ sind sowieso immer problematisch: Es sind ihrer immer zu viel, aber im Spezifischen fehlen sie dann doch. Die Arbeiterklasse ist den politischen Erklärungen und der Propaganda der bürgerlichen schutzlos ausgeliefert, weil die reformistischen Führungen keinen Klassenstandpunkt zu all diesen Fragen einnehmen, sondern im Gegenteil diese Interpretationen meist unverändert zu der ihren machen. Dies hat einen bremsenden Einfluss auf den Klassenkampf.
Allerdings wiegt viel schwerer, dass die materiellen Bedingungen der Arbeiterklasse den Klassenkampf anschieben. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Und das ist der Schlüssel zur gesamten Situation: Die Aktivität der Arbeiterklasse selbst wird die politische und gesellschaftliche Situation in Österreich in den nächsten Jahren grundlegend auf den Kopf stellen – sie hat gar keine andere Wahl. Ist die Politik und Arbeiterbewegung heute vor allem von der sterilen Mauschelei von Gremien, Bürokraten und Politikern über die Köpfe der Klasse selbst geprägt, wird sich die Situation in den kommenden Jahren drehen: Statt sie als Verschubmasse zu missbrauchen, werden die Bürokraten mit dem Versuch beschäftigt sein, die Massen einzufangen und zu kontrollieren. Es gibt schon jetzt Zeichen dafür: Der Druck der Arbeiterklasse auf die Gewerkschaften und Betriebsräte ist deutlich höher als noch vor wenigen Jahren.
Die Rolle der Gewerkschaften und die Herbstlohnrunde
„Der Monopolkapitalismus fußt nicht auf Privatinitiative und freier Konkurrenz, sondern auf zentralisiertem Kommando. Die kapitalistischen Cliquen an der Spitze mächtiger Trusts, Syndikate, Bankkonsortien usw. sehen das Wirtschaftsleben von ganz denselben Höhen wie die Staatsgewalt und benötigen bei jedem Schritt deren Mitarbeit. Ihrerseits finden sich die Gewerkschaften in den wichtigsten Zweigen der Industrie der Möglichkeit beraubt, die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Unternehmen auszunützen. Sie haben einem zentralisierten, eng mit der Staatsgewalt verbundenen kapitalistischen Widersacher zu begegnen. Für die Gewerkschaften – soweit sie auf reformistischem Boden bleiben, das heißt soweit sie sich dem Privateigentum anpassen – entspringt hieraus die Notwendigkeit, sich auch dem kapitalistischen Staate anzupassen und die Zusammenarbeit mit ihm zu erstreben. Die Gewerkschaftsbürokratie sieht ihre Hauptaufgabe darin, den Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu „befreien“, seine Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der Arbeiteraristokratie und Arbeiterbürokratie, die beide um einen Abfallbrocken aus den Überprofiten des imperialistischen Kapitalismus kämpfen. Die Gewerkschaftsbürokraten leisten in Wort und Tat ihr Bestes, um dem „demokratischen“ Staat zu beweisen, wie verlässlich und unentbehrlich sie im Frieden und besonders im Kriege sind.“ (Trotzki, Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs)
Diese materielle Situation hat sich in den Jahrzehnten des relativen Klassenfriedens zum Selbstverständnis der Spitzengewerkschafter und der großen Mehrheit der Betriebsräte verdichtet. Sie wollen den Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit möglichst störungsfrei managen. Diese Aufgabe lässt sich durch Mithilfe des Staatsapparates einfacher und vor allem sicherer bewerkstelligen, als durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse in offener Konfrontation mit dem Kapital.
Im Vorfeld des Herbstes gelang es der Regierung, eine akute Energiemangellage zu verhindern, sie führte die Strompreisbremse ein, zahlte breit Energie-Beihilfen aus und senkt mit 1.1.2023 die Lohnsteuer – alles Forderungen, für die der ÖGB seit Juni öffentlich Druck gemacht hat. Dies nahm Druck aus der Herbstlohnrunde.
