Im März 1933 wurde vor dem Hintergrund einer tiefen Krise des Kapitalismus in Deutschland und Österreich der bürgerlichen Demokratie der Todesstoß versetzt. Konstantin Korn beschreibt die Ursachen dieser historischen Niederlage der Arbeiterbewegung.
Als am Ende des Ersten Weltkriegs in Berlin und Wien die Monarchien vom Sturm der Revolution hinweggefegt wurden, lag die Macht plötzlich in den Händen der Arbeiterbewegung. Wie ein Boxer, der angeschlagen in den Seilen hängt und auf Gnade hofft, mussten sich Großgrundbesitzer und Kapitalisten hilflos dem fügen, was die Zeit nach der revolutionären Umwälzung bringen würde. Dank der Führung der Sozialdemokratie kamen sie mit einem blauen Auge davon, und indem sie der Errichtung einer Republik und weitreichenden Sozialreformen zustimmten, sicherten sie das Überleben ihres Systems.
Doch sobald sie sich von dem K.O.-Schlag im Herbst 1918 und dem ersten Schrecken erholt hatten, stiegen die Herrschenden erneut in den Ring. In Österreich begann das mit vereinzelten Schlägen unter der Gürtellinie gegen den politischen Gegner: Da ein Überfall auf eine Versammlung der „Roten“, dort eine Schlägerei, dann ein erster politischer Mord an einem Sozialdemokraten. Für diese gewaltvollen Aktionen fand sich genügend Menschenmaterial. Hyperinflation und Schuldenkrise entzogen dem Kleinbürgertum immer mehr die Existenzgrundlage. Mit jeder Krise wurden neue Schichten radikalisiert, die die soziale Massenbasis für eine neue unberechenbare Bewegung abgaben: den Faschismus.
Republik statt Revolution
Einer alten Weisheit zufolge wird Schwäche oft als Einladung zur Aggression gewertet. Und obwohl die Organisationen der Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit Hunderttausende umfassten und jeder 1. Mai, jede Republiksfeier mit ihren roten Fahnenmeeren eine Machtdemonstration darstellten, wurde den Herren, die in den Unternehmenszentralen und im Staatsapparat das Sagen hatten, bald schon klar, dass es nicht weit her war mit der revolutionären Rhetorik der Arbeiterführer. Wenn es hart auf hart kam, machten die lieber einen Rückzieher und hofften, die nächste Wahl würde bessere Bedingungen für ihre Politik der Sozialreformen bringen. Natürlich war die Revolution von 1918/19 weiterhin greifbar. Das Feuer der Revolution loderte noch in den Herzen einer ganzen Generation von jungen ProletarierInnen. Aber diese Energie war gut kanalisiert in den Massenorganisationen, die das ganze proletarische Leben umfassten. Und für die kampfbereitesten Teile der Klasse gab es den Republikanischen Schutzbund, wo sie für die Verteidigung der Demokratie in militärischer Disziplin geschult werden sollten, doch in Wahrheit „narkotisiert“ wurden.
Die austromarxistische Parteiführung war gezwungen auf diese revolutionäre Energie zu reagieren, die von Teilen der Basis ausging und schlug oft eine radikale Rhetorik an, ohne jedoch ihre Praxis des Klassenkompromisses zu ändern. Das „Linzer Programm“ von 1926 ist der höchste Ausdruck dieses Wechselspiels aus Führung und Basis. Die Sozialdemokratie bekannte sich zur demokratischen Republik, die sie mit allen Mitteln verteidigen wollte. Die Gefahr eines monarchistischen oder faschistischen Putschs war ihr bewusst. Ihre Antwort:
„Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.“
In den folgenden Jahren zeigte sich aber ein ums andere Mal, dass dies leere Worte waren, denen keine Taten folgten.
Je tiefer die Krise des Kapitalismus ging, desto schwächer wurde die materielle Basis der bürgerlichen Demokratie, derjenigen Form der bürgerlichen Klassenherrschaft, die zur Sicherung des Kapitalismus auf die Einbindung der Führung der Arbeiterbewegung setzt und eine institutionalisierte Form des Klassenkompromisses herausbildet. Solange die Sozialdemokratie das System angesichts revolutionärer Erschütterungen stabilisierte, war sie geduldet. Doch nun erwies sie sich als objektives Hindernis bei der Suche nach einem Ausweg aus der Krise. In den Betrieben verhinderten die Gewerkschaften und Betriebsräte schlechtere Kollektivverträge und Lohnraub. Im Parlament blockierte sie eine von den faschistischen Heimwehren geforderte Verfassungsreform, mit der Grundpfeiler der bürgerlich-demokratischen Ordnung in Frage gestellt worden wären, und sie verhinderte das Schlimmste, wenn die Bürgerlichen das nächste Sanierungspaket schnürten. Zwar waren die Sozialdemokraten immer zu Kompromissen bereit, aber das ging alles viel zu langsam.
