Heute beginnen wir mit dem ersten Teil einer neuen Serie von Alan Woods, welche eine verständliche Erklärung der marxistischen Methode zur Analyse von Geschichte liefert.
Der erste Artikel bestimmt die wissenschaftliche Basis für den historischen Materialismus. Die eigentliche Ursache für jeden gesellschaftlichen Wandel findet sich nicht im menschlichen Gehirn, sondern bei den Veränderungen in der Produktionsweise. MarxistInnen sehen Geschichte nicht als eine bloße Reihe isolierter Fakten, sondern sie versuchen die allgemeinen Prozesse und Gesetze, welche Natur und Gesellschaft beherrschen, zu entdecken. Die erste Bedingung für die Wissenschaft im Allgemeinen ist, dass wir in der Lage sind über das Einzelne hinwegschauen und beim Allgemeinen angelangen. Die Vorstellung, dass die menschliche Geschichte nicht von Gesetzen bestimmt wird, widerspricht jeglicher Wissenschaft.
Was ist Geschichte?
Warum sollten wir akzeptieren, dass das gesamte Universum, vom kleinsten Partikel bis zu den entferntesten Galaxien, Gesetzmäßigkeiten unterliegt, und dass die Prozesse, welche die Evolution aller Spezies bestimmen, von Gesetzmäßigkeiten beherrscht werden, dies aber für unsere Geschichte aus irgendwelchen seltsamen Gründen nicht gilt? Die marxistische Methode analysiert die verborgenen Triebkräfte, welche die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von den ersten Stammesgesellschaften bis zur heutigen Zeit sind. Die Art und Weise, mit der der Marxismus diese kurvenreiche Straße verfolgt, nennt sich materialistische Geschichtsauffassung.
Diejenigen, die die Existenz jeglicher Gesetze, welche die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit beherrschen, ablehnen, betrachten Geschichte unweigerlich von einem subjektiven und moralistischen Standpunkt aus. Aber über und hinter den isolierten Fakten ist es notwendig, deutliche Tendenzen, die Übergänge von einem Gesellschafssystem zum nächsten, zu erkennen und die grundlegenden Antriebskräfte herauszuarbeiten, die diese Übergänge bestimmen.
Vor Marx und Engels wurde Geschichte von den meisten Menschen als Aneinanderreihung nicht miteinander verknüpfter Ereignisse oder, um einen philosophischen Ausdruck zu benutzen, „Zufälle“ betrachtet. Es gab keine allgemeine Erklärung dafür, Geschichte hatte keine inneren Gesetzmäßigkeiten. Indem Marx und Engels feststellten, dass die gesamte menschliche Entwicklung im Grunde genommen von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängig ist, stellten sie das Studium der Geschichte erstmals auf eine wissenschaftliche Grundlage.
Diese wissenschaftliche Methode ermöglicht uns, Geschichte nicht als Aneinanderreihung unzusammenhängender Ereignisse zu verstehen, sondern vielmehr als Teil eines klar verstandenen und verwobenen Prozesses. Sie besteht aus einer Reihe von Aktionen und Reaktionen, welche die Politik, die Wirtschaft und das gesamte Spektrum der gesellschaftlichen Entwicklung abdeckt. Es ist die Aufgabe des historischen Materialismus, die komplexe dialektische Beziehung zwischen all diesen Phänomenen offen zu legen. Die Menschheit ändert durch Arbeit ständig die Natur und verändert sich dadurch selbst.
Eine Karikatur des Marxismus
Im Kapitalismus neigt die Wissenschaft dazu, immer unwissenschaftlicher zu werden, je mehr sie sich der Analyse der Gesellschaft nähert. Die so genannten Sozialwissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Politik) und auch die bürgerliche Philosophie wenden in der Regel keine wirklich wissenschaftlichen Methoden an und enden daher als schlecht versteckte Versuche, den Kapitalismus zu rechtfertigen oder zumindest den Marxismus zu diskreditieren (was auf das Gleiche hinausläuft).
Trotz der “wissenschaftlichen” Ansprüche der bürgerlichen Historiker spiegelt die Geschichtsschreibung zwangsläufig einen Klassenstandpunkt wider. Tatsache ist, dass die Geschichte von Kriegen – auch die von Klassenkriegen – von den Siegern geschrieben wird. Mit anderen Worten, die Auswahl und Interpretation von Ereignissen wird von den Ergebnissen dieser Konflikte selbst geprägt, die den Historiker und seine Vorstellung davon, was der Leser lesen will, beeinflussen. Letztendlich werden diese Vorstellungen immer von den Interessen einer Klasse oder Gruppierung in der Gesellschaft beeinflusst sein.
Wenn MarxistInnen die Gesellschaft betrachten, geben sie nicht vor, neutral zu sein, sondern unterstützen offen die Interessen der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Das schließt jedoch keineswegs eine wissenschaftliche Objektivität aus. Ein Chirurg, der eine komplizierte Operation durchführt, verschreibt sich der Lebensrettung seines Patienten. Er verhält sich keinesfalls neutral zum Ergebnis seiner Handlung. Aber aus eben diesem Grund unterscheidet er ausgesprochen genau zwischen den verschiedenen Schichten des Organismus. Aus dem gleichen Grund sind MarxistInnen bestrebt, eine genaue wissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Prozesse zu erhalten: um in der Lage zu sein, deren Ausgang erfolgreich zu beeinflussen.
Es werden sehr oft Versuche unternommen, den Marxismus zu diskreditieren, indem dessen Methode der historischen Analyse karikiert wird. Nichts ist einfacher als einen Strohmann aufzustellen, um ihn dann wieder umzuhauen. Die übliche Verzerrung lautet, Marx und Engels hätten „alles auf die Ökonomie reduziert“. Diese mechanische Karikatur hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, wären wir von der schmerzhaften Notwendigkeit entbunden, für eine Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen. Der Kapitalismus würde zusammenbrechen und die neue Gesellschaft würde von selbst seinen Platz einnehmen, sowie einem schlafenden Menschen ein reifer Apfel in den Schoß fällt. Aber der historische Materialismus hat nichts mit Fatalismus gemein.
Diese offensichtliche Absurdität wurde im folgenden Auszug aus Engels Brief an Bloch beantwortet:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.” (Engels an Bloch, 21. September 1890, MEW, Bd. 37, S. 463)
In dem Werk ‚Die heilige Familie‘, das vor dem Kommunistischen Manifest geschrieben wurde, straften Marx und Engels die Vorstellung, dass man sich „Geschichte“ unabhängig von einzelnen Menschen vorstellen könne, mit Verachtung und erklärten, dies sei ausschließlich eine leere Abstraktion:
„Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum‘, sie ‚kämpft keine Kämpfe‘! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.” (Marx und Engels, Die heilige Familie, Kapitel VI, MEW Bd. 2, S. 98)
Was der Marxismus erklärt, ist die Rolle des Individuums als Teil einer bestehenden Gesellschaft, in Abhängigkeit von gewissen objektiven Gesetzen und schließlich als Vertreter der Interessen einer bestimmten Klasse. Ideen besitzen keine unabhängige Existenz, noch ihre eigene historische Entwicklung. „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“, schreibt Marx in seinem Werk ‚Die deutsche Ideologie‘ (MEW Bd. 3, S. 27).
Freier Wille?
Die Vorstellungen und Handlungen der Menschen sind durch die sozialen Beziehungen bedingt, deren Entwicklung nicht vom subjektiven Willen von Menschen abhängig ist, sondern nach bestimmten Gesetzen ablaufen. Diese sozialen Beziehungen reflektieren letztendlich die Notwendigkeit der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Wechselbeziehungen zwischen diesen Faktoren bilden ein komplexes Netz, das oft nur schwer erkennbar ist. Das Studium dieser Beziehungen ist die Grundlage der marxistischen Geschichtstheorie.
Aber auch wenn Menschen nicht Marionetten “blinder historischer Kräfte” sind, so sind sie auch nicht vollkommen frei Handelnde, die in der Lage sind, ihr Schicksal ungeachtet der bestehenden Bedingungen zu gestalten, die durch die Stufe der ökonomischen Entwicklung, der Wissenschaft und Technik, vorgegeben sind. Diese Bedingungen entscheiden letztendlich, ob das sozioökonomische System lebensfähig ist oder nicht. Im ‚Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘ schreibt Marx:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (MEW Bd. 8, S. 115).
Später drückte Engels die gleiche Vorstellung auf eine andere Art aus:
“Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eignen, bewußt gewollten Zwecke verfolgt, und die Resultate dieser vielen in verschiedenen Richtungen agierenden Willen und ihrer mannigfachen Einwirkung auf die Außenwelt ist eben die Geschichte.” (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 297)
Was der Marxismus damit behauptet, und das ist eine These, die sicherlich niemand leugnet, ist, dass letzten Endes die Lebensfähigkeit eines bestimmten sozioökonomischen Systems durch dessen Fähigkeit zur Entwicklung der Produktionsmittel bestimmt ist, d. h. auf den materiellen Grundlagen, auf denen die Gesellschaft, die Kultur und die Zivilisation aufgebaut sind, begründet ist. Die Vorstellung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grundlage ist, von der jegliche gesellschaftliche Entwicklung abhängt, ist eine derart selbstverständliche Wahrheit, und es überrascht, dass diese von einigen Menschen immer noch in Frage gestellt wird. Es verlangt nicht viel Intelligenz zu verstehen, dass Männer und Frauen, bevor sie Kunst, Wissenschaften, Religion und Philosophie entwickeln können, zuerst einmal Nahrung zum Essen, Kleidung zum Anziehen und Häuser zum Wohnen brauchen. All diese Dinge müssen irgendwie von jemandem produziert werden. Und es ist ebenso offensichtlich, dass die Lebensfähigkeit eines jeden sozioökonomischen Systems durch die Fähigkeit, dies zu tun, bestimmt wird. In der ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ erklärt Marx die Beziehung zwischen den Produktivkräften und dem „Überbau“ wie folgt:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (MEW Bd. 13, S. 8)
Wie Marx und Engels bemüht waren darzustellen, sind sich die Handelnden in der Geschichte nicht immer bewusst, von welchen Motiven sie angetrieben werden. Stattdessen versuchen sie diese auf die eine oder andere Art zu rechtfertigen. Doch diese Motive existieren und haben ihre Grundlage in der realen Welt.
Daran können wir sehen, dass der Verlauf und die Richtung der Geschichte von Kämpfen aufeinanderfolgender sozialer Klassen geprägt wurden und werden, welche die Gesellschaft nach ihren eigenen Interessen und den daraus resultierenden Klassenkonflikten formen. Daran erinnert uns der erste Satz des Kommunistischen Manifests: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Der historische Materialismus erklärt, dass der Klassenkampf die treibende Kraft für die gesellschaftliche Entwicklung ist.
Marx und Darwin
Unsere Gattung ist das Produkt einer langen Evolutionszeit. Natürlich folgt die Evolution keiner Art „Masterplan“, mit dem Ziel, Wesen wie uns zu erschaffen. Es geht nicht darum, einen vorgezeichneten Plan zu akzeptieren, der in Zusammenhang mit einer göttlichen Intervention oder einer Art Teleologie steht, doch es ist klar, dass die Gesetze der Evolution, die Bestandteil der Natur sind, tatsächlich die Entwicklung von den einfachen Formen des Lebens zu den komplexeren bestimmen.
Die frühesten Lebensformen enthalten in sich bereits den Embryo aller zukünftigen Entwicklungen. Es ist möglich, die Entwicklung von Augen, Armen und anderen Organen zu erklären, ohne auf einen vorbestimmten Plan zurückzugreifen. Ab einer gewissen Stufe sehen wir die Entwicklung eines Zentralnervensystems und eines Gehirns. Mit dem Homo sapiens erlangen wir schließlich menschliches Bewusstsein. Die Materie erlangt Bewusstsein über sich selbst. Es hat keine wichtigere Revolution seit der Entwicklung der organischen Materie (das Leben) aus der anorganischen gegeben.
Charles Darwin hat erklärt, dass die Arten veränderlich sind und sie eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft besitzen, sich wandeln und entwickeln. Auf die gleiche Art haben Marx und Engels erklärt, dass Gesellschaftssysteme nichts Ewiges, Starres sind. Die Evolution zeigt, dass verschiedene Lebensformen den Planeten für lange Zeit dominiert haben, aber ausgestorben sind, sobald sich die materiellen Bedingungen, die ihren evolutionären Erfolg bestimmten, änderten. Diese ehemals dominanten Arten wurden durch andere ersetzt, die scheinbar unbedeutend waren oder sogar durch Arten, die keine Überlebensaussichten zu haben schienen.
Heute wird die Idee von der “Evolution” im Allgemeinen, zumindest von gebildeten Menschen, akzeptiert. Die Ideen von Darwin, so revolutionär sie auch zu seiner Zeit waren, werden als Allgemeinplatz anerkannt. Jedoch wird die Evolution gemeinhin als ein langsamer und schrittweiser Prozess ohne Unterbrechungen oder plötzliche Umbrüche verstanden. In der Politik wird diese Art Argument oft zur Rechtfertigung des Reformismus verwendet. Leider ist dies eine missverständliche Auffassung. Der wirkliche Mechanismus der Evolution bleibt sogar heute noch ein Buch mit sieben Siegeln. Das ist kaum überraschend, da Darwin diesen selbst nicht verstanden hat. Erst seit den 1970ern, mit neuen Entdeckungen in der Paläontologie durch Stephen J. Gould, der die Theorie vom „unterbrochenen Gleichgewicht“ (Punktualismus) entdeckte, wurde aufgezeigt, dass die Evolution kein schrittweiser Prozess ist. Es gibt lange Zeiträume, in denen man keine großen Veränderungen beobachten kann, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt wird die Evolutionslinie durch eine Explosion durchbrochen. Dabei handelt es sich um eine wahrhafte biologische Revolution, die durch das massenhafte Aussterben einiger Arten und den schnellen Aufstieg anderer charakterisiert ist.
Wir sehen entsprechende Prozesse beim Aufstieg und Fall verschiedener sozioökonomischer Systeme. Die Analogie zwischen der Gesellschaft und der Natur ist natürlich nur eine Annäherung. Aber selbst die oberflächlichste Untersuchung der Geschichte zeigt, dass ihre schrittweise, allmähliche Interpretation keine Basis hat. Die Gesellschaft kennt, genau wie die Natur, lange Perioden des langsamen und schrittweisen Wandels, aber auch hier wird die Linie durch explosive Entwicklungen, wie Kriege und Revolutionen, unterbrochen, in denen der Veränderungsprozess enorm beschleunigt wird. Diese Ereignisse sind in der Tat die treibende Kraft für eine historische Entwicklung. Und die eigentliche Ursache für eine Revolution ist die Tatsache, dass ein bestimmtes sozioökonomisches System seine Grenzen erreicht hat und nicht mehr in der Lage ist, die Produktivkräfte wie zuvor weiterzuentwickeln.
Die Geschichte liefert Beispiele von scheinbar mächtigen Staaten, die innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen sind. Und sie zeigt auch, wie politische, religiöse und philosophische Anschauungen, die einmütig abgelehnt worden waren, zu akzeptierten Anschauungen der neuen revolutionären Macht wurden, die aufstieg und die alte ersetzte. Die Tatsache, dass die marxistischen Ideen die Anschauungen einer kleinen Minderheit in dieser Gesellschaft sind, ist deshalb kein Grund zur Besorgnis. Jede große Idee hat immer als Ketzerei begonnen, das trifft sowohl auf den Marxismus als auch auf das Christentum vor 2000 Jahren zu.
Die “evolutionären Anpassungen”, die es der Sklavenhaltergesellschaft ermöglichten, die Barbarei, und dem Feudalismus, die Sklavenhaltergesellschaft zu ersetzen, schlugen letztlich in ihr Gegenteil um. Und jetzt sind die Merkmale, die es dem Kapitalismus möglich machten, den Feudalismus abzulösen und ihn zum dominanten sozioökonomischen System zu machen, Ursache für seinen Zerfall. Der Kapitalismus weist alle Symptome eines sozioökonomischen Systems im Zustand des endgültigen Niedergangs auf. In vielerlei Hinsicht ähnelt dies der Periode des Zerfalls des Römischen Reiches, wie sie von Edward Gibbon beschrieben wird. In der Periode, die sich vor uns entfaltet, bewegt sich der Kapitalismus in Richtung seines Untergangs.
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
Wenn man die Methoden des dialektischen Materialismus auf die Geschichte anwendet, wird einem sofort bewusst, dass die menschliche Geschichte ihre eigenen Gesetze hat, und dass es demzufolge möglich ist, sie als einen Prozess zu verstehen. Der Aufstieg und Fall verschiedener sozio-ökonomischer Formationen kann wissenschaftlich deren mit deren Fähigkeit oder Unfähigkeit erklärt werden, die Entwicklung der Produktionsmittel und damit die menschliche Kultur und die zunehmende Beherrschung der Natur durch den Menschen, voranzutreiben.