Im Frühsommer diskutierten die Fachgewerkschaften Ansätze für ein Zusammenlegen der Kollektivvertragsrunden und der Kampagne für einen „Generalkollektivvertrag gegen die Teuerung“ konnte von den staatsorientiertesten Spitzengewerkschaftern so, dank der Schützenhilfe der Regierung, unterbunden werden. Die bereits angesetzte, sektorenübergreifende Betriebsrätekonferenz im September wurde nur noch abgespeckt und pro forma als Methoden- und Motivationsseminar abgehalten. Ähnliches sahen wir zuletzt im Herbst 2018, wo der Start der Herbstoffensive gegen den 12-Stunden-Tag abgesagt wurde, weil die Metaller diese Angelegenheit lieber über ihren Kollektivvertrag (KV) regeln wollten. Die organisatorischen Überbleibsel der abgesagten Mobilisierungen waren vollkommen leere und traurigmachende Veranstaltungen: Der ÖGB rief zu den „Preise runter“-Demos auf, die eine reine Show-Veranstaltung für die politische Stabilität waren. Die strategische Überlegung war, dass es jedenfalls Proteste gegen die Teuerung geben würde, und dies wollte man, im Einklang mit dem Kapital, von vorneherein in sichere Kanäle lenken und nicht den Rechten überlassen. Auch der DGB in Deutschland organisierte eine solche Demo. Die Mobilisierung war extrem schwach und auf die engsten Kreise der Bürokratie (und in Wien einen großen linksradikalen Sektor) beschränkt.
Was die Löhne betrifft, so legte sich die ÖGB-Spitze darauf fest, dass sie keinesfalls unter der Inflation abschließen dürfen. Um dies scheinbar zu erreichen, wurde über den Sommer das Konzept der „rollierenden Inflation“ tief in der Gewerkschaftsbewegung verankert, wonach die Inflation im Oktober etwa 7% (statt der realen 10%) betrug. Dieser Ansatz ist trotzdem mehr, als andere Arbeiterbürokratien in Europa zu bieten wagten. In vielen Ländern (Deutschland, Schweden z.B.) forderten die Gewerkschaften noch weit weniger. In GB wurden und werden, um das österreichische Ergebnis zu erreichen, heftige und langanhaltende Streiks geführt. Das ist aber nicht Ausdruck der Stärke der Bürokratie in Österreich, sondern vor allem ein Ausdruck der Unsicherheit der österreichischen Bourgeoisie und ihrer Vertreter in der Regierung.
Die traditionell wichtige Metaller-Kollektivvertrags-Runde reflektierte am klarsten die stabilitätsorientierte Ausrichtung der Gewerkschaftsspitze und der großen Mehrheit der Betriebsräte, insbesondere in den Großbetrieben. Genossen berichteten aus Metallerbetrieben, dass die aufgeregte Stimmung vom Frühsommer einer individualistischen Stimmung Platz gemacht hat: angesichts des hohen Arbeitsangebotes haben ArbeiterInnen einen Hebel, auch individuelle Verbesserungen anzustreben und konnten diese auch oft erreichen. Das sind alles zusammengenommen gute Bedingungen, den Klassenkonflikt in sozialpartnerschaftliche Bahnen zu lenken. Der Vorsitzende Rainer Wimmer hielt auf allen Versammlungen (BR- und Betriebsversammlungen) eine beinahe wortgleiche Rede, die vor allem die Regierung angriff und für schlechte Bedingungen verantwortlich machte, aber keine Mobilisierung zum Kampf um den KV war. Der Abschluss von 7,44 % war schlussendlich niedriger als vom Kapital zuvor erwartet. Nach der nächtlichen Einigung und der Absage des angekündigten Streiks explodierten die Aktienkurse der auf der Börse gelisteten Metallkonzerne zweistellig.