Für die Bürgerlichen war diese Situation nicht mehr haltbar. Die Sozialdemokratie konnte in der Opposition die nötige Autorität bewahren, um die Arbeiterklasse, die sich unter dem Eindruck der Krise ebenfalls radikalisierte, zu kontrollieren. So bewahrte sie das System, aber gleichzeitig behinderte diese Oppositionspolitik einen Ausweg aus der Krise. Dieser Widerspruch konnte nur gewaltsam aufgelöst werden. Das war in den Augen des Kapitals die historische Funktion des Bonapartismus und in der Folge des Faschismus. Die Demokratie hatte sich überlebt.
Bürgerliche gehen in die Offensive
In Deutschland war der Prozess noch viel zugespitzter. Dort löste eine rechte Regierung die andere ab, immer mit dem Ziel Stabilität herzustellen. Was jedoch vergebens war. Noch gab es Wahlen, bei denen die Arbeiterparteien SPD und KPD ihre Stärke demonstrierten. Doch das Kapital setzte auf rechte Regierungen, die per Notverordnung regierten und ein bürgerliches Antikrisenprogramm umsetzen sollten. Das Parlament wurde de Facto ausgeschaltet, der Staatsapparat sollte sich über die Parteien erheben und mit eiserner Faust im Sinne des deutschen Kapitals regieren. Dieses war zu diesem Zweck auch zur Kooperation mit den Nazis bereit. Die faschistischen Banden wurden gezielt von der Leine gelassen, um die Arbeiterparteien zu terrorisieren. Doch letztlich erwiesen sich die bonapartistischen Regierungen als zu schwach, und spätestens ab Anfang 1933 schwenkten die Bürgerlichen endgültig ins Lager der Nazis. Die braune Machtübernahme wurde nun mit dem Geld der wichtigsten Industriellen finanziert.
Die Machtübernahme durch Hitler im Jänner 1933 gab den braunen Recken in Österreich Rückenwind und befeuerte auch hier die autoritären Tendenzen im Bürgertum. Der „Entscheidungskampf zwischen Faschismus und Arbeiterklasse“, wie es in der Arbeiter-Zeitung hieß, hatte begonnen. Auslöser war die „Hirtenberger Waffenaffäre“, eine illegale Waffenlieferung des faschistischen Italiens über Österreich nach Ungarn. Die Eisenbahnergewerkschaft lehnte diesen Transport ab, obwohl die Bahn dieses Geschäft in Zeiten der Krise wie einen Bissen Brot gebraucht hätte. Auch ein Bestechungsversuch gegenüber den Vorsitzenden der Eisenbahnergewerkschaft half nicht. In der Folge kam es zu einem Angriff auf die Rechte der Eisenbahner, einem der am besten organisiertesten Teile der Arbeiterklasse, die mit Massenversammlungen und einem Proteststreik antworteten. Dollfuß versuchte mithilfe einer kaiserlichen Verordnung aus dem Jahr 1914, (!) den Demonstrationsstreik zu brechen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Bürgerlichen selbst unter den Bedingungen der Demokratie Paragraphen aus dem Hut zaubern können, die ein autoritäres Notprogramm möglich machen.
Die Arbeiter-Zeitung schrieb am Tag nach dem Streik, als die Regierung Lohnkürzungen für die Streikenden ankündigte und Gewerkschafter verhaften ließ: „Dollfuß will also den Kampf, er wird ihn haben“. Doch das waren einmal mehr leere Worte. Die Bundesregierung nutzte diese Krise zur Ausschaltung des Parlaments. Ein neuerliches Zusammentreten der demokratisch gewählten Volksvertreter verhinderte Dollfuß mit Waffengewalt.
