In Frankreich haben sich in der stärksten Gewerkschaft CGT Betriebsräte und AktivistInnen zusammengeschlossen, um für einen klassenkämpferischen Kurs zu kämpfen. Wir veröffentlichen hier ein Interview mit Emmanuel Lépine, dem Generalsekretär der FNIC, der Chemiearbeitergewerkschaft in der CGT mit unserer französischen Schwesterzeitung „Révolution“. Diese Teilgewerkschaft hat unter anderem während der Streiks von 2010 und 2016 eine zentrale Rolle gespielt und hat an der Initiative Unité CGT maßgeblichen Anteil.
Révolution: Wie schätzt du die wirtschaftliche und soziale Lage seit März 2020 ein?
Wir leben in einer globalen Wirtschaftskrise, deren Ursprung nicht die Pandemie war, sondern die Widersprüche eines Systems: des Kapitalismus. In den letzten Jahren hat dieses System die Zerstörung der Arbeitsrechte, der Gehälter und unserer erkämpften Freiheiten noch beschleunigt, nur um sein eigentliches Ziel, die Anhäufung von Kapital, weiter vorantreiben zu können.
Der Virus war zwar der Auslöser der Krise, aber die Pulverfässer sind all die Maßnahmen, die die Regierungen auf Befehl der großen Bosse durchgeführt haben. Das sind vor allem die asozialen Gesetze, die auf nichts anderes als auf Profitmaximierung auf dem Rücken der Beschäftigten ausgelegt sind.
Das Ergebnis sind hunderttausende Arbeitslose. Wir sind mittlerweile bei über einer Million gestrichener Stellen seit März 2020. Das alles muss man vor dem Hintergrund betrachten, dass vor Streichung einer Festanstellung bereits fünf Zeitarbeits- oder Leasingverträge abgebaut werden. Von diesem sozialen Tsunami ist also eine ganze unsichtbare Armee an Arbeitslosen betroffen.
Dieses Aufflammen der Arbeitslosigkeit spüren auch diejenigen, die ihren Job behalten konnten. Wenn sie mit den neuen „Verträgen“ der Direktion nicht einverstanden sind – Gehaltskürzungen oder Arbeitszeitverlängerungen zum Beispiel – zeigt man ihnen einfach die Warteschlange vor der Tür.
Für die Chefetagen der großen Betriebe aber geht das Monopoly-Spiel munter weiter. Arkema zum Beispiel, ein großer Chemiekonzern, verkauft manche Standorte und kauft dafür profitablere ein. Und der Konzern Total hat 2020 vier Milliarden Euro an seine AktionärInnen ausgeschüttet.
Aber Krisenzeiten schlagen auch auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen nieder. Deshalb ist es unsere Aufgabe, den Kampf der Ideen in der CGT anzuleiten – um der Arbeiterklasse das Bewusstsein zu geben, dass es Zeit ist, das Großkapital beiseite zu räumen und das Wirtschaftssystem zu verändern.
Révolution: Welche Schlüsse ziehst du aus den Gewerkschaftskämpfen seit 2008?
Es gab Kämpfe und sogar siegreiche, aber nur „am Boden“, in den einzelnen Betrieben, auf persönlicher Ebene, oder selten in einem ganzen Sektor. In der Erdölsparte beispielsweise gab’s 2010 einen Kampf rund um die Frage der Pensionen. Dank dieser Mobilisierungen wurde 2011 eine Einigung erreicht, die für mühsame Jobs ein um vier Jahre früheres Pensionsantrittsalter vorsieht.
Aber das große Bild ernüchtert: Auf nationaler, gesamthafter Ebene ist die CGT gescheitert. Die Strategie der Gewerkschaft ist nicht gut. Unsere Organisation gehört zu den Teilen der CGT, die ein Ende dieser bisherigen Strategie fordern.
In den Augen der Arbeiterklasse ist die CGT kein geeignetes Mittel mehr, auf nationaler Ebene gegen die Angriffe zu kämpfen. Sie ist nicht nur unfähig, die Attacken der Bosse zu kontern, sondern stellt in den Köpfen der Beschäftigten auch keine Alternative dar.
Wir müssen den Mut finden, zu analysieren, was nicht funktioniert hat und daraus Schlüsse ziehen. Die Strategie aus den Neunzigern, aus der CGT eine Organisation der „Kompromisse“ und der „gewerkschaftlichen Zusammenarbeit“ zu machen, müssen wir infrage stellen.
Wenn man unaufhörlich Kompromisse mit den anderen Gewerkschaften sucht, wird man sich immer an der moderatesten ausrichten. Und deswegen müssen wir die Vorstellung aufgeben, die CGT wäre auf einer Ebene wie all die anderen Gewerkschaften – deren Führungen haben meistens nicht einmal dieselben Ziele wie wir.