Unter normalen Bedingungen wäre die Herbstlohnrunde damit gelaufen. Doch nicht heuer. In der privaten Sozialwirtschaft (SWÖ) existiert ein Sektor kritischer Betriebsräte in Wien, die in einer außertourlichen BR-Konferenz im Mai ein eigenständiges Forderungsprogramm zu Beschluss brachten. Unter diesem Eindruck steckte sich das Verhandlungsteam in einer Mehrheitsabstimmung das Ziel von 15 % Lohnerhöhung, was Entsetzen in den Gewerkschaftsvertretern von GPA und Vida auslöste. Im Zuge der KV-Verhandlungen gelang es im Herbst eine Demo in Wien durchzusetzen, diese kämpferisch zu gestalten, im Rahmen dessen wurden in einigen Betrieben wilde Streiks organisiert. Dieser Druck erzeugte eine Differenzierung an der Spitze mit ca. 1/3 Gegenstimmen zum KV-Abschluss im großen Verhandlungsteam. Diese Opposition konnte das von der Bürokratie (und Arbeitgebern!) vorgesehene Ergebnis der KV-Verhandlungen nicht durchbrechen. Die Lehre daraus ist: es ist nicht genug „kämpferisch zu sein“, man muss danach trachten der Arbeiterklasse die Perspektive der Kontrolle über den gesamten Arbeitskampf zu eröffnen. Die wichtigsten Vertreter der Gewerkschaftslinken, die auf der großen Demonstration reden konnten, versäumten dabei die Chance, mit einem klaren Auftreten von der Bürokratie eine Kontrolle der Beschäftigten über den Arbeitskampf, wie etwa eine Urabstimmung über jedes Ergebnis zu fordern. Ein Schritt nach vorne ist dagegen, dass 18 Betriebe im Anschluss dann eine Urabstimmung „von unten“ organisierten (2020 waren es 10). Die Ergebnisse stehen noch aus.
Die größten Kämpfe im Herbst waren die der EisenbahnerInnen und der Wiener Ordensspitäler, die von der Gewerkschaft vida organisiert werden. Daher gilt es, eine präzise Einschätzung von ihr zu erarbeiten. Obwohl sie im ÖGB über den Sommer isoliert blieb, setzte sie in den genannten Branchen einen neuen Ansatz in der Lohnpolitik um. Dieser bestand darin, außerhalb der eigentlichen Verhandlungsperiode eine Sonderlohnrunde zum Teuerungsabgleich durchzusetzen und dabei einen Mindestbetrag von 500€ zu fordern. Die dritte Neuerung bestand darin, eine Urabstimmung über die Verhandlungsergebnisse vorzubereiten und umzusetzen. Das sind progressive Schritte, die wir als MarxistInnen unterstützen. Sie signalisierte weiters stark ihren Willen zu praktischer Solidarität mit anderen Branchen und war jedenfalls in Wien jene Gewerkschaft, die mit Abstand am meisten „Basis“ auf die Teuerungsdemo des ÖGBs mobilisierte.
Der 24-stündige Warnstreik der EisenbahnerInnen war enorm stark und geschlossen. Er löste großen Enthusiasmus aus. Obwohl die Medien versuchten, hart dagegen anzuschreiben zeigten alle Umfragen, dass zwei Drittel den Streik befürworteten. Das Verhandlungsteam erzielte auf dieser Basis ein durchwachsenes Ergebnis. Rechnerisch ergibt sich tatsächlich ein Plus von 480€, aber dies in mehreren Etappen bis zum Februar 2024. Letztlich wollten die VerhandlerInnen nicht über ein „vernünftiges“ Maß hinaus die Löhne und Bedingungen verbessern. Ein mehrjähriger Abschluss ist ein langjähriger Waffenstillstand, diesmal bis 2025. Dies ist fast immer schlecht für die die Arbeiterklasse, weil sie dadurch passiviert wird, keine neuen Erfahrungen machen kann und kollektiv schwächer wird. Außerdem reduziert ein mehrjähriger Abschluss des mächtigen Eisenbahnbereichs im kommenden Jahr die Wahrscheinlichkeit sektorenübergreifender Streiks.
In der Urabstimmung über das Ergebnis haben 87 % der Gewerkschaftsmitglieder der Vorlage zugestimmt. Angesichts der konkreten Umstände, in der keine kollektive Debatte über das Ergebnis stattfand, man keine Gegenposition hören konnte etc. sind diese 13% Gegenstimmen eine beachtliche Minderheit. Die Unternehmer hassen diese Urabstimmung, und sicherlich nicht wenige Spitzengewerkschafter ebenso. Immerhin wurde in der Praxis bewiesen, dass man erstens eine Urabstimmung sehr wohl organisieren kann, und zweitens, dass man mit Streiks und Urabstimmungen (zumindest leicht) bessere Bedingungen erzielen kann. Damit sind all jene bestätigt, die diese Ideen gegen starke Widerstände der Gewerkschaftsbürokratie jahrelang propagiert haben. Es gilt daraus, einen Dammbruch zu machen.
