Wenn das Leben nicht mehr leistbar ist, revoltiert die Jugend. Julia Brandstätter über die Teuerungsrevolte 1911.
In Ottakring fliegen die Pflastersteine. Fensterscheiben gehen klirrend zu Bruch. Jugendliche errichten Barrikaden aus Parkbänken und demolieren eine Wachstube mit Eisenstangen. Eine Frau feuert sie an: „Nach der Fleischteuerung ist der Zucker, die Kohlen, der Spiritus teurer geworden. Es ist nicht mehr zum existieren!“
Die soziale Lage in Österreich
Die Stimmung war schon lange angespannt. Missernten und hohe Weltmarktpreise lösten 1909 einen drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise aus. Die Regierung verschärfte die Situation noch, indem sie Einfuhrbeschränkungen und Zölle aufrechterhielt. Damit entsprach sie den Wünschen der Großgrundbesitzer, die etwa das Einfuhrverbot für Fleisch zur Preistreiberei nutzten. Fleisch, Mehl, Zucker und Milch waren für breite Teile der Bevölkerung kaum noch erschwinglich.
Außerdem lasteten die große Wohnungsnot und die hohen Mieten schwer auf den Arbeiterfamilien. Wer nicht delogiert werden wollte, musste „Bettgeher“ aufnehmen, die sich stundenweise ein Bett mieteten. Der kleine Zuverdienst sollte die Familien vor der Obdachlosigkeit bewahren.
Kampfmittel gegen Teuerung
Diese und ähnliche Zustände herrschten auch in anderen Teilen Europas. In England und Nordspanien löste die Teuerung große Streiks aus, und in Frankreich brach eine von Arbeiterinnen und Hausfrauen getragene Protestbewegung los.
In Österreich blieb es vorerst ruhig. Laut gestritten wurde nur im Parlament. „Wir werden es noch dahin bringen, dass wir Hungerkrawalle erleben“, warnte ein sozialdemokratischer Abgeordneter. Anstatt einen Generalstreik vorzubereiten, begnügte sich die Sozialdemokratie allerdings damit, mittels parlamentarischer Initiativen Forderungen an die Regierungsparteien zu stellen.
Demonstration im Rathausviertel
Aber das Parlament ergriff keine Maßnahmen, um die Not zu lindern. Deshalb beschloss die Sozialdemokratie für den 17. September 1911 eine geordnete Straßendemonstration. Diese außerparlamentarische Aktion sollte die Teuerung wieder auf die Tagesordnung des Parlaments setzen.
Dem Aufruf folgten fast 100.000 Menschen, die von den Bezirken auf den Rathausplatz zogen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten sprachen von fünf improvisierten Tribünen zu der gedrängten Menschenmenge. Sie überblickten ein Meer aus roten Fahnen, Tafeln und Transparenten mit Aufschriften wie „Nieder mit den Fleischwucherern!“, „Die Grenzen auf!“ und „Nieder mit der Hungerpolitik!“
Als die Kundgebung geschlossen wurde, zogen einzelne Bezirksgruppen in die Innere Stadt, wo sie auf Absperrungen von Polizei und Militär stießen. Nun war es die Polizei selbst, die eine improvisierte Tribüne errichtete, von der aus sozialdemokratische Abgeordnete Beschwichtigungsversuche unternahmen. Aber erst als nach Interventionen des sozialdemokratischen Parteisekretärs Julius Deutsch das Militär zurückgezogen wurde, zerstreute sich die Demonstration.
Auf dem Rathausplatz befanden sich immer noch einige Tausend, vor allem „Halbwüchsige aus Ottakring“. Nun begann die Polizei mit der Räumung des Platzes. Auch die reaktionärsten Teile des k.u.k. Militärs kamen zum Einsatz: Mit Säbel bewaffnete Kavalleristen drängten die Jugendlichen gegen den Ring und schließlich nach Ottakring. Diese wehrten sich mit Steinwürfen und beschädigten Amtsgebäude.
Revolte der Ottakringer Jugend
In Ottakring schlossen sich noch mehr Jugendliche der Revolte an. Unterstützung erhielten sie von den Frauen: Aus den Fenstern der Zinskasernen hagelte es Eisenstöcke, Steine und Biergläser. Ein Polizist wird von einem Bügeleisen schwer verletzt. Straßenbahnwaggons wurden umgeworfen und in Brand gesetzt. Sogar Schulen wurden angegriffen, weil sie zum Symbol des autoritativen Obrigkeitsstaates geworden waren. Das ortsunkundige Militär konnte die Situation nicht kontrollieren: Die führerlosen Haufen zogen sich blitzschnell zurück und formierten sich andernorts neu.
Trotzdem wurden vier Demonstranten, darunter die Jungsozialisten Franz Joachimsthaler und Otto Brötzenberger, getötet und 149 verletzt. Auch ein 15-jähriges Mädchen wurde angeschossen. Die Attacken reizten die Menge aber nur noch weiter auf. Erst in den Nachtstunden, als über Ottakring der Ausnahmezustand verhängt und der Bezirk besetzt und abgeriegelt wurde, endeten die Proteste. Die Justiz griff rasch und hart gegen die Demonstrierenden durch: 82 Personen wurden zu Kerker oder schwerem Kerker, 91 Personen zu Arrest oder strengem Arrest verurteilt.
In den Folgetagen kam es auch in Salzburg, Graz, Mürzzuschlag und Klagenfurt zu kämpferischen Demonstrationen. In Linz versammelten sich etwa tausend Eisenbahnerfrauen, und in Böhmen und Mähren erzwangen Arbeiterinnen mit Streiks und Revolten die Senkung der Lebensmittelpreise.
Adelheid Popp, die Führungsfigur der Arbeiterinnenbewegung, argumentierte gegen die Parteilinie, dass der Kampf gegen die Teuerung mit einer antikapitalistischen Perspektive verknüpft werden müsse:
„Billiges Fleisch, billiges Brot, billige Wohnungen sind Lebensnotwendigkeiten für die Arbeiterklasse, aber sie machen uns nicht zu Freunden der bestehenden ‚Ordnung‘, die noch immer eine Unordnung bleibt. Der sozialistische Staat ist unser Ziel, alles andere sind nur Mittel zu diesem Ziel.“