Aber welches sind die Gesetze, die den historischen Wandel bestimmen? Genau wie die Evolution des Lebens innewohnende Gesetze hat, die erklärt werden können und zuerst von Darwin und in jüngster Zeit durch die schnellen Fortschritte in der Genetik erklärt wurden, so hat auch die Evolution der menschlichen Gesellschaft ihr innewohnende Gesetze, die von Marx und Engels erklärt wurden. In seinem Werk ‚Die deutsche Ideologie‘ erklärte Marx:
„Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. (…) Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“ (MEW Bd. 3, S. 20-21)
In seiner viel später geschriebenen Schrift ‚Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ liefert uns Engels eine weiterentwickelte Formulierung dieser Ideen. Hier haben wir es mit einer brillanten und prägnanten Darstellung der Grundprinzipien des historischen Materialismus zu tun:
„Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in, Veränderungen der Produktions- und Austauschweise (…)“ (MEW Bd. 19, S. 210)
Im Gegensatz zu den utopischen sozialistischen Ideen von Robert Owen, Saint-Simon und Fourier, basiert der Marxismus auf einer wissenschaftlichen Vision des Sozialismus. Der Marxismus erklärt, dass der Schlüssel zur Entwicklung jeder Gesellschaft die Entwicklung der Produktivkräfte ist: Arbeitskraft, Industrie, Landwirtschaft, Technik und Wissenschaften. Jedes neue System – Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus – hat dazu gedient, die menschliche Gesellschaft durch die Entwicklung der Produktivkräfte voranzubringen.
Die grundlegende Prämisse des historischen Materialismus ist, dass die letztendliche Quelle der menschlichen Entwicklung die Entwicklung der Produktivkräfte ist. Dies ist eine sehr wichtige Schlussfolgerung, weil sie es uns ermöglicht, zu einer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung zu gelangen. Der Marxismus verficht die Ansicht, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft über Millionen Jahre einen Fortschritt in dem Sinn darstellt, dass sie die Macht der Menschheit über die Natur erhöht und so die materiellen Bedingungen schafft, wirkliche Freiheit für die Menschen zu erreichen. Dies ist jedoch nie geradlinig abgelaufen, wie es sich die viktorianischen Historiker, die eine vulgäre und undialektische Sichtweise der Evolution hatten, vorstellten. Die Geschichte hat sowohl eine absteigende als auch aufsteigende Linie.
Wenn man einmal den materialistischen Standpunkt leugnet, bleibt die Rolle von Individuen, d. h. großen Männern und Frauen, als einzige treibende Kraft für historische Ereignisse. Mit anderen Worten, uns bleibt eine idealistische und subjektivistische Betrachtungsweise der historischen Prozesse. Dies war der Standpunkt der utopischen Sozialisten, die trotz ihrer brillanten Einsichten und ihrer durchdringenden Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung daran scheiterten, die grundlegenden Gesetze der historischen Entwicklung zu verstehen. Für sie war der Sozialismus nur eine „gute Idee“, etwas, das man sich auch schon vor eintausend Jahren oder morgen früh hätte ausdenken können. Wäre der Sozialismus schon vor eintausend Jahren erfunden worden, hätte das der Menschheit viele Probleme erspart!
Es ist unmöglich, Geschichte zu verstehen, wenn man sich auf die subjektive Interpretation seiner Protagonisten stützt. Lasst uns ein Beispiel anführen. Die frühen Christen, die das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi stündlich erwarteten, glaubten nicht an Privateigentum. In ihren Gemeinden praktizierten sie eine Art Kommunismus (obwohl ihr Kommunismus zur utopischen Art gehörte, basierend auf Konsumtion und nicht Produktion). Ihre frühen kommunistischen Experimente führten zu nichts und konnten zu nichts führen, weil die Entwicklung der Produktivkräfte zur damaligen Zeit nicht die Entwicklung eines echten Kommunismus gestattete.
Zur Zeit der Englischen Revolution glaubte Oliver Cromwell leidenschaftlich, dass er für das Recht des Einzelnen kämpfte, entsprechend seinem Gewissen zu Gott zu beten. Aber der weitere Verlauf der Geschichte bewies, dass die Cromwellsche Revolution das entscheidende Stadium beim unvermeidlichen Aufstieg der englischen Bourgeoisie war. Das konkrete Stadium der Entwicklung der Produktivkräfte im England des 17. Jahrhunderts erlaubte keinen anderen Ausgang.
Die Führer der großen Französischen Revolution von 1789-93 kämpften unter dem Banner von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Sie glaubten, für eine Ordnung zu kämpfen, die sich auf die ewigen Gesetze von Recht und Vernunft stützte. Doch unabhängig von ihren Absichten und Ideen bereiteten die Jakobiner den Weg für die Herrschaft der Bourgeoisie in Frankreich. Auch hier war unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu diesem Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung kein anderes Ergebnis möglich.
Einführung in den Historischen Materialismus – Teil 2
Die ganze menschliche Geschichte besteht konkret aus dem Kampf der Menschheit über den Entwicklungsstand der Tiere hinauszukommen. Von Alan Woods.
Dieser lange Kampf begann vor sieben Millionen Jahren, als unsere entfernten hominiden (menschenähnlichen) Vorfahren zum ersten Mal aufrecht standen und in der Lage waren, ihre Hände für die Handarbeit frei zu machen. Seitdem sind verschiedene aufeinanderfolgende Phasen auf Grundlage der Entwicklung der Produktivkraft Arbeit, d. h. durch unsere Macht über die Natur, aufgetreten.
Phasen der menschlichen Enwicklung
Die menschliche Gesellschaft hat eine Reihe von Stufen durchlaufen, die deutlich unterscheidbar sind. Jede Stufe basiert auf einer bestimmten Produktionsweise, welche sich wiederum in einem bestimmten System von Klassenbeziehungen ausdrückt. Diese äußern sich ferner in bestimmten gesellschaftlichen Auffassungen, der Psychologie, der Moral, den Gesetzen und der Religion.
Die Beziehung zwischen der ökonomischen Basis der Gesellschaft und dem Überbau (Ideologie, Moral, Gesetze, Kunst, Religion, Philosophie etc.) ist nicht einfach und mechanisch, sondern hochkomplex und sogar widersprüchlich. Die unsichtbaren Fäden, welche die Produktivkräfte und die Klassenbeziehungen verbinden, spiegeln sich in den Köpfen der Menschen verwirrt und verzerrt wider. Und Vorstellungen, die ihren Ursprung in der urzeitlichen Vergangenheit haben, können in der kollektiven Psyche eine lange Zeit fortleben und noch lange, nachdem ihre reale Basis, der sie entsprungen sind, verschwunden ist, hartnäckig weiterbestehen. Religion ist ein gutes Beispiel dafür. Es handelt sich um eine dialektische Wechselbeziehung, wie bereits Engels sehr deutlich herausgearbeitet hat:
„Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete angeht, Religion, Philosophie etc., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen und übernommnen Bestand von – was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiednen falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt meist nur negativ Ökonomisches zum Grunde; die niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur Ergänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung und selbst Ursache, die falschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürfnis die Haupttriebfeder der fortschreitenden Naturerkenntnis war und immer mehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzuständlichen Blödsinn ökonomische Ursachen suchen.
Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blödsinns, resp. seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blödsinn. Die Leute, die dies besorgen, gehören wieder besondern Sphären der Teilung der Arbeit an und kommen sich vor, als bearbeiteten sie ein unabhängiges Gebiet. Und insofern sie eine selbständige Gruppe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bilden, insofern haben ihre Produktionen, inkl. ihrer Irrtümer, einen rückwirkenden Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwicklung, selbst auf die ökonomische.“ (Engels an Conrad Schmidt, 27.Okt. 1890, MEW Bd 37, S. 492)
Und weiter:
„Aber als bestimmtes Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht. Und daher kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebne Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können.“ ( ebd. S. 493)
Ideologie, Traditionen, Moral, Religion etc. spielen bei der Gestaltung der menschlichen Vorstellungen eine bedeutende Rolle. Der Marxismus leugnet diese offensichtliche Tatsache nicht. Im Gegensatz zur Vorstellung der Idealisten ist das menschliche Bewusstsein sehr konservativ. Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen, vor allem keine plötzlichen und gewaltsamen Veränderungen. Sie werden sich an die Dinge klammern, die sie kennen und gewohnt sind: die Ideen, Religionen, Institutionen, die Moral sowie die Führung und Parteien der Vergangenheit. Routine, Gewohnheiten und Bräuche liegen alle wie Blei auf den Schultern der Menschheit. Aus all diesen Gründen hinkt das Bewusstsein hinter den Ereignissen her.
Zu bestimmten Zeitpunkten jedoch zwingen große Ereignisse Menschen, ihre Überzeugungen und Anschauungen in Frage zu stellen. Sie werden aus der alten Gleichgültigkeit und der apathischen Teilnahmslosigkeit gerissen und gezwungen, die Realität anzuerkennen. In solchen Zeiten kann sich das Bewusstsein sehr schnell ändern. Man spricht dann von einer Revolution. Und die gesellschaftliche Entwicklung, die über lange Zeiträume ziemlich konstant und ungebrochen vonstattengeht, wird durch Revolutionen unterbrochen, welche die notwendige Triebkraft für den menschlichen Fortschritt sind.
Die frühe menschliche Gesellschaft
Wenn wir uns den gesamten Prozess der menschlichen Geschichte und der Urgeschichte ansehen, sticht zunächst die außergewöhnliche Langsamkeit ins Auge, mit der sich unsere Spezies entwickelte. Die schrittweise Evolution von menschenähnlichen Lebewesen aus der Tierwelt hin zur tatsächlichen Menschwerdung dauerte Millionen von Jahren. Der erste entscheidende Schritt war die Trennung der ersten Hominiden von ihren affenähnlichen Vorfahren.
Der evolutionäre Prozess ist natürlich blind, d. h. er verfolgt kein objektives oder spezifisches Ziel. Unsere hominiden Vorfahren fanden zunächst durch den aufrechten Gang, dann durch den Gebrauch ihrer Hände zur Benutzung von Werkzeugen, und schließlich durch deren Produktion eine Nische unter bestimmten Umweltbedingungen, die sie vorantrieb.
Vor zehn Millionen Jahren waren Affen die dominierende Spezies auf dem Planeten. Es gab eine große Vielfalt von ihnen – Baumbewohner, Bodenbewohner und sehr viele Zwischenformen. Sie gediehen unter den vorherrschenden klimatischen Bedingungen, die eine perfekte tropische Umgebung schufen. Doch all das änderte sich. Vor ungefähr sieben oder acht Millionen Jahren starben die meisten dieser Arten aus. Der Grund dafür ist unbekannt.
Lange Zeit war die Erforschung der menschlichen Ursprünge von idealistischen Vorurteilen geprägt, die hartnäckig daran festhielten, dass der Hauptunterschied zwischen Menschen und Affen im Gehirn besteht und unsere frühesten Vorfahren daher Affen mit einem großen Gehirn gewesen sein müssen. Die Theorie vom „großen Gehirn“ dominierte die frühe Anthropologie vollkommen. Viele Jahrzehnte wurde erfolglos nach dem „fehlenden Glied“ („missing link“) gesucht, das nach Überzeugung der Anthropologen ein fossiles Skelett mit einem großen Gehirn sein müsste.
Sie waren so davon überzeugt, dass die Wissenschaftswelt vollkommen auf eine der außergewöhnlichsten Fälschungen in der Geschichte der Wissenschaften hereinfiel. Am 18. Dezember 1912 wurden Teile eines fossilen Schädels und eines Kieferknochens als das „fehlende Glied“ bekannt gemacht – der Piltdown Mensch. Dies wurde als große Entdeckung gefeiert. Aber 1953 enthüllte eine Gruppe englischer Wissenschaftler, dass es sich beim Piltdown Menschen um eine absichtliche Fälschung handelte. Die gefundenen Schädelteile waren nur 500 Jahre, statt der behaupteten einen Million, alt und der Kiefer war in Wirklichkeit der eines Orang-Utans.
Warum ließ sich die Wissenschaftswelt so einfach an der Nase herumführen? Weil ihr etwas geboten wurde, das sie zu finden gehofft hatte: Einen frühen hominiden Schädel mit einem großen Gehirn. Tatsächlich war der aufrechte Gang (Bipedalismus) und nicht die Größe des Gehirns, der die Hände für die Arbeit frei machte, der entscheidende Wendepunkt in der menschlichen Evolution.
Das war schon von Engels in seinem brillanten Werk ‚Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen‘ über den Ursprung des Menschen vorausgesehen worden. Der berühmte amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould bedauerte es, dass die Wissenschaftler Engels‘ Schrift nicht mehr Beachtung geschenkt hatten, denn so hätten sie sich hundert Jahre Irrtum ersparen können. Die Entdeckung von Lucy, dem fossilen Skelett eines weiblichen Wesens, das zur neu entdeckten Spezies mit dem Namen Australopithecus afarensis gehörte, zeigte, dass Engels Recht hatte. Die Körperstruktur der frühen Hominiden ist wie die unsrige (das Becken, die Beinknochen etc.) und damit ein Beweis für den Bipedalismus. Aber das Gehirn ist nicht viel größer als das eines Schimpansen.
Unsere fernen Vorfahren waren klein und bewegten sich im Vergleich zu anderen Tieren langsam. Sie hatten keine starken Krallen und Zähne. Noch dazu ist das menschliche Baby, das nur einmal jährlich geboren wird, nach der Geburt vollkommen hilflos. Delfine können direkt nach der Geburt schwimmen, Kälber und Fohlen können kurz nach der Geburt laufen und Löwenbabys können 20 Tage nach der Geburt rennen.
Im Vergleich dazu braucht ein menschlicher Säugling Monate, um überhaupt ohne Unterstützung sitzen zu können. Für das Aneignen fortgeschrittener Fähigkeiten wie Rennen und Springen braucht das Neugeborene sogar Jahre. Als Spezies waren wir deshalb gegenüber den zahlreichen Mitbewerbern in der Savanne Ostafrikas deutlich benachteiligt. Die menschliche Arbeit war zusammen mit der kooperativen sozialen Organisation und der Sprache, die miteinander verbunden sind, das entscheidende Element in der menschlichen Evolution. Die Herstellung von Steinwerkzeugen gab unseren frühen Vorfahren einen entscheidenden evolutionären Vorteil, welcher die Entwicklung des Gehirns auslöste.
Der erste Zeitabschnitt, den Marx und Engels Barbarei nannten, war durch eine extrem niedrige Entwicklung der Produktionsmittel, der Herstellung von Steinwerkzeugen und der Existenz als Jäger und Sammler, gekennzeichnet. Aus diesem Grund stagnierte die Entwicklungslinie für einen langen Zeitraum nahezu. Die Produktionsweise der Jäger und Sammler stellte ursprünglich den gemeingültigen Zustand der Menschheit dar. Die lebendigen Relikte aus dieser Zeit, Gesellschaften, die bis vor kurzem in verschiedenen Teilen der Welt beobachtet werden konnten, liefern uns wichtige Hinweise und Einsichten in eine längst vergessene Lebensweise.