Aber keine Illusionen! Ohne politische Debatte hat eine Urabstimmung rasch den Charakter eines reinen alternativlosen Plebiszits, der demagogischen Abwälzung der Verantwortung auf den einzelnen Beschäftigten. Beim Arbeitskampf in der Charité (Gesundheitsbereich in Berlin), der auch in den Gewerkschaften in Österreich studiert wurde, gingen Urabstimmungen eben tatsächliche kollektive Debatten, Zwischenmobilisierungen, wiederholten Abstimmungen etc. voraus. Was wir jetzt in Österreich in Ansätzen sehen ist die technische Übersetzung von Elementen radikaler Gewerkschaftstaktik in den gleichbleibenden stabilitätsorientierten und sozialpartnerschaftlichen Kontext. Ein Schritt nach vorne ist es aber allemal, weil die Arbeiterklasse hierzulande neue praktische Erfahrungen machen kann.
Kursorisch zu den anderen Arbeitskämpfen. Die Brauer streikten 24 Stunden und schlossen dann mit +7,33% ab. Die Ordensspitäler in Wien führten einen Warnstreik in Form einer Kundgebung und temporärer Schließung der Terminambulanzen und Aussetzen der nicht-onkologischen Diagnostik und Therapie (was einem partiellen streikhaften Notbetrieb gleichkommt) durch, die Verhandler legten dann den Belegschaften einen schlechten Abschluss vor, diesem wurde mit 80% zugestimmt. Im Handel gab es erstmals seit Jahrzehnten eine Demonstration der Betriebsräte. Dahinter verbargen sich aber ein größerer Unmut und spontane Reaktionen und Streikbereitschaft in Betrieben, wie die Gewerkschaftsvorsitzende Barbara Teiber im Fernsehen berichtete, aber das bezeichnenderweise eher als Störung beschrieb. Selbst auf der Demo appellierte diese ehemalige stellvertretende Vorsitzende der SJ Wien nicht an die anwesenden DemonstrantInnen, sondern an das menschliche Gewissen und die Verantwortung der Arbeitgeber für die österreichische Kaufkraft. Gänzlich geräuschlos und dezidiert mit dem vorsorglichen Aufruf an die Mitglieder, dass ihre Unterstützung nicht notwendig sei, schlossen der Öffentliche Dienst und die Gemeindebeschäftigten ab.
Und dann eine letzte Besonderheit, die keine Eintagsfliege bleiben wird, aber einen wichtigen Hinweis auf die aufgestaute Wut in der Arbeiterklasse liefert: die prekär beschäftigten Mjam-FahrerInnen in Wien traten zweimal in einen selbstorganisierten wilden Streik.
Die Besorgnis über diese Dynamik und Neuheiten ist groß. Die erste Reaktion der Topbürokratie des ÖGB war es, die Schotten dicht zu machen, einen offen ausgetragenen Konflikt um die anstehenden Neubesetzungen an der Gewerkschaftsspitze zu vermeiden und die Weichen fest auf Stabilität, Klassenfrieden und Regierungsbeteiligung „ihrer“ SPÖ zu halten. Bereits im Frühsommer verkündete Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl in einer eigens einberufenen Pressekonferenz ihre Wiederkandidatur im Jahr 2023. Im Dezember dann das große Paket: Nachfolger für Rainer Wimmer als Vorsitzender der PRO-GE wird der aktuelle Organisationssekretär Reinhold Binder, Wimmers Nachfolger als FSG-Chef der leutseligste aller Sozialpartner, Nationalratsabgeordneter und SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch. Und Wolfgang Katzian wird nochmals als ÖGB-Vorsitzender antreten, gegen einen amtierenden Kandidaten kann sich niemand aufstellen, ohne dabei zu Grunde zu gehen, ist die dahinterstehende Machtlogik. Es ist klar, dass die Topbürokratie den charismatischen, populären und politisch als unberechenbar geltenden vida-Chef Hebenstreit blockieren möchte.