Dem Aufruf der Partei, sich in den Sektionslokalen zu sammeln, folgten nun Tausende ArbeiterInnen. Anlass waren die geplanten Feiern zum 50. Todestag von Karl Marx. Aber alle warteten wie elektrisiert auf den Beschluss zum Generalstreik und zum offenen Widerstand gegen den „Millimetternich“ im Bundeskanzleramt. Doch der blieb aus. „Wachsam bleiben“, war die Devise. Diese zögerliche Politik von Otto Bauer & Co. gab den Bürgerlichen Recht. Die Sozialdemokraten würden sich alles gefallen lassen. Die Parteiführung beschränkte ihren Widerstand auf Appelle an die Rechtsstaatlichkeit und parlamentarische Arbeit im Bundesrat und den Landtagen. Sie beschränkten sich „auf hohles Moralisieren, über die ‚Vorzüge‘ der bürgerlichen Demokratie gegenüber der faschistischen Diktatur. Als ob der Kampf zwischen zwei Schulen des Staatsrechts geführt würde!“ (Trotzki)
Wichtige Lehren
In Wahrheit war es der Kampf lebendiger Klassenkräfte auf Leben und Tod. Und das verstanden die Bürgerlichen. So ging die Regierung Dollfuß ans Werk. Mit der Errichtung eines Notverordnungsregimes (gestützt auf ein weiteres Gesetz aus der Monarchie) trieb sie nun den lang geplanten Sozialabbau im Eilzugstempo voran. Gleichzeitig wurde die Zensur über die Arbeiterzeitungen verschärft, die Versammlungsfreiheit aufgehoben und der Schutzbund und die KPÖ verboten. Der Weg in die offene Diktatur war beschritten.
Hatte die passive Haltung der Austromarxisten große Teile der Arbeiterbewegung demoralisiert, so gab es aber auch eine Entwicklung in die andere Richtung. Schon auf dem Parteitag im November 1932 war die Parteilinke mit teilweise sehr radikalen Anträgen aufgetreten. Die Sektion im Karl-Marx-Hof forderte etwa die „Verteidigung der Demokratie nicht nur mit dem Stimmzettel, sondern mit allen dem Rechtsbewusstsein der Arbeiterklasse entsprechenden Mitteln.“ Und die mächtige Bezirksorganisation Favoriten: „Die wehrhafte Verteidigung der Demokratie muss im gegebenen Augenblick in den offensiven Kampf um den Sozialismus umschlagen.“
Erstmals bildete sich eine linke Opposition mit tiefen Wurzeln in der Arbeiterklasse gegen den politischen Übervater Otto Bauer. Vertreter dieser Strömung wandten sich gezielt an Leo Trotzki. Diese Oppositionellen waren nach der kampflosen Kapitulation der Austromarxisten sehr pessimistisch und ratlos, worauf Trotzki im Mai 1933 antwortete: „Zweifellos ist der für den Kampf günstigste Augenblick versäumt worden. Aber man kann auch unter weniger günstigen Bedingungen kämpfen und doch noch den Sieg davontragen.“ Dazu müsse die Opposition jedoch Verantwortung übernehmen und versuchen, die Stimmung der Massen zu verändern. Es reiche nicht, sich auf „literarische Kritik“ zu beschränken, sondern es brauche die vollständige politische Unabhängigkeit von der Parteiführung, die „sofortige Mobilisierung der Massen für den revolutionären Kampf“ – wenn nötig auch, wenn das den Bruch der Parteidisziplin bedeute.
Leider ging die linke Opposition in ihrer Mehrheit diesen Schritt nie bewusst. Erst im Februar 1934, als Dollfuß und die Heimwehren endgültig „ganze Arbeit“ machten und die Sozialdemokratie mit Waffengewalt zerschlugen, trieb das die Mutigen und Entschlossenen in den Kampf. Die Eisenbahner waren zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr imstande, den Aufruf zum Generalstreik zu exekutieren. Sie waren durch die passive Politik der Austromarxisten schon im März 1933 zermürbt worden, was letztendlich für die breiten Massen der Arbeiterklasse insgesamt galt. Der Preis für diese falsche Politik war also nicht nur eine vergebene Chance, sondern 12 Jahre faschistische Diktatur.
(Funke Nr. 211/21.02.2023)
Lesetipp
Unsere Broschüre So starb eine Partei – Der Weg in den Februar 1934 (RR 22) erschien anlässlich des 70. Jahrestags der Februarkämpfe 1934 in Österreich. Das Motto, das wir dieser Arbeit voranstellten, lautete: „Es ist schwer, kritisch zu prüfen, aber es ist unsere Pflicht, gerade angesichts der Opfer, damit ihr Opfer nicht vergebens bleibe!“