Es ist zum Beispiel nicht wahr, dass Menschen von Natur aus egoistisch sind. Wenn das der Fall wäre, wäre unsere Gattung vor über zwei Millionen Jahren ausgestorben. Es gab ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das diese Gruppen angesichts aller Widrigkeiten zusammenhielt. Sie kümmerten sich um ihre Neugeborenen und deren Mütter und respektierten die älteren Mitglieder der Sippe, welche das gemeinsame Wissen und den gemeinsamen Glauben im Gedächtnis bewahrten. Unsere frühen Vorfahren wussten nicht, was Privateigentum ist, wie Anthony Burnett darlegte:
„Der Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Arten wird klar, wenn wir das Revierverhalten von Tieren mit dem Eigentumsaneignung von Menschen vergleichen. Reviere werden durch formelle Signale, die für die gesamte Art gebräuchlich sind, verteidigt. Jedes erwachsene Mitglied der Spezies hält ein Revier. Menschen zeigen kein derartiges einheitliches Verhalten: Selbst innerhalb einer einzelnen Gemeinschaft können einer Person große Gebiete gehören, während andere nichts besitzen. Es gibt sogar heute noch den Besitz an Menschen. Aber in einigen Ländern ist das Privateigentum auf den persönlichen Besitz beschränkt. In einigen Stammesgruppen gehören sogar geringfügige Besitztümer der Gemeinschaft. Der Mensch hat tatsächlich nicht mehr „Instinkt, Eigentum zu besitzen“ als einen „Instinkt zum Stehlen“. Es ist zwar einfach, Kinder zu Besitzstreben zu erziehen, und doch variieren die Form des Besitzstrebens und das Ausmaß, indem dieses von der Gesellschaft anerkannt wird stark zwischen Ländern und geschichtlichen Perioden.“ (Anthony Burnett, The Human Spezies, S. 142, eigene Übersetzung)
Vielleicht ist der Begriff „Barbarei” aufgrund der negativen Bedeutung, den er heutzutage erlangt hat, unglücklich gewählt. Der englische Philosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, beschreibt das Leben unserer frühen Vorfahren als eines von „ständiger Angst und der Gefahr eines gewaltsamen Todes“ geprägt, „das Leben der Menschen ist einsam, arm, bösartig, bestialisch und kurz“. Zweifelsohne war ihr Leben hart, aber diese Worte werden der Lebensweise unserer Vorfahren kaum gerecht. Der kenianische Anthropologe und Archäologe Richard Leakey schreibt:
„Hobbes‘ Ansichten, dass Menschen, die keine Landwirtschaft betrieben, keine ‚Gesellschaft‘ besitzen und ‚einsam‘ sind, könnte nicht falscher sein. Ein Jäger und Sammler zu sein, heißt, ein Leben zu erfahren, das höchst sozial ist. Dass sie ‚keine Kunst‘ und ‚keine Buchstaben‘ haben, ist wahr, dass nahrungssuchende Menschen sehr wenig in Form von materieller Kultur besitzen, das aber ist einfach eine Konsequenz aus ihrem mobilen Lebenswandel. Wenn Menschen vom Stamm der !Kung von einem Lager zum nächsten ziehen, nehmen sie, wie alle Jäger und Sammler, ihre gesamten weltlichen Güter mit: Diese haben im Allgemeinen ein Gewicht von 12 kg, was ungefähr der Hälfte der Freigepäckmenge bei den meisten Fluggesellschaften entspricht. Es gibt einen unausweichlichen Konflikt zwischen der Mobilität und der materiellen Kultur und deshalb tragen die !Kung ihre Kultur in ihren Köpfen und nicht auf ihren Rücken. Ihre Lieder, Tänze und Geschichten bilden eine Kultur, die genauso reich ist, wie die anderer Menschen. Richard Lee [Anthropologe und Autor von ‚The !Kung San: Men, Women and Work in a Foraging Society, 1979] schätzt, dass die Frauen sich nicht ausgebeutet fühlen: Sie besitzen eine wirtschaftliche Bedeutung und politische Macht, etwas, das vielen Frauen in der ‚zivilisierten Welt‘ versagt bleibt.“ (Richard Leakey, The Making of Mankind, S. 101-103, eigene Übersetzung)
In diesen Gesellschaften waren Klassen im modernen Sinne unbekannt. Es gab keinen Staat oder eine organisierte Religion, und es gab ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft und dem Teilen. Ichbezogenheit und Selbstsucht wurden als höchst anti-sozial und moralisch verurteilenswert betrachtet. Die Wichtigkeit der Gleichheit verlangt, dass bestimmte Rituale befolgt werden, wenn ein erfolgreicher Jäger ins Lager zurückkehrt. Das Ziel dieser Rituale ist es, das Erfolg herunterzuspielen, um Arroganz und Hochmut vorzubeugen: “Das korrekte Verhalten für einen erfolgreichen Jäger sind Bescheidenheit und Untertreibung”, erklärt Richard Lee. Und weiter:
„Die !Kung haben keine Häuptlinge und Führer. Probleme in ihrer Gesellschaft werden meistens gelöst, lange bevor sie zu etwas heranreifen, das die soziale Harmonie bedrohen könnte. (…) Die Gespräche der Menschen sind Allgemeingut und Streitigkeiten werden durch gemeinsame Scherze leicht entschärft. Niemand erteilt Befehle oder nimmt sie entgegen. Richard Lee fragte /Twi!gum, ob die !Kung Führer hätten. ‚Natürlich haben wir Führer‘, entgegnete er, ganz zum Erstaunen von Richard Lee. Wir sind in der Tat alle Führer; jeder von uns ist ein Führer über sich selbst!‘ /Twi!gum betrachtete die Frage und seine originelle Antwort als großen Witz.“ (ebd. S. 107)
Das grundlegende Prinzip, das alle Lebensbereiche leitet, ist das Teilen. Wenn bei den !Kung ein Tier getötet wird, beginnt ein aufwendiges Verfahren zum Aufteilen des rohen Fleisches entlang Verwandtschafts-, Partnerschafts- und Verpflichtungslinien. Richard Lee betont diesen Punkt besonders:
„Das Teilen durchdringt das Verhalten und die Werte der nahrungssuchenden !Kung in einem hohen Maße, innerhalb und zwischen den Familien und es wird bis zu den Grenzen des sozialen Universums ausgedehnt. Genau wie das Prinzip von Profit und Vernunft im Mittelpunkt der kapitalistischen Ethik steht, so steht das Teilen im Mittelpunkt der sozialen Lebensführung in nahrungssuchenden Gesellschaften.“ (ebd.)
Überheblichkeit war verpönt und Bescheidenheit wurde gefördert, wie der folgende Auszug zeigt:
„Ein !Kung Mann beschreibt es folgendermaßen: ‚Nehmen wir an, ein Mann war auf der Jagd. Er darf nicht heimkommen und angeberisch verkünden: ‚Ich habe im Busch ein großes Tier getötet!‘ Er muss sich zuerst einmal ans Feuer setzen, bis jemand kommt und fragt: ‚Was hast du heute gesehen?‘ Er antwortet ruhig: ‚Ah, Ich bin kein guter Jäger. Ich habe nichts gesehen… Vielleicht ein kleines Tier‘. Dann lächele in mich hinein, denn ich weiß, dass er etwas Großes erlegt hat. Je größer das erlegte Tier ist, desto mehr wird es heruntergespielt. (…) Das Scherzen und Untertreiben wird strikt befolgt, nicht nur bei den Menschen vom Stamm der !Kung, sondern von vielen nahrungssuchenden Menschen und das Ergebnis ist, dass, obwohl einige Menschen zweifellos bessere Jäger sind als andere, niemand wegen seines Talents ein ungewöhnliches Prestige oder einen ungewöhnlichen Status genießt.“ (Leakey, S. 106-107)
Diese Ethik ist nicht auf die !Kung begrenzt; sie ist eine Eigenschaft der Jäger und Sammler im Allgemeinen. Ein solches Verhalten ist jedoch nicht angeboren. Wie die meisten Verhaltensmuster der Menschen muss es von der Kindheit an gelernt werden. Jeder menschliche Säugling wird mit der Fähigkeit zum Teilen und der Fähigkeit egoistisch zu sein geboren, sagt Richard Lee. „Das, was anerzogen und entwickelt wird, ist das, was jede einzelne Gesellschaft als am wertvollsten betrachtet“. In diesem Sinne sind die ethischen Werte dieser frühen Gesellschaften denen des Kapitalismus, der den Menschen lehrt, gierig, egoistisch und antisozial zu sein, haushoch überlegen.
Es ist natürlich unmöglich, mit Gewissheit zu sagen, dass dies ein exaktes Bild der frühen menschlichen Gesellschaft ist. Aber ähnliche Bedingungen bringen tendenziell ähnliche Resultate, und die gleichen Tendenzen können in vielen verschiedenen Kulturen, die sich auf dem gleichen Niveau der ökonomischen Entwicklung befinden, beobachtet werden. Robert Lee beschreibt das wie folgt:
„‚Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass dies die exakte Lebensweise unserer Vorfahren ist. Aber ich glaube, was wir bei den !Kung und anderen nahrungssuchenden Menschen sehen, sind Verhaltensmuster, die für die frühe menschliche Entwicklung ausschlaggebend waren.‘ Von den verschiedenen Hominiden-Arten, die vor zwei oder drei Millionen Jahren lebten, erweiterte eine – die Linie, die schließlich zu uns führt – ihre ökonomische Basis, indem sie Nahrung teilte und mehr Fleisch aß. Die Entwicklung einer Jäger- und Sammlerökonomie spielte bei unserer Menschwerdung eine bedeutende Rolle.“ (Zitiert nach Leakey, S. 108-109)
Wenn man die Werte der Jäger- und Sammlergesellschaften mit den unsrigen vergleicht, so sind unsere nicht immer besser. Vergleichen wir z. B. die gegenwärtige Familie, die eine hohe Anzahl an Missbrauchsfällen von Frauen und Kindern, Waisen und Prostituierten aufweist, mit der gemeinsamen Kindererziehung durch alle, die von der Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte praktiziert wurde, d. h. vor dem Aufkommen dieser sonderbaren gesellschaftlichen Vereinbarung, die Menschen gerne Zivilisation nennen:
„‚Ihr weißen Menschen‘, sagte ein amerikanischer Indianer zu einem Missionar, ‚liebt nur eure eigenen Kinder. Wir lieben die Kinder des Stammes. Sie gehören allen Menschen und wir sorgen für sie. Sie sind Knochen von unseren Knochen, Fleisch von unserem Fleisch. Wir sind ihnen alle Vater und Mutter. Weiße Menschen sind Wilde; sie lieben ihre Kinder nicht. Wenn sie zu Waisen werden, müssen Menschen bezahlt werden, damit für sie gesorgt wird. Wir kennen solche barbarischen Ideen nicht‘.“ (M. F. Ashley Montagu, ed., Marriage: Past and Present: A Debate Between Robert Briffault and Bronislaw Malinowski, Boston: Porter Sargent Publisher, 1956, S. 48, eigene Übersetzung)
Wir dürfen jedoch keinen idealisierten Blick auf die Vergangenheit haben. Das Leben war für unsere frühen Vorfahren ein ständiger, harter Überlebenskampf gegen die Kräfte der Natur. Der Fortschritt ging extrem langsam vonstatten. Die frühen Menschen begannen vor mindestens 2,6 Millionen Jahren mit der Herstellung von Steinwerkzeugen. Das älteste Werkzeug aus der Oldowan-Kultur wurde ca. eine Million Jahre verwendet, bis sich vor ungefähr 1,76 Millionen Jahren die inzwischen weiter verfeinerten, scharfkantigen Faustkeile, Messer und Schaber endgültig durchsetzten. Diese Werkzeuge charakterisieren die acheuléische Kultur. Diese und andere Grundwerkzeuge aus Stein wurden für eine ausgesprochen lang anhaltende Epoche angefertigt, die vor rund 400.000 bis 200.000 Jahren endete.
Die Neolithische Revolution
Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes, sich über das tierische Dasein zu erheben. Dieser lange Kampf begann vor sieben Millionen Jahren, als unsere entfernten menschlichen Vorfahren erstmals den aufrechten Gang erlernten, wodurch ihre Hände für manuelle Arbeit freiwurden. Seitdem entstanden aufeinanderfolgende Phasen der sozialen Entwicklung auf der Grundlage von Veränderungen in den Produktivkräften der Arbeit – das heißt auf der Grundlage unserer wachsenden Beherrschung der Natur.
Für die menschliche Geschichte verlief dieser Prozess schmerzlich langsam, wie ‚The Economist‘ am Vorabend des neuen Jahrtausends feststellte:
„Fast in der gesamten menschlichen Geschichte war der ökonomische Fortschritt so langsam, dass er innerhalb einer Lebenszeit kaum wahrnehmbar war. Von Jahrhundert zu Jahrhundert lief die jährliche Wirtschaftswachstumsrate gegen Null. Wenn sich Wachstum einstellte, war dieses so langsam, dass die Zeitgenossen ihn nicht wahrnehmen konnten – und sogar rückblickend erscheint dieser nicht als Anstieg des Lebensstandards (so wie Wachstum heute gesehen wird), sondern als leichtes Bevölkerungswachstum. In tausenden von Jahren belief sich der Fortschritt, abgesehen von einer winzigen Elite, auf folgendes: Es wurde für mehr Menschen möglich, auf dem niedrigsten Lebensstandard zu leben.“ (The Economist, 31.12.1999, eigene Übersetzung)
Der menschliche Fortschritt beschleunigt sich in Folge der ersten und wichtigsten der großen Revolutionen, des Übergangs von der primitiven Produktionsweise der Jäger und Sammler zum Ackerbau. Dies schuf die Grundlage für die Sesshaftigkeit und die Entstehung der ersten Siedlungen. Das war die Epoche, die MarxistInnen als Barbarei bezeichnen, das Stadium zwischen dem Urkommunismus und der frühen Klassengesellschaft, als Klassen sich zu bilden beginnen und mit ihnen der Staat.
Die langanhaltende Epoche des Urkommunismus, die erste Phase der Entwicklung der Menschheit, in der Klassen, Privateigentum und der Staat nicht existierten, ebnete den Weg für die Klassengesellschaft, sobald die Menschen in der Lage waren, einen Überschuss zu produzieren, der über dem täglichen Überlebensbedarf lag. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Teilung der Gesellschaft in Klassen wirtschaftlich möglich. Die Barbarei entsteht aus dem Zerfall der alten Kommune. Hier wird die Gesellschaft zum ersten Mal entlang von Eigentumsverhältnissen geteilt und Klassen sowie der Staat befinden sich in einem Entstehungsprozess, obwohl diese Dinge nur allmählich entstehen, und sich, ausgehend von einem embryonischen Stadium, schließlich als Klassengesellschaft konsolidieren. Diese Epoche beginnt vor ca. 10.000 oder 12.000 Jahren.
Vom historischen Gesichtspunkt aus gesehen war die Entstehung einer Klassengesellschaft ein revolutionäres Phänomen. Sie befreite eine privilegierte Gruppe der Gesellschaft – die herrschende Klasse – von der direkten Arbeitslast und gab ihr die notwendige Zeit, um Kunst, Wissenschaft und Kultur zu entwickeln. Die Klassengesellschaft war, trotz der rücksichtslosen Ausbeutung und Ungleichheit, der Weg, den die Menschheit gehen musste, um die nötigen materiellen Voraussetzungen für eine zukünftige klassenlose Gesellschaft aufzubauen.
Hier sehen wir den Embryo, aus dem Städte (wie z.B. Jericho, das ungefähr 7000 v. Chr. gebaut wurde), die Schrift, die Industrie und alles andere, das die Basis für die so genannte Zivilisation schuf, erwuchsen. Die Epoche der Barbarei stellt einen sehr großen Abschnitt der menschlichen Geschichte dar, und sie ist in verschiedene mehr oder weniger klare Zeitabschnitte aufgeteilt. Im Allgemeinen wird sie durch den Übergang von der Produktionsweise der Jäger und Sammler zum Wanderhirtentum (Pastoralismus) und Ackerbau gekennzeichnet, d. h sie geht von der paläontologischen Barbarei über die neolithische Barbarei bis zur Oberstufe der Barbarei, der Bronzezeit, die an der Schwelle der Zivilisation steht.
Dieser entscheidende Wendepunkt, den Gordon Childe die Neolithische Revolution nannte, bedeutete einen großen Sprung vorwärts bei der Entwicklung der menschlichen Produktionsleistung und damit der Kultur. Childe schreibt dazu: „Wir verdanken der vorschriftlichen Barbarei vieles. Jede bedeutende angebaute Nährpflanze wurde in einer der vielen namenlosen barbarischen Gesellschaften entdeckt“ (G. Childe, What Happened in History, p. 64, eigene Übersetzung).
Der Ackerbau begann vor ca. 10.000 Jahren im Nahen Osten und stellte eine Revolution in der menschlichen Gesellschaft und Kultur dar. Die neuen Produktionsbedingungen gaben Menschen mehr Zeit – Zeit für komplexes analytisches Denken. Dies widerspiegelt sich in der neuen Kunst, die aus geometrischen Mustern bestand – die ersten Beispiele von abstrakter Kunst in der Geschichte. Die neuen Bedingungen schufen neue Lebensanschauungen, soziale Beziehungen sowie die Verbindung zwischen Mensch und Natur samt dem Universum, deren Geheimnisse auf eine Art und Weise erforscht wurden, von der man zuvor nicht zu träumen gewagt hätte. Das Verständnis von Naturvorgängen wird durch die Anforderungen des Ackerbaus notwendig und wird in dem Maße vertieft, in dem Menschen lernen, die feindlichen Naturkräfte in der Praxis durch kollektive Arbeit im großen Stil zu besiegen und bändigen.
Die kulturelle und religiöse Revolution reflektiert die große soziale Revolution – die größte in der gesamten menschlichen Geschichte bis zum heutigen Tage, welche die ursprüngliche Kommune auflöste und das Privateigentum an Produktionsmitteln schuf. Denn immerhin sind es die Produktionsmittel, die unser Leben ermöglichen.
Für den Ackerbau bedeutete die Einführung von Eisenwerkzeugen einen großen Fortschritt. Sie gestattet ein Bevölkerungswachstum und größere, stärkere Gemeinschaften. Vor allem erzeugt sie einen Überschuss, den sich die führenden Familien in der Gemeinschaft aneignen können. Besonders die Einführung von Eisen bedeutete eine qualitative Veränderung im Produktionsprozess, denn Eisen ist wesentlich effektiver als Kupfer und Bronze, sowohl zur Herstellung von Werkzeugen als auch von Waffen. Eisen stand auch in einem weit größeren Maß zur Verfügung als die alten Metalle. Hier werden zum ersten Mal Waffen und Kriegsführung demokratisiert. Die wichtigste Waffe der damaligen Zeit war das Eisenschwert, das erstmalig um 5000 v.Chr. in England auftaucht. Jeder Mann kann ein Eisenschwert besitzen. Aus diesem Grund verliert die Kriegsführung ihren vorwiegend aristokratischen Charakter und wird zu einer Angelegenheit für die Massen.
Die Verwendung von eisernen Äxten und Sicheln transformiert den Ackerbau. Ein Hektar Land kann nun doppelt so viele Menschen wie zuvor ernähren. Es gibt jedoch immer noch kein Geld, und so blieb die Tauschwirtschaft bestehen. Der erwirtschaftete Überschuss wird nicht reinvestiert, da diese Möglichkeit nicht gegeben ist. Einen Teil des Überschusses eignen sich der Häuptling und seine Familie an. Ein anderer Teil wird bei Feiern, die eine wichtige Rolle in dieser Gesellschaft einnehmen, verbraucht.