Die Rolle der Jugend für die kommende Revolution
Jung zu sein ist ein biologisches Durchgangsstadium und heute eine soziale Kategorie. Die Ausbildungsbedingungen verschlechtern sich ständig, Arbeitsbedingungen sind prekär, während die Anforderungen steigen (unbezahlte “Praktika”, geforderte Arbeitserfahrungen, etc.). Die Jugend hat keine offensichtliche Perspektive, sich ein stabiles Leben aufzubauen: Eigentum (etwa eine Wohnung) ist unleistbar, wenn man nicht erbt, die Klimakrise schreitet voran, die imperialistischen Auseinandersetzungen nehmen zu, etc. Sie kennt vom Kapitalismus nur Krisen. Ein Gradmesser für diesen Druck, der auf der Jugend lastet, ist die weltweite Mental Health Epidemie. In Österreich speziell schätzte die Donau-Universität Krems den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit regelmäßig wiederkehrenden suizidalen Gedanken auf jeweils 15% und 20%.
Mangels greifbarer Möglichkeiten, kollektiv dagegen anzukämpfen, gibt es oberflächlich betrachtet eine gewisse Suche nach individuellen Lösungsansätzen wie Selbstoptimierung, Self-Care oder dem Rückzug ins Private. Für einen kleinen Teil bedeutet das auch Hinwendung und Bestärkung von traditionellen Werten und Moralvorstellungen. Doch gleichzeitig findet eine tiefe Politisierung statt, die regelmäßig ihren Ausdruck in großen Massenbewegungen der Jugend findet. Black Lives Matter und die Klimastreiks sind die bekanntesten Beispiele, auch die 2022 begonnene Bewegung im Iran wird von der Jugend getragen. Diese Bewegungen haben meist internationalen Charakter, werden von Jugendlichen anderer Regionen der Welt aufgegriffen und haben sie oft einen weitreichenden Inhalt, d.h. sie verlangen nicht die eine oder andere kleine Verbesserung, sondern die Abschaffung von Klimazerstörung, Rassismus, Frauenunterdrückung. Dies sind aber grundlegende Erscheinungen des Kapitalismus, womit die Lösungen für die Themen dieser Bewegungen objektiv antikapitalistisch sind.
Die Mehrheit der Jugend ist also offen, das Bestehende radikal zu hinterfragen. Die Gesellschaft und ihre (Geschlechter-)Normen werden als übergriffig und lebensfeindlich wahrgenommen, der Rassismus als unerträglich. Die allgemeine Fäulnis des Kapitalismus mit seiner frappanten Ungleichheit und gierigen Zukunftsvergessenheit prägt die ideologische Perspektive dieser Jungen. Der verteufelte „Kommunismus“ und „Sozialismus“, über Generationen hinweg als Schreckensbild wirksame ideologische Waffen der Bourgeoisie, sind plötzlich wieder „in“. Diese Begriffe lösen keine Angst aus, sondern stoßen auf Interesse. Eine stetig wachsende Minderheit der Jugendlichen ist offen für revolutionäre Schlussfolgerungen und durch revolutionäre Propaganda direkt ansprechbar. Weil die Kräfte des Marxismus im 20. Jahrhundert weit zurückgeworfen und gesellschaftlich isoliert wurden, ist es unabdingbar, dass ein möglichst schnelles Wachstum der revolutionären Kräfte im Mittelpunkt ihrer politischen Anstrengungen steht. Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!
Damit ist noch nicht alles gesagt. Einfach für den Kommunismus zu sein ist heute zu unkonkret, als dass diese Bestimmung allein ein politisches Projekt ergeben würde. In der Isolation in den Weiten des WWW treffen die kommunistischen Meme-onauten auf dunkle Planetentrümmer aus der Geschichte des Kommunismus, ideologische schwarze Löcher und identitätspolitische Meteoriten, die die Aspirationen der junger KommunistInnen zu entkräften, zu zersetzen und zu zerstören vermögen. Eine profunde ideologische und theoretische Bildung ist daher notwendig.