Folgerichtig sehen uns die ArbeiterInnen nicht als brauchbares Werkzeug, um die Gesellschaft zu verändern. Von der Gelbwestenbewegung beispielsweise haben wir uns völlig überrennen lassen. Viele von ihnen haben überhaupt keinen Unterschied zwischen uns und den anderen Gewerkschaften gemacht.
Révolution: Wie kann man dieses Problem angehen?
Wir müssen mit unserer Analyse bei den Grundlagen anfangen. Es gibt eine bürgerliche Klasse, die Klasse der Reichen, die zwar in der Minderheit ist, aber der Gesellschaft ihre Interessen aufzwingt. Ihnen gegenüber steht die Klasse derjenigen, die all den Reichtum produzieren und den Motor der Wirtschaft bilden. Wenn man von dieser Klassenanalyse ausgeht, kommt man zu einer doppelten Strategie: Einerseits stützt man sich natürlich auf unmittelbare Forderungen in den Betrieben und Branchen. Aber man muss das mit der Perspektive einer Veränderung der Gesellschaft tun. Wenn man diesen zweiten Aspekt vernachlässigt, verfällt man dem Reformismus, der sich damit begnügt, den Schaden zu begrenzen oder ihn sogar mitverwaltet.
Man hat mir in einem Fernsehinterview einmal vorgeworfen, ich würde die Wirtschaft blockieren wollen. Und ganz ehrlich: Das ist genau das Ziel, weil es das einzige Mittel ist, Forderungen in großem Maßstab umzusetzen. Und dafür wiederum muss man sich auf die gewerkschaftlich am besten organisierten Sektoren und die Schlüsselbetriebe (Energie, Verkehr) stützen. Sich in diesen Sektoren zu verankern heißt, die anderen in der Mobilisierung mitreißen und eine erfolgreiche Strategie aufbauen zu können.
Révolution: Wie ist die Lage zurzeit in der Chemieindustrie?
Unsere Gewerkschaftsorganisation ist für fünf große Industriezweige zuständig: Chemie, Erdöl, Kautschuk, Kunststoffverarbeitung und die pharmazeutische Industrie. In all diesen Sektoren helfen wir, gegen die Lawine an Umstrukturierungen, Standortverlagerungen und „Rationalisierungen“ anzukämpfen.
Es ist beispielsweise die Schließung einer Raffinerie in Grandpuits geplant. Der Hersteller Michelin will in den kommenden drei Jahren 2300 Stellen streichen, aber die Produktivität um 5% erhöhen. Und in den kommenden Jahren wird natürlich noch mehr dazukommen. Die Situation bei Sanofi ist auch typisch. Eigentlich sind Medikamente ja für alle gedacht. Trotzdem wird die Herstellung einem privaten Hersteller anvertraut, der nur ein Interesse hat – maximale Rentabilität. Das ist Blödsinn.
In unserer Branche gibt es auch viele kleine Unternehmen, die schließen werden, weil sie Zulieferer für die Luftfahrt-, Nahrungsmittel- und Automobilindustrie sind. In dieser Wirtschaftskrise gibt es einen ganzen Haufen Betriebe, die mit ihren Beschäftigten davon betroffen sind. Eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe.
Dazu kommt noch das Interesse der Unternehmer, ihre Beschäftigten in hygienisch erbärmlichen Zuständen weiter arbeiten zu lassen. Trotz der Pandemie stellen sie die für ein sicheres Arbeiten notwendigen Mittel nicht bereit. Der Unfall bei Lubrizol zeigt, dass in dieser Hinsicht noch sehr viel zu tun ist in unserem Sektor. [2019: großflächiger Brand mehrerer Chemikalien in einem Betrieb in Rouen mit offiziell ungeklärter Ursache]
Révolution: Hat die Krise eine Beitrittswelle in die CGT ausgelöst?
Wenn es Kämpfe gibt, ja. Die Beschäftigten bei Sanofi beispielsweise befanden sich gestern [19.1.] im Arbeitskampf. Die letzte Mobilisierung dieser Größe in der Sanofi-Gruppe ist mindestens 15 Jahre her. Deshalb gab es eine Reihe an Gewerkschaftsbeitritten. Kein Erdrutsch, aber: wenn die CGT von den ArbeiterInnen als nützliches Kampfinstrument wahrgenommen wird, kommen sie, unterstützen uns und treten bei. Der wichtigste Faktor für erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit ist Arbeitskämpfe.
Révolution: Am 29. Oktober haben sich 400 AktivistInnen der CGT in Martigues getroffen, um die Grundlagen für einen „Gegenangriff“ zu diskutieren. Du hattest dort die Debatte geleitet. Welche Schlüsse ziehst du?