Bei einem einzelnen Fest konnten 200-300 Menschen satt werden. Bei den Überresten eines solchen Festes wurden die Knochen von zwölf Kühen und einer großen Anzahl Schafe, Schweine und Hunde entdeckt. Diese Versammlungen waren nicht nur Gelegenheiten, bei denen man Essen und Trinken bis zum Exzess zu sich nahm, sie spielten auch eine wichtige soziale und religiöse Rolle. Bei solchen Zeremonien dankten die Menschen Gott für den Nahrungsüberschuss. Sie ermöglichten es auch, dass verschiedene Sippen miteinander in Kontakt traten und gemeinschaftliche Angelegenheiten geklärt wurden. Solche großzügigen Feste boten den Häuptlingen ebenfalls die Möglichkeit, ihren Wohlstand und ihre Macht zu zeigen, um so das Ansehen des betreffenden Stammes oder der Sippe zu steigern.
Aus solchen Sammelplätzen erwuchs allmählich die Grundlage für feste Siedlungen, Märkte und kleinere Städte. Die Bedeutung des Privateigentums und Wohlstands nahm mit der steigenden Arbeitsproduktivität und dem zunehmenden Überschuss, der ein Angriffsziel für Überfälle bot, zu. Da die Eisenzeit eine Periode von andauernden Kriegen, Fehden und Plünderungen war, wurden die Siedlungen oft mit großen Erdwällen verstärkt, wie z. B. Maiden Castle in Dorset und Danebury in Hampshire.
Infolge der Kriege gab es eine große Zahl an Kriegsgefangenen, von denen viele als Sklaven verkauft wurden und im letzten Abschnitt der Periode als Ware mit den Römern gehandelt wurden. Der Geograph Strabo schrieb darüber: „Diese Leute geben dir einen Sklaven für eine Amphore Wein.“ Ein derartiger Tauschhandel begann an der Peripherie dieser Gesellschaften. Durch den Tausch mit einer höher entwickelten Kultur wie der römischen wurde allmählich das Geld eingeführt, wobei die ersten Münzen auf römischen Modellen basierten.
Die Herrschaft des Privateigentums bedeutete zum ersten Mal die Konzentration von Wohlstand und Macht in den Händen einer Minderheit. Sie führte zu einer dramatischen Veränderung in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen und ihrem Nachwuchs. Die Frage der Erbschaft beginnt eine große Bedeutung zu erlangen. Als Folge daraus sehen wir die Entstehung spektakulärer Gräber. In Großbritannien treten solche Gräber ca. 3000 v.Chr. erstmals auf. Sie stellen ein Machtsymbol der herrschenden Klasse oder Kaste dar. Außerdem wurden so Eigentumsrechte über ein bestimmtes Gebiet geltend gemacht. Das Gleiche kann man in anderen frühen Kulturen beobachten, beispielsweise bei den Prärieindianern in Nordamerika, über die es ausführliche Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert gibt.
Hier haben wir es erstmalig mit der Entfremdung zu tun. Das menschliche Wesen wird im zwei- oder dreifachen Sinne von sich selbst entfremdet. Zunächst bedeutet das Privateigentum die Entfremdung vom eigenen Produkt, das von einer anderen Person angeeignet wird. Zweitens eignet sich der Staat in Person eines Königs oder Pharaos die Kontrolle über sein Leben an. Schließlich wird diese Entfremdung vom irdischen Leben in das Nachleben übertragen, das innere Wesen („die Seele“) aller Menschen wird von den Gottheiten der nächsten Welt, deren guter Wille ständig durch Gebete und Opfer erhalten werden muss, angeeignet. Und genau wie die Dienste für den Monarchen die Grundlage für den Wohlstand der Oberschicht von Bürokraten und Adeligen bilden, so bilden die Opfer für die Götter die Grundlage für den Wohlstand und die Macht der Kaste der Priester, die zwischen den Menschen und den Göttern und Göttinnen steht. Hier haben wir es mit der Entstehung der organisierten Religion zu tun.
Mit der Zunahme der Produktion und Produktivitätssteigerungen, die durch die neuen Arbeitsweisen möglich wurden, gab es Veränderungen in den Glaubensvorstellungen und Bräuchen. Auch hier bestimmt das soziale Sein das Bewusstsein. Anstelle der Verehrung von Vorfahren und Steingräbern für Individuen und ihre Familien sehen wir nun einen viel anspruchsvolleren Ausdruck des Glaubens. Der Bau von Steinkreisen enormen Ausmaßes bescheinigt eine eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung und der Produktion, die durch die organisierte, kollektive Arbeit im großen Stil möglich gemacht wurde. Die Wurzeln der Zivilisation sind deshalb in der Barbarei zu finden, und noch mehr in der Sklavenhaltergesellschaft. Die Entwicklung der Barbarei führt zur Sklavenhaltergesellschaft, oder wie Marx sie nannte, zur „asiatischen Produktionsweise“.
Einführung in den Historischen Materialismus – Teil 3
Das wirkliche Wachstum der Zivilisation tritt in Ägypten, Mesopotamien, dem Indus-Tal, China und Persien auf. Anders ausgedrückt: Die Entwicklung der Klassengesellschaft fällt zusammen mit dem ungeheuren Aufschwung der Produktivkräfte und mit einer menschlichen Kultur, die unvorhergesehene Höhen erreichte. Von Alan Woods.
Die asiatische Produktionsweise
Man geht heute davon aus, dass Städte und davor die Landwirtschaft in etwa zur selben Zeit, im vierten Jahrtausend v. Chr., an verschiedenen Orten – Mesopotamien, dem Indus-Tal, dem Huang-Ho-Tal und auch Ägypten – entstanden. In Süd-Mesopotamien bauten die Sumerer Ur, Lagaš, Eridu und andere Stadtstaaten. Sie waren gebildete Menschen, die tausende Tontafeln hinterließen, die mit Keilschrift beschrieben wurden. Die Hauptmerkmale der asiatischen Produktionsweise sind:
- eine städtische Gesellschaft auf landwirtschaftlicher Grundlage.
- eine in erster Linie agrarische Wirtschaft.
- öffentliche Arbeiten, die oft, aber nicht immer, mit der Notwendigkeit zur Bewässerung einhergehen, sowie die Unterhaltung und der Ausbau eines umfangreichen Kanal- und Abwassersystems.
- ein despotisches Regierungssystem, oft mit einem König an der Spitze.
- eine große Bürokratie.
- ein Ausbeutungssystem, das auf Steuern basiert.
- gemeinsames (Staats-) Eigentum an Boden.
Obwohl die Sklaverei (Sklaven waren Kriegsgefangene) existierte, handelte es sich nicht wirklich um Sklavenhaltergesellschaften. Arbeitsdienste waren nicht umsonst, die sie verrichteten, waren aber keine Sklaven. Es gab ein Element des Zwangs, aber wichtiger waren Gewohnheit, Tradition und Religion. Die Gemeinschaft dient dem Gottkönig beziehungsweise der Gottkönigin. Sie dient dem Tempel, etwa in Israel. Dieser ist mit dem Staat verbunden und ist der Staat.
Die Ursprünge des Staates sind hier mit der Religion vermischt, und diese religiöse Aura wird bis zum heutigen Tag aufrechterhalten. Die Leute werden dazu erzogen, zum Staat mit einem Gefühl von Ehrfurcht und Verehrung aufzublicken, als einer Macht, die über der Gesellschaft und den gewöhnlichen Menschen steht, die ihr blind zu dienen haben.
Die Dorfgemeinschaft, die Grundeinheit dieser Gesellschaften, lebt beinahe vollkommen autark. Die wenigen Luxusgüter, die einer bäuerlichen Bevölkerung zur Verfügung stehen, werden auf dem Basar oder von reisenden Hausierern, die am Rande der Gesellschaft leben, erworben. Geld ist kaum bekannt. Steuern an den Staat werden in Naturalien bezahlt. Es gibt keine Verbindungen zwischen den einzelnen Dörfern und der interne Handel ist schwach entwickelt. Der Staat hält dieses Gefüge zusammen.
Es bestand beinahe keine soziale Mobilität, was in einigen Fällen durch ein Kastensystem bestärkt wurde. Die Gruppe ist gegenüber dem Individuum höhergestellt. Endogame Ehen herrschen vor, das heißt die Menschen heiraten ausschließlich innerhalb der Klasse oder der Kaste. Üblicherweise ergreifen die Kinder den Beruf der Eltern. Im Kastensystem der Hindus ist dies sogar verpflichtend. Diese fehlende Mobilität und soziale Starre helfen, die Menschen an das Land, die Dorfgemeinschaft, zu binden.
Beispiele für derartige Gesellschaften sind die Ägypter, Babylonier, die Assyrer, die Shang- oder Ying-Dynastie (von 1766 bis 1122 v.Chr.), die erste überlieferte chinesische Dynastie, und schließlich die Zivilisation im Indus-Tal, Harappa, die von 2300 bis ca. 1700 v.Chr. andauerte. Eine gänzlich eigenständige Entwicklung nahmen die vorspanischen Zivilisationen in Mexiko und Peru, die trotz einiger Unterschiede erstaunlich ähnliche Merkmale aufweisen.
Das Steuersystem und andere Ausbeutungsmethoden wie der Frondienst (Corvée) für den Staat sind zwar unterdrückerisch, werden aber als unvermeidlich und als natürliche Ordnung hingenommen, unterstützt von den Traditionen und der Religion. Corvée ist unfreie und oft unbezahlte Arbeit, die den Menschen entweder, wie im Feudalismus, von aristokratischen Landbesitzern, oder aber wie in diesem Fall vom Staat auferlegt wird. Während das Corvée-System dem Frondienst im westlichen Feudalismus ähnelt, haben die jeweiligen Systeme des Landeigentums nichts miteinander gemein. Tatsächlich hatten die britischen Herrscher bei der Kolonialisierung Indiens die größten Schwierigkeiten, es zu verstehen.
Ortschaften und Städte entstehen gewöhnlich entlang der Handelsrouten, an Flussufern, an Oasen oder anderen wichtigen Wasserquellen. Die Städte sind Verwaltungs- und Handelszentren für die Dörfer. Hier sind Händler und Handwerker: Eisenformer, Zimmerleute, Weber, Färber, Schuhmacher, Steinmetze usw. Auch die lokalen Vertreter der Staatsmacht leben hier, die einzigen Berührungspunkte der Masse der Bevölkerung mit ihr: niedrige Beamte, Schreiber und Polizisten oder Soldaten.
Es gibt auch Geldverleiher, die von den Bauern Wucherzinsen verlangen, aber selbst wiederum von den Steuereintreibern, den Kaufleuten und den Dorfwucherern geschröpft werden. Viele dieser uralten Elemente haben in einigen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und in Asien bis in die moderne Zeit überlebt. Aber das Aufkommen des Kolonialismus zerstörte die alte asiatische Produktionsweise ein für alle Mal. Sie hatte auf jeden Fall keine historische Zukunft, weil aus ihr heraus keine weitere Entwicklung möglich war.
In diesen Gesellschaften ist der geistige Horizont der Menschen extrem begrenzt. Die bestimmende Macht im Leben der Menschen ist die Familie oder die Sippe, welche sie alles über ihre Geschichte, Religion und Traditionen lehrt. Sie wissen wenig bis gar nichts von der Politik und der Welt im Allgemeinen. Den einzigen Kontakt mit dem Staat haben sie über den Dorfvorsteher, der die Steuern einsammelt.
Was bei diesen frühen Zivilisationen auffällt, sind einerseits ihre Langlebigkeit, andererseits die extrem langsame Entwicklung ihrer Produktivkräfte und die ausgesprochen konservative Weltsicht. Es handelte sich um ein sehr statisches Gesellschaftsmodell. Die einzigen Veränderungen vollzogen sich als Ergebnis regelmäßiger Invasionen, zum Beispiel durch nomadische Barbaren (den Mongolen) oder gelegentliche Bauernaufstände (China), die zum Wechsel der Dynastie führten.
Die Ersetzung einer Dynastie durch eine andere bedeutete jedoch keine wirkliche Veränderung. Die sozialen Beziehungen und der Staat blieben durch den Wechsel an der Spitze unberührt. Das Endergebnis war immer das Gleiche. Die Eindringlinge wurden von der Gesellschaft aufgesogen und das System lief ungestört weiter wie zuvor.
Imperien stiegen auf und fielen. Es gab einen ständigen Prozess von Zusammenschlüssen und Teilungen. Aber trotz all dieser politischen und militärischen Verschiebungen veränderte sich für die Bauern am unteren Ende der Gesellschaft nichts. Das Leben schritt mit scheinbar ewiger (und Gott gegebener) Routine voran. Die asiatische Vorstellung von einem ewigen Kreislauf in der Religion ist eine Widerspiegelung ihrer Umstände. Unten hatten wir die alte Dorfgemeinschaft auf Grundlage einer Subsistenzwirtschaft, die nahezu unverändert Jahrtausende überlebte. Da sie vorwiegend agrarisch war, wird der Lebensrhythmus der Menschen vom ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, etwa den jährlichen Nilüberflutungen, bestimmt.
In den letzten Jahren gab es in gewissen intellektuellen und pseudomarxistischen Zirkeln viel Aufhebens um die asiatische Produktionsweise. Aber obwohl Marx sie erwähnte, geschah das nicht sehr oft und dann nur als Randbemerkung. Er entwickelte sie nie weiter, was er mit Sicherheit getan hätte, wenn er sie für bedeutend gehalten hätte. Der Grund dafür war, dass sie eine historische Sackgasse war, vergleichbar mit den Neandertalern in der menschlichen Evolution. Es handelte sich um eine Gesellschaftsform, die trotz ihrer Errungenschaften, letztlich nicht den Samen zukünftiger Entwicklung in sich trug. Dieser wurde woanders gepflanzt, nämlich auf dem Boden von Griechenland und Rom.
Sklavenhaltergesellschaft
Die griechische Gesellschaft wurde unter anderen Bedingungen geschaffen als die früheren Zivilisationen. Den kleinen griechischen Stadtstaaten fehlten die großen Flächen für kultivierbares Land, die großen Nilebenen, das Indus-Tal oder Mesopotamien. Sie waren umgeben von unfruchtbaren Gebirgszügen mit Zugang zum Meer. Diese Umstände bestimmten den gesamten Kurs ihrer Entwicklung. Da das Land für Landwirtschaft und Industrie ungeeignet war, wurden sie aufs Meer gedrängt und Griechenland wurde eine Handelsnation und Vermittler, wie vor ihnen die Phönizier.
Das antike Griechenland hat eine andere sozioökonomische Struktur und somit ein anderes Temperament und eine andere Weltsicht als die früheren Gesellschaften Ägyptens und Mesopotamiens. Hegel schreibt, dass im Osten der herrschende Geist die Freiheit des Einen (des Königs, Gottkönigs) bedeutete, aber in Griechenland die Freiheit der Vielen, d. h. die Freiheit der Bürger Athens, die keine Sklaven waren. Die Sklaven jedoch, welche die meiste Arbeit verrichteten, hatten überhaupt keine Rechte, ebenso wenig die Frauen und Ausländer.
Für die freien Bürger war Athen eine ausgesprochen fortschrittliche Demokratie. Dieser neue Geist, durchdrungen von Menschlichkeit und Humanismus, wirkte sich auf die griechische Kunst, Religion und Philosophie aus, die sich qualitativ von der in Ägypten und Mesopotamien unterschied. Als Athen ganz Griechenland beherrschte, hatte die Stadt weder eine Staatskassa noch ein regelmäßiges Steuersystem. Damit unterschied sie sich gänzlich vom asiatischen System in Persien und anderen frühen Hochkulturen. Aber alles basierte letztendlich auf Arbeit der Sklaven, die Privateigentum waren.
Die Haupttrennlinie bestand zwischen freien Männern und Sklaven. Die freien Bürger zahlten normalerweise keine Steuern, was, genau wie die Handarbeit, als erniedrigend angesehen wurde. Trotzdem gab es in der griechischen Gesellschaft einen erbitterten Klassenkampf, der durch eine scharfe Trennung auf Grundlage des Eigentums zwischen den Klassen gekennzeichnet war. Die Sklaven, die als bewegliches Gut ge- und verkauft werden konnten, waren Produktionsobjekte. Das römische Wort für Sklave war instrumentum vocale, ein „Werkzeug mit Stimme“. Trotz aller Veränderungen der letzten 2000 Jahre hat sich die tatsächliche Lage der modernen LohnsklavInnen seit damals nicht grundlegend geändert. Man könnte einwenden, dass Griechenland und Rom auf Sklaverei beruhten, einer abscheulichen und unmenschlichen Einrichtung. Aber MarxistInnen betrachten die Geschichte nicht aus moralischer Sicht. Abgesehen von allem anderen gibt es nicht so etwas wie eine „überhistorische Moral“. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Moral, Religion, Kultur usw., welche einem bestimmten Entwicklungsniveau entsprechen und zumindest im Zeitalter, das wir Zivilisation nennen, auch den Interessen einer bestimmten Klasse.
Ob ein bestimmter Krieg, gut, schlecht oder gleichgültig war, kann nicht anhand der Opfer festgestellt werden und noch weniger ausgehend von einem abstrakt moralischen Standpunkt. Wir mögen Kriege im Allgemeinen ablehnen, aber eines können wir nicht leugnen: Im gesamten Verlauf der menschlichen Geschichte sind alle schwierigen Fragen letztendlich durch Krieg gelöst worden. Das gilt sowohl für Konflikte zwischen Nationen (Kriege), aber auch für Klassenkonflikte (Revolutionen).