In den gesellschaftlichen Kämpfen und auch in ihren Ruhephasen gilt es, den Blick darauf zu schärfen, dass es überall eine Führung gibt, die einen politischen Ansatz verfolgt. Nehmen wir exemplarisch die Klimabewegung. In der Klimabewegung gingen Hunderttausende auf die Straße, um scheinbar ohne Führung, scheinbar alle gleich besorgt und gleichberechtigt für ihren Lösungsansatz zu werben. Dem ist aber nicht so. FFF war ein Zirkel mit nur scheinbar flachen Strukturen, in Wirklichkeit aber einer eisernen Kontrolle einer ungewählten Clique an der Spitze, die sich aktiv und mit jedem Mittel gegen eine demokratische Debatte um die Ausrichtung der Bewegung abisolierte. Führung ist nicht nur ein gewählter Vorstand einer festen Organisation, es genügt manchmal das Mikrophon des ORF zu haben, um Führung zu sein. So war es ein leichtes für die herrschende Klasse, die Klimabewegung in ungefährliche Bahnen zu lenken. Konkret wurde die Klimabewegung zu einem Hilfsmittel des Linksliberalismus (spezifischer der Grünen), welcher jetzt am aktivsten für die Verschärfung des Krieges in der Barbarei des Ukraine-Krieges wirbt. Während die klimabewegten Massen in den Schulen institutionell angehalten werden sich in der Reduktion ihrer individuellen CO2-Fußabdrücke zu verausgaben, macht sich an der Spitze der Bewegung eine satte greenwashing-Bürokratie ein feines Leben im Staatsapparat und Klimabeirat der OMV.
Die Reaktion auf diesen „Verrat“ ist die mutige Verzweiflung als Farce – in Form der scheinradikalen Straßenkleberei und des Bilderstürmens. Diese Pseudoaktivitäten, subjektiv mutig und gut gemeint, sind eine kleinbürgerlich-individualistisch Sackgassen-Reaktion auf die bürgerliche Führung der großen Klimabewegung, die kontraproduktiv ist, weil sie in der Arbeiterklasse nur spaltend und passivierend wirkt.
Kurz: die Schulung der KommunistInnen in der politischen Auseinandersetzung mit und in der Abgrenzung von reformistischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führungen ist wichtig, um den großen Aufgaben, denen wir uns stellen, gerecht zu werden. Die haargleichen Entwicklungsgesetzte könnte man auch in BLM und allen anderen Bewegungen und Nichtbewegungen, wie zurzeit an den Universitäten, nachzeichnen. Letztendlich brauchen diese Bewegungen eine revolutionäre Führung, die ihre spezifischen Anliegen systematisch mit dem Kampf der Arbeiterklasse und dem Sturz des Kapitalismus verbindet, oder sie werden immer Gefahr laufen, über tausende Wege durch die herrschende Klasse individualisiert, in ungefährliche Bahnen gelenkt oder sogar für ihre Zwecke missbraucht zu werden.
Der Kapitalismus und seine Herrschenden werden nicht freiwillig abtreten, sondern müssen aktiv überwunden und in einem bewussten Akt der Revolution durch die Arbeiterklasse durch die internationale demokratische Planwirtschaft ersetzt werden. In imperialistischen Ländern wie Österreich verfügt die herrschende Klasse zudem über ideologische und materielle Reserven, diesen Prozess zu verzögern und in Sackgassen zu führen. Und das Bewusstsein der Menschen ist konservativ und die Führungen der Arbeiterbewegung sind ein monströses Hindernis, weil sie die aktiv für die Stabilität der Profitwirtschaft stehen. Entscheidend ist dennoch: Der Kapitalismus ist in tiefe Widersprüche verstrickt. Diese können auf Basis des Privateigentums und der Nationalstaaten nicht gelöst werden. Dies gebärt Kriege und unterschiedlichste Krisen. Die Massen reagieren und werden immer wieder in Aktion treten, kämpfen, Regierungen stürzen, Niederlagen einstecken und daraus lernen. Unsere Klasse wird in dieser Periode hunderte, tausende hervorragende Kämpferinnen und Kämpfer hervorbringen. Was wir jetzt tun können, ist den Keim einer marxistisch-revolutionären Führung der Arbeiterklasse vorzubereiten. Das tun wir auch: für den Sozialismus zu unseren Lebzeiten.