Unsere „Grundlagen von Martigues“ sind eine offene Tür für eine gewisse Zahl an AktivistInnen, die eine andere CGT wollen als die, die seit zwanzig Jahren existiert – eine CGT, die sowohl für die ArbeiterInnen nützlich ist, als auch für eine Veränderung der Gesellschaft kämpft. Die französische Arbeiterklasse hat in dieser Hinsicht eine lange Tradition. Wir müssen uns die ursprüngliche Orientierung der CGT wieder zu eigen machen, nämlich das Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Diese Orientierung wird manchmal als Minderheitsströmung innerhalb der CGT beschrieben, aber unser in Martigues beschlossener Kurs hat gezeigt, dass wir sehr nah an der Stimmung in den Basisgewerkschaften und Betrieben liegen.
Seit unserem Treffen haben wir in diesem Sinne weitergearbeitet. Es wird in Kürze ein Text erscheinen: Wir betonen darin die Notwendigkeit einer Strategie, sich auf die kämpfenden Sektoren zu stützen, um sie für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren – die Veränderung der Gesellschaft. Ohne dieses gemeinsame Ziel wird es sehr schwierig werden, zu gewinnen. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie ich die Raffinerie-ArbeiterInnen davon überzeugen soll, für die Unterstützung von einem Arbeitskampf bei der Eisenbahn zu streiken. Gleichermaßen gelingt es mir nicht, die Eisenbahner davon zu überzeugen, ihre Züge stehenzulassen, um ein öffentliches Spital zu retten. Das funktioniert so nicht! Wenn man aber von einem gesamtgesellschaftlichen Projekt spricht, betrifft das alle: Wiederverstaatlichung der Energieversorgung, Entwicklung besserer öffentlicher Dienste, Erhöhung der Gehälter, Verteidigung der Arbeitsplätze, usw. Das sind Ziele, in denen wir uns alle wiederfinden können.
Révolution: In Martigues hast du von der Notwendigkeit gesprochen, die CGT auf das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft auszurichten. Kannst du das näher erklären? Und was denken deine GenossInnen in der FNIC davon?
In der FNIC ist allgemein akzeptiert, dass die CGT die Veränderung der Gesellschaft zum Ziel haben sollte. Wir sind Teil jener, die das nicht vergessen haben. Was sehen wir, wenn wir uns die Gesellschaft ansehen, in der wir leben? Eine Gesellschaft, die überhaupt nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht. Man sieht das anhand der Masken, der Spitalsbetten, der Sozialversicherung, der Studienfinanzierung, etc.
Auf internationaler Ebene haben wir die katastrophale Antwort der herrschenden Klasse auf die Gesundheitskrise gesehen. Dieses System ist am Ende. Mehr als je zuvor sehen wir unser Ziel der Gesellschaftsveränderung als notwendig an. Wir müssen die Gesellschaft verändern, weil diese hier nicht gut ist. Jene Menschen, die sie verändern werden – und ich hoffe, ich kann daran teilnehmen – werden gemeinsam, kollektiv entscheiden, was zu tun ist, um die Bedürfnisse aller zufriedenzustellen. Aber das Ziel ist klar: eine Gesellschaft zu errichten, die von den ArbeiterInnen geführt wird.
Révolution fordert die Verstaatlichung der Petrochemie [Erdöl- und Erdgasverarbeitung] unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten. Kannst du mit dieser Forderung etwas anfangen?
Ja, absolut. Im Gegensatz zu Manchen haben wir von der FNIC mit der Verstaatlichungsforderung kein Problem. Es gibt übrigens auch noch andere Sektoren, die man verstaatlichen sollte. Dass Sanofi und andere Pharmakonzerne in privater Hand sind, ist ein Problem. Das gilt zum Beispiel auch für Air Liquide, die Sauerstoff für medizinische Zwecke herstellen.
Für die Chefetagen dieser großen Industriebetriebe muss die Produktion zuerst rentabel sein, bevor sie nützlich ist. Am offensichtlichsten ist das bei den Medikamenten. Sie investieren lieber in die Erforschung eines Medikaments, das in den westlichen Ländern rentabel sein wird, als zum Beispiel in einen Tuberkulose-Impfstoff. Dieselbe Logik sehen wir auch bei Covid-19. Immense Summen öffentlichen Geldes mussten ausgegeben werden, damit die Bosse der Pharmakonzerne überhaupt mit der Forschung beginnen.
Die großen Sektoren in der Chemiebranche unter privater Kontrolle zu behalten (darunter Kautschuk, Erdöl und die Pharmaindustrie), ist sozialer und wirtschaftlicher Unsinn. Und ja, klar: Wir sind für die Verstaatlichung dieser Sektoren unter der Kontrolle der Beschäftigten.
(Kurzversion des Interviews im Funke Nr. 191/17.2.2021)