Unsere Haltung gegenüber einer speziellen Gesellschaftsform und deren Kultur kann nicht durch moralische Überlegungen bestimmt werden. Ob eine sozio-ökonomische Gesellschaftsform progressiv ist oder nicht, ist zuallererst von deren Fähigkeit zur Entwicklung der Produktivkräfte abhängig – der realen materiellen Basis, auf welcher die gesamte menschliche Kultur sich erhebt und entwickelt.
Der brillante, tiefgründige Denker Hegel schreibt: „Es ist die Menschheit nicht sowohl aus der Knechtschaft befreit worden, als vielmehr durch die Knechtschaft.“ Trotz ihres monströsen repressiven Charakters war die Sklavenhaltergesellschaft ein Schritt vorwärts, da sie die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft ermöglichte. Wir verdanken Griechenland und Rom all die wundervollen Errungenschaften der modernen Wissenschaften, oder genauer gesagt verdanken wir diese letztlich der Arbeit der Sklaven.
Die Römer wandten brutale Gewalt bei der Unterjochung anderer Völker an, verkauften ganze Städte in die Sklaverei, töteten tausende Kriegsgefangene zum Vergnügen bei öffentlichen Zirkusveranstaltungen und führten so kultivierte Hinrichtungsmethoden wie die Kreuzigung ein. All das stimmt, und für uns scheint dies eine monströse Fehlentwicklung gewesen zu sein. Aber wenn wir darüber nachdenken, woher unsere moderne Zivilisation, unsere Kultur, unsere Literatur, unsere Architektur, unsere Medizin, unsere Philosophie und in vielen Fällen unsere Sprache ihre Wurzeln haben, lautet die Antwort: Aus Griechenland und Rom.
Der Niedergang der Sklavenhaltergesellschaft
Die Sklavenhaltergesellschaft enthält einen inneren Widerspruch, der zu ihrer Zerstörung führte. Obwohl die Arbeit des einzelnen Sklaven aufgrund des Arbeitszwangs nicht besonders produktiv war, so produzierten große Mengen an Sklaven dennoch einen beträchtlichen Überschuss, beispielsweise in den Bergwerken und auf den Latifundien (große Landgüter) in der letzten Periode der Römischen Republik und dem Imperium. Auf dem Höhepunkt des Imperiums gab es reichlich Sklaven, und diese waren billig, da die Kriege Roms in erster Linie großangelegte Sklavenjagden waren.
Aber ab einem gewissen Stadium erreichte dieses System seine Grenzen und trat in eine lange Periode des Niedergangs ein. Da Sklavenarbeit nur produktiv ist, wenn sie massenhaft angewandt wird, ist die Grundvoraussetzung für ihren Erfolg eine reichliche Versorgung mit billigen Sklaven. Aber Sklaven vermehren sich in der Gefangenschaft nur sehr langsam, und so konnte die ausreichende Versorgung mit Sklaven nur durch ständige Kriege garantiert werden. Als das Imperium die Grenzen seiner Expansion unter Hadrian erreicht hatte, wurde das immer schwieriger.
Der Beginn einer Krise kann in Rom bereits im letzten Zeitraum der Republik beobachtet werden, einer Periode, die durch intensive soziale und politische Erhebungen und Klassenkrieg gekennzeichnet ist. Von Beginn an gab es in Rom einen brutalen Kampf zwischen Arm und Reich. Es gibt detaillierte Aufzeichnungen in den Schriften von Livius und anderen über die Kämpfe zwischen Plebejern und Patriziern, die mit einem faulen Kompromiss endeten. Später, als Rom nach dem Sieg über seinen größten Rivalen Karthargo bereits den Mittelmeerraum beherrschte, beobachten wir, was im Grund ein Kampf um die Aufteilung der Beute war. Tiberius Gracchus forderte, dass der Wohlstand von Rom unter seinen freien Bürgern aufgeteilt werden sollte. Sein Ziel war es, aus Italien eine Republik kleiner Bauern, und nicht von Sklaven, zu machen, aber er wurde von den Adeligen und Sklavenhaltern besiegt. Langfristig war das für Rom katastrophal. Die arme Bauernschaft – das Rückgrat der Republik – zog nach Rom, wo sie ein Lumpenproletariat bildete, eine nichtproduktive Klasse, die von staatlicher Unterstützung lebte. Obwohl sie große Verbitterung gegenüber den Reichen empfangen, zeigten sie trotzdem ein gemeinsames Interesse an der Ausbeutung der Sklaven – der einzigen produktiven Klasse im Zeitalter der Republik und des Römischen Weltreichs.
Der große Sklavenaufstand unter Spartacus war eine glorreiche Episode in der Geschichte der Antike. Dass diese unterdrückten Menschen sich mit Waffen in der Hand erhoben und den Armeen der weltgrößten Macht eine Niederlage nach der anderen zufügten, ist eines der unglaublichsten Ereignisse in der Geschichte. Wenn der Aufstand erfolgreich gewesen wäre und sie den römischen Staat gestürzt hätten, wäre der Verlauf der Geschichte ein ganz anderer gewesen.
Der Hauptgrund für Spartacus‘ Scheitern lag schließlich in der Tatsache begründet, dass die Sklaven sich nicht mit dem Proletariat in den Städten verbündeten. Solange letztere den Staat weiter unterstützen, war der Sieg der Sklaven nicht möglich. Das römische Proletariat war, anders als das moderne Proletariat, keine produktive Klasse, sondern eine rein parasitäre, die von der Arbeit der Sklaven lebte und von ihren Herren abhängig war. Darin beruht das Scheitern der römischen Revolution.
Die Niederlage der Sklaven führte zum Ruin des römischen Staates. Da es keine freie Bauernschaft gab, war der Staat bei der Kriegsführung auf eine Söldnerarmee angewiesen. Diese Pattsituation im Klassenkampf brachte ein Phänomen hervor, das dem des modernen Bonapartismus ähnlich ist. Dessen römisches Äquivalent wird als Cäsarismus bezeichnet.
Der römische Legionär verhielt sich nicht länger loyal gegenüber dem Staat, sondern gegenüber seinem Kommandanten, der seinen Sold zahlte, seine Beute und sein Stück Land nach seinem Ausscheiden aus der Armee garantierte. Der letzte Zeitabschnitt der Republik ist gekennzeichnet durch einen zunehmenden Klassenkampf, bei dem keine Seite in der Lage ist, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Als Folge begann der Staat (den Engels als „besondere Formation bewaffneter Menschen“ beschrieb) eine wachsende Unabhängigkeit zu erlangen, sich über die Gesellschaft zu erheben und als letzte Entscheidungsinstanz bei den wachsenden Machtkämpfen in Rom zu erscheinen.
Eine ganze Reihe militärischer Abenteurer betreten die Bühne: Marius, Crassus, Pompeius und schließlich Julius Cäsar, ein brillanter General, ein kluger Politiker und ein ausgebuffter Geschäftsmann, der die Republik praktisch abschaffte, während er sie in Worten verteidigte. Er nutzte sein Ansehen, das durch seine militärischen Triumphe in Gallien, Spanien und Britannien gestiegen war, um alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Obwohl er durch eine konservative Fraktion, welche die Republik erhalten wollte, ermordet wurde, war das alte Regime dem Untergang geweiht.
Nachdem Brutus und die anderen durch das Triumvirat besiegt worden waren, wurde die Republik formal anerkannt und dieser Schein wurde durch den ersten Kaiser Augustus beibehalten. Der Titel Kaiser (Imperator im Lateinischen) ist ein militärischer Titel, um den Titel König, der in republikanischen Ohren eine Beleidigung war, zu vermeiden. Aber er war ein König, in allem, außer seinem Namen. Die Formen der alten Republik überlebten noch eine lange Zeit weiter. Aber sie bestand nur aus leeren Formen ohne wirklichen Inhalt, am Ende eine leere Hülse, die wie im Winde verweht werden konnte. Der Senat hatte keine wirkliche Macht und Autorität. Julius Cäsar hatte die respektable Öffentlichkeit schockiert, als er einen Gallier zum Senatsmitglied machte. Caligula ging noch weiter – er ernannte sein Pferd zum Senator. Niemand fand das falsch oder wenn doch, schwiegen sie.
Es passiert oft in der Geschichte, dass überholte Institutionen überleben können, lange nachdem ihre Existenzberechtigung verschwunden ist. Sie schleppen sich durchs Leben wie ein alter Mann, der sich ans Leben klammert, bis sie von einer Revolution weggefegt werden. Der Niedergang des Römischen Reiches dauerte beinahe vier Jahrhunderte. Es war kein ununterbrochener Prozess. Es gab Zeitabschnitte der Besserung und sogar der Brillanz, aber die generelle Tendenz zeigte nach unten.
In solchen Perioden verbreitet sich ein allgemeines Unbehaglichkeitsgefühl. Es herrscht eine Stimmung der Skepsis, Glaubensverlust und des Zukunftspessimismus vor. Die alten Traditionen, die alte Moral und Religion – Dinge, die wie guter Zement die Gesellschaft zusammenhalten – verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Anstelle der alten Religion suchen die Menschen nach neuen Göttern. In einer Periode des Niedergangs wurde Rom von einer Plage religiöser Sekten aus dem Osten überschwemmt. Das Christentum war nur eine davon, und obwohl es sich schließlich durchsetzte, musste es mit vielen Rivalen kämpfen, wie z. B. dem Mithraskult.
Wenn Menschen fühlen, dass die Welt, in der sie leben, ins Wanken gerät, dass sie die Kontrolle über ihre Existenz verlieren, dass ihr Leben und ihr Schicksal von unsichtbaren Kräften bestimmt wird, gewinnen mystische und irrationale Tendenzen die Oberhand. Die Menschen glauben, das Ende der Welt ist nahe. Die ersten Christen glaubten dies inbrünstig, viele andere vermuteten es. Tatsächlich ging nicht die Welt ihrem Ende entgegen, sondern eine besondere Gesellschaftsform – die Sklavenhaltergesellschaft. Der Erfolg des Christentums lag in der Tatsache begründet, dass es mit dieser herrschenden Stimmung in Einklang war. Die Welt war schlecht und sündhaft. Es war notwendig, sich von der Welt und all ihren irdischen Dingen abzuwenden und sich auf das Leben nach dem Tod zu freuen.
Warum die Barbaren triumphierten
Als die Barbaren eindrangen, befand sich die gesamte Struktur des Römischen Reiches am Rande des Zusammenbruchs, nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch und spirituell. Es war kein Wunder, dass die Barbaren von den Sklaven und den ärmeren Schichten der Gesellschaft als Befreier begrüßt wurden. Sie brachten nur ein Werk zu Ende, das bereits gut vorbereitet worden war. Die Angriffe der Barbaren waren ein Zufall der Geschichte, der dazu diente, eine historische Notwendigkeit umzusetzen.
Sobald das Imperium seine Grenzen erreichte, begannen sich die der Sklaverei innewohnenden Widersprüche durchzusetzen. Rom trat in eine lange Phase des Niedergangs, der Jahrhunderte dauerte, bis es schließlich von den Barbaren überrannt wurde. Völkerwanderung, was auch den Zusammenbruch des Imperiums bewirkte, war ein allgemeines Phänomen unter nomadischen Hirtenvölkern in der Antike und geschah aus verschiedenen Gründen, z. B. Mangel an Weideland aufgrund der wachsenden Bevölkerung, Klimaveränderungen usw. Aufeinander folgende Wellen von Barbaren rauschten aus dem Osten: Goten, Westgoten, Ostgoten, Alanen, Lombarden, Sueven, Alemannen, Burgunder, Franken, Thüringer, Friesen, Heruli, Gepiden, Angeln, Saxen, Jüten, Hunnen und Magyaren drängten nach Europa. Das allmächtige und ewige Imperium wurde in Asche verwandelt. Das römische Weltreich zerfiel mit bemerkenswerter Geschwindigkeit unter den Hammerschlägen der Barbaren.
Der Zerfall der Sklavenwirtschaft, die monströse repressive Natur des Imperiums mit seiner aufgeblähten Bürokratie und den räuberischen Steuerpächtern untergrub bereits das gesamte System. Es gab eine ständige Landflucht, wo die Grundlage für die Entwicklung einer anderen Produktionsweise – des Feudalismus – im Entstehen begriffen war. Das gesamte Bauwerk war ins Wanken geraten und die Barbaren gaben dem verrotteten und erstarrten System nur noch den Gnadenstoß. Im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels:
„Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Marx, MEW Bd. 4, S. 260, Hervorhebung durch AW)
Was mit dem römischen Weltreich geschah, ist ein eindrucksvoller Beweis für die letztgenannte Variante. Das Versagen der unterdrückten Klassen der römischen Gesellschaft, sich zusammenzuschließen und den brutalen und ausbeuterischen Sklavenstaat zu stürzen, führte zu einer inneren Erschöpfung und einer schmerzhaften Periode des sozialen, ökonomischen und kulturellen Zerfalls, der den Weg für die Barbaren frei machte.
Die unmittelbare Auswirkung des barbarischen Angriffs war die Vernichtung der Zivilisation und ein Zurückwerfen der Gesellschaft und der menschlichen Denkweise, die eintausend Jahre dauerte. Die Entwicklung der Produktivkräfte erlebte eine heftige Unterbrechung. Die Städte wurden zerstört oder verlassen. Die Eindringlinge waren agrarische Völker, die nichts mit Klein- und Großstädten anfingen. Die Barbaren verhielten sich den Städten und ihren Einwohnern gegenüber feindlich (eine Psychologie, die unter Bauern zu allen Zeiten durchaus üblich ist). Dieser Prozess der Zerstörung, Vergewaltigung und Plünderung setzte sich über Jahrhunderte fort und hinterließ ein schreckliches Erbe der Rückständigkeit, wir nennen es das Dunkle Zeitalter.
Obwohl die Barbaren Rom erfolgreich eroberten, wurden sie ziemlich schnell absorbiert, verloren sogar ihre eigenen Sprachen und sprachen am Ende einen lateinischen Dialekt. So waren die Franken, die dem modernen Frankreich ihren Namen gaben, ein germanischer Stamm, der eine Sprache sprach, die mit dem modernen Deutsch verwandt ist. Das Gleiche geschah mit germanischen Stämmen, die in Spanien und Italien einfielen. Wenn ein ökonomisch und kulturell rückständigeres Land eine höher entwickelte Nation erobert, ist dies ein üblicher Vorgang. Das geschah auch später, als die mongolischen Horden Indien eroberten. Sie wurden von der fortschrittlicheren Hindu-Kultur integriert und gründeten schließlich eine neue indische Dynastie – das Mogulreich.
Einführung in den Historischen Materialismus – Teil 4
Im vierten Teil der Serie verfolgt Alan Woods die Geschichte des Feudalismus von seinem Aufstieg bis zu seinem unvermeidlichen Untergang im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen.
Feudalismus
Der Aufstieg des Feudalsystems folgte dem Zusammenbruch Roms und wurde von einem langen Zeitraum kultureller Stagnation im Europa nördlich der Pyrenäen begleitet. Es gab in über tausend Jahren, abgesehen vom Wasserrad und den Windmühlen, keine wirklichen Erfindungen. Eintausend Jahre nach dem Fall Roms verdienten nur die Straßen aus der Römerzeit diesen Namen. Mit anderen Worten, es gab eine vollständige Kulturfinsternis. Das war das Ergebnis des Zusammenbruchs der Produktivkräfte, von denen die Kultur letztlich abhängig ist. Wenn wir von einer absteigenden Linie in der Geschichte sprechen, ist das damit gemeint. Und niemand sollte glauben, dass so etwas nicht wieder geschehen kann.
Die Invasionen der Barbaren, Kriege und Seuchen hatten zur Folge, dass der Fortschritt durch Phasen der Rückentwicklung unterbrochen wurde. Aber schließlich wurden die chaotischen Zustände, die mit dem Fall Roms einhergingen, durch einen neuen Gleichgewichtszustand ersetzt: den Feudalismus. Der Niedergang des Römischen Reiches verursachte einen abrupten Rückgang des städtischen Lebens im größten Teil Europas. Die barbarischen Eindringlinge wurden allmählich integriert und im zehnten Jahrhundert begann in Europa langsam ein neues Zeitalter des Aufstiegs.
Diese Aussage hat nur einen relativen Charakter. Die Kultur erreichte vor dem Beginn der Renaissance im 14. und 15 Jahrhundert kein mit der Antike vergleichbares Niveau. Die Bildung und die Wissenschaften waren der Autorität der Kirche untergeordnet. Die Energie der Männer wurde entweder durch ständige Kriege oder mönchische Träume absorbiert, aber allmählich nahm die Talfahrt ein Ende und wurde durch eine lange Periode der Steigung abgelöst.
Die Schließung der Kommunikationswege führte zu einem Zusammenbruch des Handels. Die Geldwirtschaft wurde untergraben und zunehmend durch den Tauschhandel ersetzt. Anstelle der integrierten internationalen Wirtschaft unter dem römischen Imperium trat die Ausbreitung kleiner isolierter landwirtschaftlicher Gemeinschaften.
Die Grundlage für den Feudalismus wurde schon in der römischen Gesellschaft geschaffen, als die Sklaven befreit und zu Kolonen (Ackerpächtern) wurden, die an den Boden gebunden waren und später zu hörige Bauern wurden. Dieser Prozess, der zu verschiedenen Zeitpunkten ablief und in verschiedenen Ländern verschiedene Formen annahm, wurde durch die Eroberungen der Barbaren beschleunigt. Die germanischen Kriegsherren wurden in den eroberten Gebieten zu Fürsten, und sie boten deren Bewohnern militärischen Schutz und ein gewisses Maß an Sicherheit im Tausch für die Enteignung der Arbeit der Hörigen.
