Nach dem Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini brachen im ganzen Iran Proteste aus, die sich zum Redaktionsschluss auf über 140 Städte in allen Provinzen ausgebreitet haben und damit zu einer landesweiten Erhebung geworden sind. Willy Hämmerle fasst zusammen.
13. September. Jina Amini aus Saqqez im Iranischen Kurdistan spaziert im Urlaub mit ihrem Bruder durch Teheran. In der Nähe einer U-Bahn-Station wird sie von der Sittenpolizei gestellt und verhaftet, weil sie ihren Hidschab, das Kopftuch, falsch getragen hätte. Auf solche Verbrechen steht eine stundenlange „Umerziehungs-Schulung“, für die sie in einen Van gezerrt und weggefahren wurde. Drei Stunden später lag sie im Koma, drei Tage später war sie tot.
Die darauffolgenden Proteste haben das Regime völlig überrumpelt. In allen größeren Städten gingen vor allem junge Leute auf die Straße. Erste Interventionen der Sicherheitskräfte waren zwar brutal – konnten aber nirgendwo für nachhaltige Ruhe sorgen. Zerstreute Versammlungen formierten sich schnell anderswo und überall kam es zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften, die immer öfter den Rückzug antreten mussten.
Der gesamte angestaute Zorn der Jugend entlädt sich in diesen Tagen und sie marschiert vor allem unter zwei Slogans: „Frau, Leben, Freiheit“ und „Tod dem Diktator“. Der Tod von Mahsa steht heute aber für alle Ungerechtigkeiten, die vom unterdrückerischen Regime der Islamischen Republik ausgehen. Die Studenten rufen: „Der ganze Iran ist voller Blut: von Kurdistan bis Teheran.“ In der Industriestadt Karadsch geht die Parole um: „Reuet den Tag, an dem wir bewaffnet sein werden!“ und verbreitet sich immer weiter. Um den Protesten Herr zu werden, wurden die paramilitärischen Basidsch an die Universitäten mobilisiert – doch das provozierte nur den Ausruf „Tod den Basidsch“, unter dem in zahlreichen Twitter-Videos Basidsch-Milizionäre von der aufgebrachten Menge verprügelt wurden. Oft können sich die Sicherheitskräfte nur in Zivil frei bewegen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, zusammengeschlagen zu werden.
In sämtlichen Provinzen und allen größeren Städten strömen Menschen auf die Straßen. In der Provinz Kurdistan nehmen die Proteste aber schon bürgerkriegsähnliche Ausmaße an: es kam zu offenen Schießereien zwischen den Sicherheitskräften und Rebellen, in der Hauptstadt Sanandadsch wurde am Mittwoch (21. September) das Kriegsrecht ausgerufen und Ausgangssperren verhängt – bisher ohne Erfolg. Schon einen Tag später riss die Menge die Barrikaden wieder nieder und vertrieb die Behörden. In ganz Kurdistan (auch in den Gebieten im Irak, der Türkei und Syrien) gab es Rufe nach einem Generalstreik, dem in vielen Städten der Provinz (aber auch bspw. in Teheran) Streiks der Bazar-Händler und -Arbeiter folgten.
Aber auch in den anderen Gegenden geht die Bewegung entschlossen voran. An vielen Orten werden die Büros der örtlichen Regierungen besetzt und/oder niedergebrannt. Überall nehmen Frauen dabei demonstrativ ihre Kopftücher ab und verbrennen sie oder schneiden sich unter tosendem Jubel die Haare ab. Sie gaben oft den ersten Anstoß für die Bewegung und führen häufig auch die Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften an. Das ist die Rache für die tagtägliche Demütigung durch das theokratische Regime, das jährlich 16.000 Frauen für Hidschab-Vergehen verfolgt, tausende Frauen dem Femizid preisgibt und eine Gesellschaftsordnung aufrechterhält, in der sich Frauen an einen Ehemann ketten müssen, um nicht in die totale Armut zu stürzen.
