„Mein Thema ist rein historisch, aber ich stelle mir gleichzeitig auch eine theoretische Aufgabe.“ – so beginnt David Rjazanov den ersten von neun Vorträgen, die er 1922 für ein Publikum von revolutionären ArbeiterInnen an der Sozialistischen Akademie in Moskau hielt. Das historische Thema, dem er sich hier widmet, ist das Leben von Marx und Engels.
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Es liefert aber nur den Rahmen für den eigentlich von ihm verfolgten Zweck, der theoretischen Aufgabe: Wie ist der Marxismus entstanden? Wie hat er sich entwickelt? Und welche Bedeutung hat er für RevolutionärInnen heute?
Diese Frage konnte man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht so ohne weiteres stellen. Die führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie sahen sich als Erben von Marx und Engels, behandelten deren Werk aber äußerst stiefmütterlich. Bis auf einige Bücher, wie dem „Manifest“, dem „Kapital“, den späteren Werken von Engels wie dem „Ursprung der Familie“ oder dem „Anti-Dühring“ und ein paar anderen, verstaubten die meisten Schriften der Begründer des Marxismus im Archiv.
Auf der Suche nach Antworten in der s.g. Massenstreikdebatte, in der es um das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Arbeiterparteien ging, begab sich Rjazanov tief in die Archive der Arbeiterbewegung. Er begann mit seinen Forschungen, diese bis dahin weitgehend unbekannten Schätze zu heben. Diese Forschungstätigkeit stellte bis zu seinem Tod den Mittelpunkt seines politischen Lebens dar. Unter seiner Leitung begann ab 1921 das Moskauer Marx-Engels-Institut die systematische Herausgabe der gesammelten Werke von Marx und Engels.
Rjazanov war ein gewissenhafter Forscher und Wissenschaftler – sein Lebenswerk war die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe, die keinen populären, sondern einen wissenschaftlichen Charakter hat –, in erster Linie war er aber Revolutionär. Seine umfangreiche Arbeit auf dem theoretischen Gebiet war immer den Notwendigkeiten der Praxis und ihrer Nützlichkeit für die Arbeiterklasse und dem Kampf für den Sozialismus untergeordnet.
In seinen Vorträgen verzichtet er auf die für die meisten AkademikerInnen so typische Abgehobenheit der Sprache, die allzu oft nur die Oberflächlichkeit der präsentierten Inhalte verschleiern soll. Für Rjazanov steht die Klarheit der Ideen im Mittelpunkt, und diese vermittelt er, ohne ihnen dadurch die Tiefe zu rauben.
Der ganze erste Vortrag widmet sich der Entwicklung des Kapitalismus, der Industriellen Revolution in England, der Französischen Revolution und ihrem Einfluss auf Deutschland. Noch bevor wir Marx und Engels näher kennenlernen, zeichnet Rjazanov ein lebendiges Bild der revolutionären Bewegung im Deutschland der 1830er Jahre, in welchem politischen, geistigen und ökonomischen Klima die beiden aufwachsen und welche gesellschaftlichen und ideologischen Kämpfe ihre Ideen prägen.
Er besucht jede wichtige Station im Leben von Marx und Engels und zeigt, wie sich ihre Ansichten schärften und weiterentwickelten: die philosophische Auseinandersetzung mit Hegel, dessen Schülern und Feuerbach; ihre Teilnahme an der Revolution von 1848; ihre führende Rolle und Konflikte in der Ersten Internationale; die Erfahrungen der Pariser Kommune; … Kein gesellschaftlicher Kampf, keine relevante Debatte innerhalb der Arbeiterbewegung wird von ihm ausgespart. Wir erleben Marx und Engels hier nicht nur als bedeutende Philosophen und Theoretiker, sondern vor allem als Revolutionäre im Dienste der Arbeiterbewegung.
Was dieses Buch aber auszeichnet, ist nicht nur die umfassende Darstellung, sondern die ihr zugrundeliegende Methode: Er untersucht das Leben und die Ideen von Marx und Engels selbst mithilfe des von ihnen entwickelten historischen Materialismus. Eine abstrakte Darstellung des Marxismus ist unmöglich, denn er ist Produkt einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen und den Kämpfen, die sie prägen. Es sind die Untersuchungen dieser Verhältnisse und Kämpfe, eben die Anwendung der marxistischen Methode, mit der allein man sie erlernen kann. Marx selbst tat dies beispielsweise in seinen Schriften über Frankreich: „Die Klassenkämpfe in Frankreich“, „Der 18. Brumaire“ und „Der Bürgerkrieg in Frankreich“.
Diese, wie er sagt, theoretische Aufgabe hat Rjazanov mit seinen Vorträgen hervorragend gemeistert und bis heute bleibt dieses Buch eine der besten Einführungen in das Ideengebäude des Marxismus. So fand es bereits in der Sowjetunion massenhafte Verbreitung, bis die Herausgabe 1931 von der stalinistischen Bürokratie, der die Theorie immer nur zur Rechtfertigung ihrer aktuellen konkreten Politik diente, gestoppt und ihr Autor folgerichtigerweise 1938 erschossen wurde. Auf Deutsch erschien das Buch erstmals 1973, zurzeit ist es vergriffen. Wir geben es als wertvollen Beitrag zur Ausbildung der nächsten Generation von Revolutionären wieder heraus.
Softcover, 236 Seiten, 14,- €.
ISBN: 978-3-902988-23-2