In der frühen Phase des Feudalismus ließ die Atomisierung des Adels ziemlich starke Monarchien zu, aber später standen der königlichen Macht starke adelige Landbesitzer gegenüber, die in der Lage waren, diese herauszufordern und zu stürzen. Die Fürsten hatten ihre eigenen feudalen Armeen, die oft gegeneinander, aber auch gegen den König ins Feld zogen.
Das Feudalsystem in Europa war in erster Linie ein dezentralisiertes System. Die Macht des Königs wurde durch die Aristokratie eingeschränkt. Die Zentralmacht war gewöhnlich schwach. Der Schwerpunkt der Macht des Feudalherrn, seine Machtbasis, waren sein Gutshof und sein Grundbesitz. Die Staatsmacht war schwach und es gab keine Bürokratie. Diese Schwäche der Zentralmacht erlaubte später die Unabhängigkeit der Städte (Stadtgründungsurkunden) und das Entstehen der Bourgeoisie als gesonderte Klasse.
Die romantische Idealisierung des Mittelalters basiert auf einem Mythos. Es war ein blutiges und von Erschütterungen geprägtes Zeitalter, das durch große Grausamkeit und Barbarismus gekennzeichnet war und von Marx und Engels als brutale Zurschaustellung von Stärke beschrieben wurde. Die Kreuzfahrer zeichneten sich durch außergewöhnliche Boshaftigkeit und Unmenschlichkeit aus. Die deutschen Invasionen in Italien waren nutzlose Manöver. Die letzte Phase des Mittelalters war eine turbulente Zeit, die von ständigen Erschütterungen, Kriegen und Bürgerkriegen geprägt war – genau wie unsere Zeit. In jeder Hinsicht war die alte Ordnung bereits tot. Obwohl sie sich immer noch trotzig auf den Beinen hielt, wurde ihre Existenz nicht länger als etwas Normales angesehen – etwas, das als unvermeidlich akzeptiert wurde.
Hundert Jahre lang führten England und Frankreich einen blutigen Krieg, der große Teile Frankreichs in Trümmer legte. Die Schlacht von Azincourt war die letzte und grausamste Schlacht im Mittelalter. Hier standen sich im Kern zwei rivalisierende Systeme auf dem Schlachtfeld gegenüber: Die alte feudale Militärordnung, die auf dem Adel und der Vorstellung von Ritterlichkeit und Dienstbarkeit basierte, traf auf eine Söldnerarmee auf der Grundlage von Lohnarbeit.
Der französische Adel wurde geschwächt und auf beschämende Weise von einer Söldnerarmee, die aus Bürgerlichen bestand, besiegt. In den ersten 90 Minuten wurden 8000 Abkömmlinge der französischen Aristokratie getötet und 1200 gefangen genommen. Am Ende lag nicht nur der gesamte französische Adel blutend am Boden, sondern auch die Feudalordnung selbst. Das hatte bedeutende soziale und politische Auswirkungen. Von diesem Moment an begann die Machtausübung des französischen Adels nachzulassen. Die Engländer wurden durch einen Volksaufstand, der von dem Bauernmädchen Jeanne d’Arc angeführt wurde, aus Frankreich vertrieben. Mitten in den Trümmern ihres Lebens, dem Chaos und dem Blutvergießen wurde sich das französische Volk seiner nationalen Identität bewusst und handelte entsprechend. Das Bürgertum begann, seine Rechte und eine Verfassung zu fordern und eine neue zentrale Monarchie, die sich auf das Bürgertum und das Volk stützte, fing an, die Zügel der Macht zu ergreifen, indem sie einen Nationalstaat schuf, aus dem das moderne Frankreich schließlich hervorging.
Der Schwarze Tod
Wenn ein bestimmtes sozioökonomisches System in die Krise und den Niedergang gerät, widerspiegelt sich das nicht nur in der Stagnation der Produktivkräfte, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft. Der Niedergang des Feudalismus war eine Epoche, in der das intellektuelle Leben tot war oder im Sterben lag. Der Würgegriff der Kirche lähmte alle kulturellen und wissenschaftlichen Initiativen. Die Feudalstruktur basierte auf einer Pyramide, in der Gott und der König an der Spitze einer vielschichtigen Hierarchie standen, in der jedes Teil mit dem anderen durch so genannte Pflichten verknüpft war. In der Theorie „schützten“ die Feudalherren die Bauern, die sie als Gegenleistung mit Nahrungsmitteln und Kleidung versorgten, sie fütterten und ihnen ein Leben in Luxus und Müßiggang erlaubten; die Priester beteten für ihre Seelen; die Ritter verteidigten sie usw.
Dieses System bestand eine lange Zeit. In Europa währte es eintausend Jahre, von Mitte des fünften bis zu Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber spätestens im 13. Jahrhundert erreichte der Feudalismus in England und anderen Ländern seine Grenzen. Das Bevölkerungswachstum belastete das gesamte System. Knappes Land musste kultiviert werden und große Teile der Bevölkerung mussten sich am Rande des Vegetierens auf kleinen Landflächen ihren Lebensunterhalt mühsam verdienen. Es war eine Situation “am Rande des Chaos”, in der das gesamte schlecht fundierte Bauwerk durch einen ausreichend starken Schock zum Zusammensturz gebracht werden konnte. Und welcher Schock hätte größer sein können als dieser? Die Verwüstung durch den Schwarzen Tod, der zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung Europas tötete, diente dazu, die Ungerechtigkeit, das Elend, die Ignoranz und die spirituelle Dunkelheit des 14. Jahrhunderts deutlich vor Augen zu führen.
Es wird heute allgemein akzeptiert, dass der Schwarze Tod eine wichtige Rolle bei der Untergrabung des Feudalismus spielte. Das trifft besonders auf England zu. Nachdem die Pest bereits die Hälfte der europäischen Bevölkerung getötet hatte, griff sie im Sommer 1348 auf England über. Die Pest breitete sich landeinwärts auf die Dörfer der ländlichen Gebiete Englands aus und raffte dabei die Bevölkerung hin. Ganze Familien und manchmal ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Wie auf dem europäischen Festland kam auch hier die Hälfte der Bevölkerung ums Leben. Diejenigen, denen es gelang zu überleben, fanden sich oft im Besitz eines ziemlich großen Landbesitzes wieder. Eine neue Klasse reicher Bauern wurde so geschaffen.
Der enorme Verlust an Menschenleben führte zu einem extremen Arbeitskräftemangel. Es gab einfach nicht genug Arbeitskräfte, welche die Ernte einbrachten oder Handwerker, welche die notwendigen Tätigkeiten ausführen konnten. Dies schuf die Grundlage für eine tiefgreifende soziale Transformation. Die Bauern wurden sich ihrer Stärke bewusst und forderten höhere Löhne und geringere Pachtgebühren, und setzten sich auch durch. Wenn der Feudalherr sich weigerte, die Forderungen zu erfüllen, konnten sie ihn verlassen und zu einem anderen Herren gehen, der bereit war, diese umzusetzen. Manche Dörfer wurden gänzlich verlassen.
Die alten Fesseln wurden zuerst gelockert und dann gelöst. Als die Bauern das Joch der Feudalverpflichtungen abwarfen, strömten viele von ihnen in die Städte, um dort ihr Glück zu suchen. Das führte wiederum zu einer weiteren Entwicklung der Städte und brachte den Aufstieg der Bourgeoisie voran. 1349 verabschiedete König Edward III das wahrscheinlich erste Gesetz zur Lohnpolitik, das Statut der Arbeiter. Dieses verfügte, dass die Löhne auf dem alten Niveau bleiben mussten. Aber das Gesetz war von Anbeginn eine Totgeburt. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage waren bereits stärker als jedes königliche Dekret. Überall entstand ein neuer rebellischer Geist. Die alte Autorität war bereits untergraben und diskreditiert. Das ganze verrottete Bauwerk wankte und war kurz vor dem Zusammenbruch. Ein guter Stoß, so schien es, würde es erledigen. In Frankreich kam es zu einer Reihe von Bauernaufständen, den Jacqueries. Noch schwerwiegender waren die Bauernaufstände in England 1381, als die Rebellen London zeitweise besetzten und den König in ihre Gewalt brachten. Aber letzten Endes konnten die Erhebungen nicht erfolgreich sein.
Diese Aufstände waren einfach eine unausgereifte Vorwegnahme der bürgerlichen Revolution zu einem Zeitpunkt, an dem die Bedingungen noch nicht vollständig ausgereift waren. Sie waren ein Ausdruck der Sackgasse des Feudalismus und der tiefen Unzufriedenheit der Massen. Aber sie konnten keinen Ausweg aufzeigen. Als Folge überlebte das Feudalsystem, obwohl es sich wesentlich verändert hatte, für eine Zeit und trug dabei alle Symptome einer kranken und zum Niedergang verdammten sozialen Ordnung.
Das Gefühl, dass das Ende der Welt nahe ist, ist typisch für jede historische Periode, in der ein bestimmtes sozioökonomisches System in die Phase des unumkehrbaren Niedergangs eintritt. Das war der Zeitraum, in dem sich eine große Anzahl bloßfüßiger und in Lumpen gekleideter Männer auf die Straßen begab, die sich selbst auspeitschten, bis sie bluteten. Die Flagellanten-Sekten erwarteten das Ende der Welt, dessen Kommen sie stündlich erwarteten.
Am Ende trat nicht das Ende der Welt ein, sondern nur das Ende des Feudalismus, und es kam nicht Jesu Wiederkunft, sondern nur das kapitalistische System. Aber man konnte nicht erwarten, dass sie das verstanden. Eins war allen klar: Die alte Welt befand sich in einem Zustand des schnellen und unabänderlichen Zerfalls. Menschen wurden durch die widersprüchlichen Tendenzen innerlich zerrissen. Ihr Glaube wurde erschüttert, und sie wurden in einer kalten, inhumanen, feindlichen und unverständlichen Welt orientierungslos dahingetrieben.
Der Aufstieg der Bourgeoisie
Als alle alten Gewissheiten über Bord geworfen worden waren, war es, als ob der Dreh- und Angelpunkt der Welt entfernt worden wäre. Das Ergebnis war eine beängstigende Unruhe und Ungewissheit. Spätestens Mitte des 15. Jahrhunderts begann das alte Glaubenssystem ins Wanken zu geraten. Die Leute orientierten sich nicht länger auf die Kirche, um Erlösung, Hilfe und Trost zu erhalten. Stattdessen kam es zu religiösen Streitigkeiten, die in vielfältiger Form auftraten und als Tarnung für eine soziale und politische Opposition dienten. Bauern widersetzten sich den alten Gesetzen und Vorschriften, forderten Bewegungsfreiheit und setzten diese durch, indem sie ohne Genehmigung in die Städte zogen. Zeitgenössische Chroniken berichten von die Verärgerung der Gebieter über den Widerwillen der Arbeiter, Befehle anzunehmen. Es gab sogar einige Streiks.
Inmitten der Dunkelheit regten sich neue Kräfte, welche die Geburt einer neuen Macht und einer neuen Zivilisation ankündigten, die im Schoß der alten Gesellschaft allmählich heranwuchs. Der Aufstieg des Handels und der Städte brachte eine neue aufstrebende Klasse mit sich, die Bourgeoisie, die mit der herrschenden feudalen Klasse, dem Adel und der Kirche, um Positionen und Macht kämpfte. Die Geburt einer neuen Gesellschaft kündigte sich in der Kunst und Literatur an, wo im Lauf der nächsten hundert Jahre neue Strömungen auftraten.
Eigentlich war die alte Ordnung schon gestorben, aber sie hielt sich noch trotzig auf den Beinen, obwohl ihre Existenz nicht länger als etwas Normales angesehen wurde, etwas, das als unvermeidlich akzeptiert wurde. Die allgemeine Vorstellung (oder vielmehr das Gefühl), dass das Ende der Welt herannahte, war nicht vollkommen falsch. Es war nur nicht das Ende der Welt, sondern das Ende des Feudalsystems.
Der Aufstieg der Städte, jener kapitalistischen Inseln im Meer des Feudalismus, untergrub allmählich die alte Ordnung. Die neue Geldwirtschaft, die an den Rändern der Gesellschaft auftrat, nagte an den Fundamenten der Feudalwirtschaft. Die alten feudalen Einschränkungen wurden jetzt zu untragbaren Zumutungen und unerträglichen Hindernissen für den Fortschritt. Sie mussten zerschmettert werden, und sie wurden zerschmettert. Aber der Sieg der Bourgeoisie kam nicht mit einem Mal. Viel Zeit musste vergehen, um den endgültigen Sieg über die alte Ordnung zu erringen. Nur allmählich tauchte wieder ein neuer Lebensfunke in den Städten auf.
Die langsame Erholung des Handels führte zum Aufstieg der Bourgeoisie und zu einer Belebung der Städte, vor allem in Flandern, Holland und Norditalien. Neue Ideen tauchten auf. Nach dem Fall Konstantinopels vor den Türken (1453) entstand ein neues Interesse an den Ideen und der Kunst der klassischen Antike. Neue Kunstformen traten in Italien und den Niederlanden in Erscheinung. Boccaccios „Dekamerone“ kann als erster moderner Roman angesehen werden. In England sind die Schriften von Chaucer voller Leben und Farbe und widerspiegeln einen neuen Geist in der Kunst. Die Renaissance machte ihre ersten vorsichtigen Schritte. Allmählich entstand aus dem Chaos eine neue Ordnung.
Die Reformation
Im 14. Jahrhundert hatte sich der Kapitalismus in Europa etabliert. Die Niederlande wurden die Produktionsstätte Europas, und der Handel florierte entlang des Rheins. Die Städte Norditaliens, die den Handelsverkehr mit Byzanz und dem Osten eröffneten, wurden zu einer Lokomotive für das wirtschaftliche Wachstum und den Handel. Etwa vom 5. bis zum 12. Jahrhundert bestand Europa aus voneinander isolierten Ökonomien. Das änderte sich. Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung des Kaps und die allgemeine Ausweitung des Handels gaben nicht nur der Schaffung von Wohlstand, sondern auch der Entwicklung des menschlichen Denkens einen frischen Impuls. Unter solchen Bedingungen war die alte intellektuelle Stagnation nicht länger möglich. Den Konservativen und Reaktionären wurde der Boden unter den Füßen weggezogen, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest erklärten:
„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ (MEW, Bd. 4, S. 463)
Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg der Bourgeoisie in Italien, Holland, England und später in Frankreich von einer außergewöhnlichen Blütezeit der Kultur, der Kunst und Wissenschaft begleitet wurde. Die Revolution ist, wie Trotzki einst sagte, immer die treibende Kraft in der Geschichte gewesen. In den Ländern, in denen die bürgerliche Revolution im 17. und 18. Jahrhundert triumphierte, wurde die Entwicklung der Produktivkräfte durch eine gleichzeitig stattfindende Entwicklung der Wissenschaft und der Philosophie, welche die ideologische Vorherrschaft der Kirche für immer untergrub, ergänzt. Im Zeitalter des Aufstiegs der Bourgeoisie, als der Kapitalismus noch eine progressive Kraft in der Geschichte darstellte, mussten die ersten Ideologen dieser Klasse einen schweren Kampf gegen die ideologischen Bastionen des Feudalismus, angefangen bei der katholischen Kirche, führen. Lange bevor sie die Macht der feudalen Grundherren zerstörte, musste die Bourgeoisie die philosophischen und religiösen Schutzmauern einreißen, die errichtet worden waren, um das Feudalsystem rundum die Kirche und deren militanten Arm, die Inquisition, zu schützen. Diese Revolution wurde durch die Revolte Martin Luthers gegen die Autorität der Kirche antizipiert.
Während des 14. und 15. Jahrhunderts fand in Deutschland eine Bewegung weg von einer gänzlich agrarischen Wirtschaft hin zu einer neuen sozialen Ordnung statt, die mit der traditionellen feudalen Hierarchie in Konflikt geriet. Luthers Angriffe auf die römisch-katholische Kirche dienten als Funke, um die Revolution zu entfachen. Die Bürger und niedrigen Adeligen versuchten, mit der Macht der Kirche zu brechen, den Klauen Roms zu entkommen und sich nicht zuletzt durch die Beschlagnahme des Kirchenbesitzes zu bereichern.
Aber in den Tiefen der Feudalgesellschaft regten sich noch grundlegendere Gewalten. Als Luthers Appelle gegen den Klerus und seine Anschauungen über die christliche Freiheit die Ohren der deutschen Bauern erreichten, wurden diese zu einem Motor der unterdrückten Wut der Massen, die lange die Unterdrückung durch die Feudalherren stillschweigend ertragen hatten. Nun erhoben sie sich, um sich an ihren Unterdrückern zu rächen.