Die Islamische Republik stützt sich auf die rückständigsten Ideen in der Gesellschaft, um die Massen entlang der Religion, Ethnie oder dem Geschlecht zu spalten. Ohne diesen Chauvinismus hätte die herrschende Klasse ihre Macht über die Gesellschaft nicht aufrechterhalten können. Daraus fließt, dass der Kampf gegen diese Unterdrückung ein wesentlicher Bestandteil der iranischen Revolution ist.
Das zynische Spiel der Mullahs, Männer gegen Frauen, Perser gegen Kurden und andere Minderheiten, Arbeiter gegen Arbeiter aufzuhetzen, geht aber immer schwerer auf, denn es entwickelt sich eine Stimmung der Einheit unter den Massen. Sinnbildlich dafür steht ein Statement der Studenten an der Universität Täbris:
„Viele Gruppen versuchten, Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, Nationen, Stämmen und verschiedenen Teilen der Unterdrückten zu schaffen. Aber heute, im mutigen und erwachten Aserbaidschan, hören wir Slogans der Solidarität für das kämpferische und erwachte Kurdistan. Der Nachname von Mahsa Amini bedeutet „wir“. Wir sind alle, egal woher wir in diesem Land kommen oder welchen Hintergrund wir haben: Männer und Frauen, Junge und Alte, wir alle Unterdrückten und Leidenden, Lohnempfänger und Arbeiter und Unterdrückte, wir sind alle vereint.“
Nach einer anfänglichen Schockstarre setzt der Iranische Staatsapparat nun voll auf Repression. Kurz nach Ausbruch der Bewegung schlugen hohe Würdenträger versöhnliche Töne an. Präsident Ebrahim Raisi sprach davon, dass Amini „wie seine Tochter“ gewesen sei, und versprach eine Untersuchung des Falles. Der oberste Richter, Gholamhossein Mohseni-Esche’i, erklärte, dass die Regierung während ihrer „Untersuchung“ von Mahsa Aminis Tod keinen „Freifahrtschein für die Beamten und -agenten, einschließlich der Polizeikräfte“ ausstellen würde.
Heute betonen beide, dass es keine Nachsicht für die Proteste geben würde. Seit dem 21. September gibt es eine landesweite Internetsperre und zunehmende Einsätze mit scharfer Munition. Im Chaos der Bewegung ist es schwierig, aktuelle Zahlen zu bekommen, doch gelten zumindest hundert Tote, und viele hundert Verletzte und Verhaftete als gesichert.
Diese Bewegung wird in erster Linie von der Jugend getragen, und reiht sich in eine lange Reihe von Protesten und Streikbewegungen seit 2018 ein. Bisher hat jeder Versuch, ihr mit Gewalt entgegenzutreten, nur zu einer entschlosseneren Gegenreaktion der Protestierenden geführt. Bleibt sie aber isoliert, kann sich das Kräfteverhältnis schnell umkehren. Wir erinnern: die Niederschlagung der Bewegung von 2019 forderte 1500 Todesopfer.
Der einzige Garant für den Sieg der Bewegung ist das Eingreifen der Arbeiterklasse, die alleine die Kraft hat, das Land zum Stillstand zu bringen, und die Macht der Mullahs und Kapitalisten nachhaltig zu brechen. Das Werkzeug dafür ist der Generalstreik. Arbeiterorganisationen wie das Koordinationskomitee der streikenden Lehrer oder der Rat der Ölarbeiter sprechen der Bewegung ihre Solidarität aus, aber das reicht nicht. Die Arbeiterklasse muss auf die Straßen. In jedem Viertel, jeder Uni und jeder Fabrik braucht es Kampfkomitees, die mit der praktischen Vorbereitung einer Generalstreikbewegung beginnen.
Aber der Generalstreik stellt die Machtfrage erst – er löst sie noch nicht. Die Mullahs verkörpern nur die eine Fratze des iranischen Kapitalismus. Zu oft kam es vor, dass die Unterdrücker gestürzt werden, nur damit das System der Unterdrückung und Ausbeutung unter anderen Herrschern weitergeht. So erging es 2011 der arabischen Revolution. Unsere Losung lautet daher nicht nur „Nieder mit der Diktatur!“, sondern auch „Nieder mit dem Kapitalismus! Für die sozialistische Revolution!“
(Funke Nr. 207/27.9.2022)