Nach dem Beginn des Bauernkrieges 1524 weitete er sich 1525 auf die deutschen Regionen im Heiligen Römischen Reich aus, bis er 1526 niedergeschlagen wurde. Was danach geschah, hat sich in der nachfolgenden Geschichte oft wiederholt. Als Luther mit den Folgen seiner revolutionären Ideen konfrontiert wurde, musste er Partei ergreifen, und er schloss sich den Bürgern, dem Adel und den Fürsten bei der Niederschlagung der Bauern an. In der Person von Thomas Müntzer fanden die Bauern einen besseren Führer. Während Luther den friedlichen Widerstand predigte, griff Thomas Müntzer die Priesterschaft in leidenschaftlichen Predigten an und forderte die Menschen auf, sich mit Waffen in der Hand zu erheben. Wie Luther zitierte er die Bibel, um seine Handlungen zu rechtfertigen: „Sagte nicht Christus ‚Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert‘?“ Der radikalste Flügel der Bewegung waren die Wiedertäufer, die schon begannen, das Privateigentum in Frage zu stellen und den primitiven Kommunismus der frühen Christen als Vorbild wählten, wie er in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Müntzer hielt daran fest, dass die Bibel nicht unfehlbar sei und der Heilige Geist Wege habe, durch die Gabe der Vernunft direkt zu kommunizieren. Luther war entsetzt und schrieb das berüchtigte Pamphlet „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Der Aufstand wurde mit unbeschreiblich barbarischen Mitteln niedergeschlagen und Deutschland um Jahrhunderte zurückgeworfen. Aber die Welle der bürgerlichen Revolten, die sich im Aufstieg des Protestantismus widerspiegelten, war jetzt nicht mehr aufzuhalten.
Die Länder, in denen die reaktionären Vertreter der Feudalordnung den Embryo der neuen Gesellschaft vor der Geburt unterdrückten, waren zum Albtraum eines langen Zeitraums der Degeneration, des Niedergangs und des Zerfalls verurteilt. Spanien ist in dieser Hinsicht das anschaulichste Beispiel.
Die bürgerliche Revolution
Die erste bürgerliche Revolution fand in Form eines nationalen Aufstands der Niederlande gegen die Unterdrückungsherrschaft durch das katholische Spanien statt. Um den Aufstand siegreich zu beenden, stützten sich die wohlhabenden niederländischen Bürger auf die Besitzlosen, jene mutigen Desperados, die man hauptsächlich aus den ärmsten Schichten der Gesellschaft rekrutierte. Die Schlagtruppen der niederländischen Revolution wurden von ihren Feinden verächtlich als Seebettler bezeichnet.
Diese Beschreibung ist nicht vollständig falsch. Es handelte sich um arme Handwerker, Arbeiter, Fischer, Obdachlose und enteignete Menschen, die sämtlich als Abschaum der Gesellschaft betrachtet wurden, aber durch den calvinistischen Fanatismus angefeuert, fügten sie den Armeen des mächtigen Spaniens eine Niederlage nach der anderen zu. Damit wurde die Grundlage für den Aufstieg der Niederländischen Republik und einem modernen, wohlhabenden Hollands geschaffen.
Die nächste Episode in der bürgerlichen Revolution war sogar noch bedeutender und hatte weitreichendere Folgen. Die Englische Revolution im 17. Jahrhundert nahm die Form eines Bürgerkrieges an. Sie äußerte sich als Doppelmacht: der königlichen Macht, gestützt auf die privilegierten Klassen oder die oberen Kreise dieser Klassen, die Aristokraten und Bischöfe, die in Oxford beheimatet waren, standen die Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und die plebejischen Massen, die in der Londoner Gegend ansässig waren, gegenüber. Die Englische Revolution war erst erfolgreich, als Oliver Cromwell, der sich auf die radikalsten Kräfte stützte, d. h. die bewaffneten Plebejer, die Bourgeoisie beiseite fegte und einen revolutionären Krieg gegen die Royalisten führte. Als Folge davon wurde der König gefangen genommen und hingerichtet. Der Konflikt endete mit der Säuberung des Parlaments und der Diktatur Cromwells. Die unteren Ränge der Armee unter der Führung der Levellers – dem extrem linken Flügel der Revolution – versuchten die Revolution weiterzuführen und stellten das Privateigentum in Frage, wurden aber von Cromwell vernichtend geschlagen. Der Grund für diese Niederlage liegt in den objektiven Bedingungen dieser Zeit. Die Industrie war noch nicht bis zu einem Punkt entwickelt, dass sie die Grundlage für den Sozialismus schaffen konnte.
Das Proletariat befand sich in einem embryonalen Entwicklungsstadium. Die Levellers selbst vertraten die unteren Gruppen des Kleinbürgertums und waren deshalb, trotz ihres Heldenmuts, nicht in der Lage, ihren eigenen, individuellen historischen Weg zu ebnen. Nach Cromwells Tod schloss die Bourgeoisie einen Kompromiss mit Charles II, der es ihr ermöglichte, die reale Macht zu besitzen, aber dabei die Monarchie als Bollwerk gegen zukünftige Revolutionen gegen das Privateigentum zu erhalten.
Die Amerikanische Revolution, welche die Form eines Krieges für die nationale Unabhängigkeit annahm, war nur in dem Maße erfolgreich, als dass sie die Masse der armen Bauern einbezog, die einen erfolgreichen Guerillakrieg gegen König George von England führten.
Die Französische Revolution von 1789-1793 fand auf einem weitaus höheren Niveau als die Englische Revolution statt. Sie war eine der größten Ereignisse in der menschlichen Geschichte. Sogar heute ist sie noch eine endlose Quelle der Inspiration. Während Cromwell unter dem Banner der Religion kämpfte, erhob die französische Bourgeoisie die Flagge der Vernunft. Schon bevor sie die gewaltigen Mauern der Bastille zum Einsturz brachte, hatte sie die unsichtbaren, aber nicht weniger gewaltigen, Mauern der Kirche und der Religion zu Fall gebracht.
In jeder Phase war die aktive Beteiligung der Massen die treibende Kraft, welche die Französische Revolution vorantrieb und alle Hindernisse aus dem Weg räumte. Und als die aktive Beteiligung der Massen zurückging, kam die Revolution zum Halten und ging in die entgegengesetzte Richtung. Das führte direkt in die Reaktion, zuerst als thermidorische und später als bonapartistische Variante.
Die Gegner der Französischen Revolution versuchen immer wieder, diese mit Vorwürfen von Gewalt und Blutvergießen in ein schlechtes Licht zu rücken. In Wirklichkeit ist die Gewalt der Massen immer eine Reaktion auf die Gewalt der alten herrschenden Klasse. Die Ursprünge des Terrors müssen als Reaktion der Revolution auf die Androhung der gewaltsamen Überwältigung sowohl durch innere als auch durch äußere Feinde gesucht werden. Die revolutionäre Diktatur war das Ergebnis eines revolutionären Krieges und nur eine Ausdrucksform des letzteren. Unter der Herrschaft Robespierres und der Jakobiner brachten die halbproletarischen Sansculotten die Revolution zu einem erfolgreichen Abschluss. Tatsächlich trieben die Massen ihre Führer an, weiter zu gehen, als sie eigentlich beabsichtigt hatten. Die Revolution hatte objektiv einen bürgerlich-demokratischen Charakter, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht einen Punkt erreicht hatte, an dem die Frage nach dem Sozialismus gestellt werden konnte.
An einem bestimmten Punkt erreichte der Prozess seine Grenzen und ging in die entgegengesetzte Richtung. Robespierre und seine Fraktion schlugen den linken Flügel nieder und wurden dann selbst beseitigt. Die thermidorischen Reaktionäre in Frankreich jagten und unterdrückten die Jakobiner, während die Massen, die von den Jahren der Verausgabung und Opferbereitschaft erschöpft waren, in Passivität und Gleichgültigkeit verfielen. Das Pendel schlug jetzt scharf nach rechts, aber das Ancien Régime wurde nicht wieder errichtet. Die grundlegenden sozioökonomischen Errungenschaften der Revolution blieben bestehen. Die Macht des Landadels war gebrochen. Dem niederträchtigen und korrupten Direktorium folgte die genauso niederträchtige und korrupte persönliche Diktatur von Bonaparte. Die französische Bourgeoisie hatte Angst vor den Jakobinern und den Sansculotten mit ihren egalitären und gleichmachenden Tendenzen. Aber noch mehr Angst hatte sie vor der Bedrohung durch eine royalistische Konterrevolution, die ihr die Macht entreißen und die Zeit auf vor 1789 zurücksetzten würde. Die Kriege gingen weiter, und es gab immer noch interne Aufstände durch Reaktionäre. Der einzige Ausweg war die Wiedereinführung einer Diktatur, aber eine in Form einer Militärherrschaft. Die Bourgeoisie suchte nach einem Retter und fand ihn in der Person von Napoleon Bonaparte.
Mit der Niederlage Napoleons in der Schlacht von Waterloo wurde die letzte flackernde Glut, die vom revolutionären Frankreich angezündet worden war, gelöscht. Ein langes, graues Zeitalter fiel wie eine dicke Schicht Staub auf Europa herab. Die Kräfte der triumphierenden Reaktion schienen fest im Sattel zu sitzen. Doch es war genau das – ein Schein. Unter der Oberfläche grub der Maulwurf der Revolution fleißig das Fundament für eine neue Revolution.
Der Sieg des Kapitalismus in Europa legte den Grundstein für einen kolossalen Aufschwung in der Industrie und stärkte damit die Klasse, die dazu bestimmt ist, den Kapitalismus zu stürzen und in ein neues Stadium der sozialen Entwicklung – den Sozialismus – zu führen. Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest:
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ (MEW, Bd. 4, S. 461)
Diese Sätze beschreiben das reaktionäre System, das vom Wiener Kongress nach der Niederlage Napoleons 1815 errichtet wurde. Es beabsichtigte, das Risiko einer Revolution für immer auszuschließen und das Gespenst der Französischen Revolution ein für alle Mal zu verbannen. Die brutale Diktatur der „Mächte des alten Europas“ schien für immer zu dauern. Aber früher oder später würden sich die Dinge in ihr Gegenteil verändern. Unter der Oberfläche der Reaktion reiften allmählich neue Kräfte heran und eine neue revolutionäre Klasse, das Proletariat, streckte die Glieder.
Die Konterrevolution wurde durch eine neue revolutionäre Welle, die 1848 über Europa hinwegfegte, gestürzt. Diese Revolutionen wurden unter dem Banner der Demokratie geführt, dem gleichen Banner, das 1789 über den Barrikaden von Paris gehisst worden war. Aber überall war nicht die feige, reaktionäre Bourgeoisie die führende Kraft, sondern es waren die direkten Nachkommen der französischen Sansculotten – die Arbeiterklasse, die ein neues revolutionäres Ideal, das Ideal vom Kommunismus, auf ihre Fahnen eingraviert hatte.
Die Revolutionen von 1848-1849 wurden durch die Feigheit und den Verrat der Bourgeoisie und ihrer liberalen Repräsentanten besiegt. Die Reaktion herrschte weiter bis 1871, als das heldenhafte französische Proletariat in der Pariser Kommune den Himmel stürmte, und als die Arbeiterklasse zum ersten Mal in der Geschichte den alten bürgerlichen Staat stürzte und begann eine neue Art Staat zu schaffen – einen Arbeiterstaat. Diese glorreiche Episode dauerte nur einige Monate und wurde schließlich in Blut ertränkt. Aber sie hinterließ ein bleibendes Erbe und schuf die Grundlage für die Russische Revolution von 1917.
Einführung in den Historischen Materialismus – Teil 5
Im fünften und letzten Teil der Serie erklärt Alan Woods die Bedeutung der Russischen Revolution als ersten Versuch der Menschheit, sich von der Klassengesellschaft zu befreien. Von Alan Woods.
Die Russische Revolution
Für MarxistInnen war die bolschewistische Revolution das größte Einzelereignis in der menschlichen Geschichte. Unter der Führung der bolschewistischen Partei von Lenin und Trotzki gelang es der Arbeiterklasse, ihre Unterdrücker zu stürzen und mit der Aufgabe der sozialistischen Transformation der Gesellschaft zumindest zu beginnen. Die Revolution fand jedoch nicht in einem entwickelten kapitalistischen Land statt, wie Marx erwartet hatte, sondern auf der Grundlage einer furchtbaren Rückständigkeit. Um eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, vor welchen Bedingungen die Bolschewiki standen, ein Beispiel: In nur einem Jahr, 1920, verhungerten sechs Millionen Menschen in Sowjetrussland.
Marx und Engels erklärten vor langer Zeit, dass der Sozialismus – eine klassenlose Gesellschaft – für seine Existenz die richtigen materiellen Bedingungen benötigt. Der Ausgangspunkt für den Sozialismus müssen höher entwickelte Produktivkräfte sein als die in der am höchsten entwickelten kapitalistischen Gesellschaft (z. B. den USA). Nur auf der Basis einer hoch entwickelten Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und Technologie ist es möglich, die Bedingungen für die freie Entwicklung der Menschen zu garantieren, angefangen bei einer drastischen Verkürzung des Arbeitstages. Die Vorbedingung dafür ist die Beteiligung der Arbeiterklasse an der demokratischen Kontrolle und der Verwaltung der Gesellschaft.
Engels erklärte, dass in einer Gesellschaft, in der eine Minderheit das Monopol für Kunst, Wissenschaft und Regierung besitzt, diese Position für ihre eigenen Interessen nutzen und missbrauchen wird. Lenin sah sehr schnell die Gefahren der bürokratischen Degeneration der Revolution unter den Bedingungen einer allgemeinen Rückständigkeit. In seinem Werk „Staat und Revolution“, das er 1917 schrieb, arbeitete er ein Programm auf der Grundlage der Erfahrungen der Pariser Kommune aus. Hier erklärt er die Grundbedingungen, nicht für den Sozialismus oder den Kommunismus, sondern für die erste Zeit nach der Revolution, der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Diese sind:
- Freie und demokratische Wahlen aller Funktionäre, mit jederzeitiger Abwählbarkeit.
- Kein Funktionär darf mehr verdienen als den Durchschnittslohn eines Facharbeiters.
- Kein stehendes Heer, sondern ein bewaffnetes Volk.
- Nach und nach sollen die Verwaltungsaufgaben des Staates abwechselnd von jedem übernommen werden können (wenn jeder ein „Bürokrat“ ist, ist keiner ein Bürokrat).
Das ist ein fertiges Programm für die Arbeiterdemokratie. Es ist direkt gegen die Gefahr des Bürokratismus gerichtet. Es schuf die Grundlage für das Parteiprogramm der Bolschewiki von 1919. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu den Verleumdungen der Gegner des Sozialismus war Sowjetrussland zu Zeiten Lenins und Trotzkis die demokratischste Regierungsform in der Geschichte.
Aber die Regierungsform der sowjetischen Arbeiterdemokratie, die mit der Oktoberrevolution geschaffen wurde, überlebte nicht. Spätestens Anfang der 1930er waren die oben genannten Punkte abgeschafft worden. Unter Stalin erlitt der Arbeiterstaat einen bürokratischen Degenerationsprozess, der mit der Schaffung eines monströsen totalitären Systems und der physischen Vernichtung der leninistischen Partei endete. Der entscheidende Faktor für die politische Konterrevolution unter Stalin war die Isolation der Revolution in einem rückständigen Land. Trotzki erklärte in „Die verratene Revolution“, wie diese Konterrevolution vonstattenging. Es ist nicht realisierbar, dass eine Gesellschaft direkt vom Kapitalismus in eine klassenlose Gesellschaft überspringt. Das materielle und kulturelle Erbe der kapitalistischen Gesellschaft ist dafür viel zu unzureichend. Es gibt zu viel Mangel und Ungleichheit, die nicht sofort überwunden werden können. Nach der sozialistischen Revolution muss es eine Übergangsperiode geben, welche den Boden für Überfluss und eine klassenlose Gesellschaft bereitet. Marx nannte diese Stufe der neuen Gesellschaft die „niedere Phase des Kommunismus“ im Gegensatz zur „höheren Phase des Kommunismus“, in dem die letzten Überreste der materiellen Ungleichheit verschwinden würden. In diesem Sinne werden Sozialismus und Kommunismus der „niederen“ und „höheren“ Phase der neuen Gesellschaft gegenübergestellt. Marx beschreibt das niedere Stadium des Kommunismus wie folgt:
„Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“ (Marx: Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19, S. 19)
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft“, so Marx, „liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (ebd. S. 28)
Alle großen marxistischen Theoretiker erklären, dass es die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen und den kapitalistischen Staatsapparat zu zerschlagen. Dieser war das Repressionsorgan, das bestimmt war, die Arbeiterklasse in Unterwerfung zu halten. Marx erklärte, dass dieser kapitalistische Staat zusammen mit der Staatsbürokratie nicht den Interessen der neuen Macht dienen kann. Er muss abgeschafft werden. Der neue, von der Arbeiterklasse geschaffene Staat würde jedoch anders sein als alle bisherigen Staaten in der Geschichte. Engels beschrieb ihn als Halbstaat, ein Staat, der dazu bestimmt ist, abzusterben.
Für Marx würde diese niedere Stufe des Kommunismus, und das ist ein zentraler Punkt, sich bezüglich seiner ökonomischen Entwicklung auf einem höheren Niveau befinden als der am weitesten und höchsten entwickelte Kapitalismus. Warum ist das so wichtig? Weil ohne die massive Entwicklung der Produktivkräfte Mangel herrschen würde und damit ein Kampf ums Überleben. Wie Marx erklärte, würde in einer solchen Lage die Gefahr der Degeneration bestehen:
„Die Entwicklung der Produktivkräfte … [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung [des Kommunismus], weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also auch mit der Notdurft der alte Streit um das Notwendige wieder und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste …“ (Marx: Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 34/35).
Diese prophetischen Worte von Marx erklären, warum die Russische Revolution, so vielversprechend sie auch begann, in einer bürokratischen Entartung und der monströsen, totalitären Karikatur, dem Stalinismus, endete, der wiederum den Weg für eine kapitalistische Restauration und eine weitere Zurückentwicklung bereitete. „Die ganze alte Scheiße“ wurde wiederhergestellt, weil die Russische Revolution unter den Bedingungen einer schrecklichen materiellen und kulturellen Rückständigkeit isoliert war. Heute wäre das nicht der Fall, weil der enorme Fortschritt in der Wissenschaft und Technik die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben.
Ein beispielloser Fortschritt
Jede Phase der menschlichen Entwicklung hat ihre Wurzeln in allen früheren Entwicklungen. Das trifft sowohl auf die menschliche Evolution als auch auf die gesellschaftliche Entwicklung zu. Wir haben uns aus niedrigeren Arten entwickelt und sind genetisch sogar mit den primitivsten Lebensformen verwandt, wie es das menschliche Genom schlüssig bewiesen hat. Wir sind von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, nur durch einen genetischen Unterschied von weniger als zwei Prozent getrennt. Aber dieser kleine Prozentsatz stellt einen enormen qualitativen Sprung dar. Die Menschen sind aus der Wildheit, der Barbarei, der Sklavenhaltergesellschaft und dem Feudalismus hervorgegangen, und jedes dieser Stadien repräsentiert eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Kultur. Hegel drückte diese Vorstellung in einer sehr schönen Passage in seinem Werk „Die Phänomenologie des Geistes“ aus:
„Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 11)
Jedes Stadium der Entwicklung der Gesellschaft basiert auf Notwendigkeiten und entsteht aus den vorhergehenden Stadien. Die Geschichte kann nur verstanden werden, wenn man diese Stadien als Einheit betrachtet. Jede einzelne hatte ihre Existenzberechtigung bei der Entwicklung der Produktivkräfte, und jede geriet in einem bestimmten Stadium in Widerspruch zu deren weiteren Entwicklung, als eine Revolution notwendig war, um sich der alten Formen zu entledigen und das Entstehen neuer Formen zu ermöglichen.
Wie wir gesehen haben, wurde der Sieg der Bourgeoisie mit revolutionären Maßnahmen erreicht, obwohl die Verteidiger des Kapitalismus heute nicht mehr gern an diese Tatsache erinnert werden. Wie Marx erklärte, hat die Bourgeoisie historisch eine höchst revolutionäre Rolle gespielt:
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen.“ (Kommunistisches Manifest, MEW, Bd. 4, S. 465)
Im Kapitalismus haben die Produktivkräfte eine spektakuläre Entwicklung erfahren, die einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist – und das, obwohl der Kapitalismus das System mit dem höchsten Grad an Ausbeutung und Unterdrückung ist, das je existiert hat. Obwohl das Kapital „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ in die Geschichte eintrat, wie Marx es formulierte, stellte der Kapitalismus trotzdem einen kolossalen Sprung in der Entwicklung der Produktivkräfte, und damit unserer Macht über die Natur, dar.
In den letzten zweihundert Jahren hat sich die Entwicklung der Technologie und Wissenschaft schneller vollzogen als in der gesamten vorherigen Geschichte. Die Kurve der menschlichen Entwicklung, die im größten Teil unserer Geschichte praktisch stagnierte, erlebte plötzlich einen steilen Anstieg. Der atemberaubende Fortschritt der Technologie ist die Voraussetzung für die endgültige Emanzipation der Menschheit, der Abschaffung von Armut und Analphabetismus, Ignoranz, Krankheiten und die Beherrschung der Natur durch den Menschen durch eine bewusste Planung der Ökonomie. Der Weg für die Eroberung ist offen, nicht nur auf der Erde, sondern auch im Weltall.
Kapitalismus im Niedergang
Es ist die Illusion einer jeden Epoche, dass sie auf ewig bestehen wird. Jedes soziale System glaubt, dass es die einzig mögliche Existenzform für die Menschen darstellt, dass seine Institutionen, seine Religion, seine Moral das letzte gesprochene Wort sind. Das glaubten die Kannibalen, die ägyptischen Priester, Marie Antoinette und Zar Nikolaus inbrünstig. Und auch die Bourgeoisie und ihre Apologeten wollen uns das heute beweisen, wenn sie uns bar jeder Grundlage versichern, dass das so genannte System der „freien Marktwirtschaft“ das einzig mögliche System ist und das gerade jetzt, wo es beginnt, alle Zeichen der Altersschwäche zu zeigen. Das aktuelle kapitalistische System erinnert an den Zauberlehrling, der mächtige Kräfte heraufbeschwor, die er nicht kontrollieren konnte. Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft ist der Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignungsform. Aus diesem Grundwiderspruch entstehen viele andere. Dieser Widerspruch zeigt sich in periodischen Krisen, wie Marx erklärte:
„In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ (Kommunistisches Manifest, MEW, Bd. 4, S. 468)
Dies ist eine genaue Beschreibung der gegenwärtigen Lage. Es ist schrecklich paradox, dass je mehr die Menschheit ihre produktiven Kapazitäten entwickelt, je spektakulärer die Fortschritte in der Wissenschaft und Technologie sind, desto größer werden das Leiden, der Hunger, die Unterdrückung und das Elend für die Mehrheit der Weltbevölkerung. Die Krankheit des Kapitalismus im Weltmaßstab zeigte sich im Zusammenbruch 2008. Das war der Beginn der größten Krise in der gesamten 200-jährigen Existenz des Kapitalismus, und sie ist weit davon entfernt, gelöst zu sein. Sie ist ein Ausdruck für die Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, die letztendlich ein Ergebnis des Aufstandes der Produktivkräfte gegen die Zwangsjacke der Privateigentums und des Nationalstaats ist.
Sozialismus oder Barbarei
Über tausende von Jahren hatte die privilegierte Minderheit das Monopol auf die Kultur, während die große Mehrheit der Bevölkerung von Wissen, Wissenschaft, Kunst und Regierung ausgeschlossen war. Das ist auch heute noch der Fall. Trotz aller Ansprüche sind wir nicht wirklich zivilisiert. Die Welt, in der wir leben, verdient diesen Namen jedenfalls nicht. Es ist eine barbarische Welt, die von Menschen bewohnt wird, die ihre barbarische Vergangenheit noch nicht überwunden haben. Das Leben bleibt ein harter und unerbittlicher Überlebenskampf für die große Mehrheit der Menschen auf dem Planeten, nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern.
Rosa Luxemburg wies darauf hin, dass die Menschheit vor der Alternative “Sozialismus oder Barbarei” steht. Die folgende Frage muss deshalb mit Nachdruck gestellt werden: In der nächsten Zukunft wird entweder die Arbeiterklasse die Führung der Gesellschaft in die Hand nehmen und das heruntergekommene kapitalistische System durch eine neue soziale Ordnung ersetzen, auf Grundlage der harmonischen und rationalen Planung der Produktivkräfte und der bewussten Kontrolle von Menschen über ihr eigenes Leben und Schicksal, oder uns steht die schreckliche Aussicht eines sozialen, ökonomischen und kulturellen Zusammenbruchs bevor.
Die Krise des Kapitalismus verkörpert nicht nur eine Wirtschaftskrise, welche die Arbeitsplätze und den Lebensstandard von Millionen auf der gesamten Welt bedroht. Sie bedroht auch die eigentliche Grundlage einer zivilisierten Existenz, soweit diese existiert. Sie läuft Gefahr, dass die Menschheit auf allen Ebenen zurückgeworfen wird. Falls das Proletariat – die einzige wirklich revolutionäre Klasse – es nicht schafft, die Herrschaft der Banken und Monopole zu stürzen, werden die Voraussetzungen für einen Zusammenbruch der Kultur und sogar eine Rückkehr in die Barbarei geschaffen.
Bewusstsein
Die Dialektik lehrt uns, dass sich Dinge früher oder später in ihr Gegenteil verwandeln. Es ist möglich, Parallelen zwischen der Geologie und der Gesellschaft zu ziehen. Genauso wie tektonische Platten, die sich zu langsam bewegt haben und dies durch ein schweres Erdbeben ausgleichen, so wird das Zurückhinken des Bewusstseins hinter den Ereignissen durch eine plötzliche Veränderung der Psychologie der Massen ausgeglichen. Der augenfälligste Beweis der Dialektik ist die Krise des Kapitalismus selbst. Die Dialektik rächt sich an der Bourgeoisie, die nichts verstanden hat, nichts vorhergesehen hat und nicht in der Lage ist, auch nur ein Problem zu lösen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbreitete sich eine pessimistische und verzweifelte Stimmung in der Arbeiterklasse. Die Verteidiger des Kapitalismus starteten eine unbarmherzige Gegenoffensive gegen die Ideen des Sozialismus und Marxismus. Sie versprachen uns eine Zukunft des Friedens, des Wohlstands und der Demokratie, dank der Wunder der freien Marktwirtschaft. Zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und ein Jahrzehnt ist keine besonders lange Zeit vor dem Hintergrund der gesamten geschichtlichen Entwicklung. Diese tröstlichen Illusionen sind seitdem sehr gründlich zerstört worden.
Überall gibt es Kriege, Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger. Und überall entsteht ein neuer Geist des Aufbegehrens, und die Menschen suchen nach Antworten, die erklären können, was in der Welt geschieht. Der alte, stabile, friedliche und blühende Kapitalismus ist tot und mit ihm die friedlichen und harmonischen Klassenbeziehungen. Die Zukunft heißt: Sparpolitik, Arbeitslosigkeit und sinkender Lebensstandard. Das ist ein fertiges Rezept für eine Wiederbelebung des Klassenkampfs weltweit.
Der Embryo einer neuen Gesellschaft reift schon im Schoß der alten. Die Elemente einer Arbeiterdemokratie bestehen schon in Form von Arbeiterorganisationen, Betriebsräten, den Gewerkschaften, den Genossenschaften usw. In der vor uns liegenden Zukunft wird es einen Kampf auf Leben und Tod geben – einen Kampf der Elemente einer neuen Gesellschaft, die auf die Welt kommt und ein genauso erbitterter Widerstand der alten Ordnung, die verhindern will, dass dies geschieht.
Es stimmt, dass das Bewusstsein der Massen weit hinter den Ereignissen her hinkt. Aber auch das wird sich in das Gegenteil verkehren. Große Ereignisse zwingen Männer und Frauen, ihre alten Überzeugungen und Annahmen in Frage zu stellen. Sie werden aus der alten Trägheit und apathischen Gleichgültigkeit gerüttelt und werden gezwungen, der Realität ins Auge zu blicken. Wir können das schon in groben Zügen in Griechenland sehen. In solchen Zeiten kann sich das Bewusstsein sehr schnell verändern. Und das ist genau das, was eine Revolution ausmacht.
Der Aufstieg des modernen Kapitalismus und seines Totengräbers, der Arbeiterklasse, hat viel deutlicher gemacht, was der Kern der materialistischen Geschichtsauffassung ist. Nicht nur das Verstehen des historischen Kampfes zwischen den Klassen ist unsere Aufgabe, sondern ihn durch den Sieg des Proletariats und der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft zu einem Abschluss zu bringen. Der Kapitalismus hat es nicht geschafft, die Geschichte zu „beenden“. Es ist die Aufgabe der MarxistInnen, aktiv zu arbeiten, um den Sturz des alten, gebrechlichen Systems zu beschleunigen und bei der Geburt einer neuen und besseren Welt behilflich zu sein.
Von der Notwendigkeit zur Freiheit
Die wissenschaftliche Herangehensweise an die Geschichte, die uns der historische Materialismus ermöglicht, bringt uns nicht dazu, pessimistische Schlussfolgerungen aus dem allseits deutlich werdenden Niedergang zu ziehen. Im Gegenteil, die allgemeine Entwicklungstendenz der menschlichen Geschichte vollzieht sich in Richtung einer weiteren Entfaltung unseres Potentials im Bereich der Produktion und Kultur.
Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der menschlichen Kultur und den Produktivkräften war schon dem großen antiken Genie Aristoteles bewusst. In seinem Buch ‘Die Metaphysik’ erklärte er, dass der Mensch mit dem Philosophieren beginnt, wenn die Mittel zum Leben vorhanden sind und ergänzte, dass der Grund für die Entdeckung der Astronomie und der Mathematik darin lag, dass in Ägypten die Priesterkaste nicht arbeiten musste. Das ist ein vollkommen materialistisches Geschichtsverständnis.
Die großen Errungenschaften der letzten hundert Jahre haben zum ersten Mal eine Situation geschaffen, in der alle Probleme der Menschheit leicht gelöst werden könnten. Weltweit gesehen bestehen die Möglichkeiten für eine klassenlose Gesellschaft bereits. Es ist notwendig, die Produktivkräfte auf eine rationale und harmonische Weise zu planen, damit dieses immense, praktisch unbegrenzte Potential realisiert werden kann. Sobald die Produktivkräfte aus der Zwangsjacke des Kapitalismus befreit worden sind, wird es möglich, dass reihenweise Genies zum Vorschein kommen: KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, KomponistInnen, PhilosophInnen, WissenschaftlerInnen und ArchitektInnen. Kunst, Wissenschaft und Kultur würden eine nie dagewesene Blüte erleben. Diese reiche, großartige und wunderbar vielseitige Welt würde endlich zu einem Ort werden, der für das Leben der Menschen geeignet ist.
Die sozialistische Gesellschaft ist auf eine Weise eine Wiederkehr des Urkommunismus, aber auf einem weitaus höheren Level der Produktivität. Bevor eine klassenlose Gesellschaft in Angriff genommen werden kann, müssen alle Merkmale der Klassengesellschaft, besonders die Ungleichheit und der Mangel, beseitigt sein. Es wäre absurd, über die Abschaffung der Klassen zu sprechen, solange Ungleichheit, Mangel und ein Kampf ums Überleben vorherrschen – das wäre ein Widerspruch in sich. Der Sozialismus kann erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium der menschlichen Gesellschaft verwirklicht werden, wenn die Produktivkräfte das notwendige Level erreicht haben.
Auf Grundlage einer echten Revolution in der Produktionsweise wäre es möglich, Überfluss in dem Maße zu erschaffen, dass Menschen sich nicht länger über das tägliche Überleben sorgen müssten. Die erniedrigenden Sorgen und Ängste, welche das Leben der Menschen heute prägen, werden verschwinden. Zum ersten Mal werden freie Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Erstmals werden sie wirklich menschlich leben können. Dann erst wird die Menschheitsgeschichte ihren wirklichen Anfang nehmen.
Auf Grundlage einer harmonisch geplanten Wirtschaft, in der die enorme Produktivkraft von Wissenschaft und Technologie für die Bedürfnisse der Menschen, nicht für die Profite einiger weniger, nutzbar gemacht werden, wird die Kultur neue und ungeahnte Höhen erreichen. Die Römer beschrieben die Sklaven als „Werkzeuge ohne Stimmen“. Heute müssten wir Menschen nicht mehr versklaven, damit sie arbeiten. Wir haben schon jetzt die Technologie, um Roboter herzustellen, die nicht nur Schach spielen und einfache Aufgaben am Fließband verrichten können, sondern Fahrzeuge sicherer fahren als Menschen oder sogar kompliziertere Aufgaben ausführen. Diese Technologie droht im Kapitalismus Millionen von ArbeiterInnen in die Arbeitslosigkeit zu stürzen. Das trifft nicht nur auf LKW-FahrerInnen und ungelernte ArbeiterInnen zu, sondern auch Menschen wie BuchhalterInnen oder ProgrammiererInnen, die Gefahr laufen, ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Millionen werden zur Untätigkeit verdammt, während diejenigen, die ihren Arbeitsplatz behalten, länger arbeiten müssen als zuvor.
In einer sozialistischen Planwirtschaft würde die gleiche Technologie dafür genutzt werden, um die Arbeitszeit zu verkürzen. Wir könnten sofort eine 30-Stunden-Woche einführen, diese dann auf 20 Stunden, zehn Stunden und noch weniger verkürzen, während die Produktion steigt und der Wohlstand der Gesellschaft viel stärker ausgebaut wird, als es im Kapitalismus vorstellbar ist. Das wäre eine grundlegende Veränderung des menschlichen Lebens. Zum ersten Mal würden Menschen von der mühsamen Plackerei befreit werden. Sie wären frei, um sich selbst körperlich, psychisch, und man könnte noch ergänzen, geistig weiterzuentwickeln. Die Menschen wären frei, ihren Blick zu heben und das Universum zu kontemplieren. Trotzki schrieb einst: “Wie viele Aristoteles hüten Schweine? Und wie viele Schweinehirten sitzen auf einem Thron?“ (Aus „On the Suppressed Testament of Lenin“, 1932, eigene Übersetzung). Die Klassengesellschaft verarmt die Menschen nicht nur materiell, sondern auch psychisch. Das Leben von Millionen Menschen ist auf das äußerste begrenzt, ihr mentaler Horizont beschnitten. Der Sozialismus würde all das Potenzial, das vom Kapitalismus beschränkt wird, entfesseln.
Menschen haben unterschiedliche Charaktere und Begabungen. Nicht jeder kann ein Aristoteles, ein Beethoven oder ein Einstein sein. Aber jeder verfügt über das Potential, auf dem einen oder anderen Gebiet Großes zu leisten, ein großer Wissenschaftler, Künstler, Musiker, Tänzer oder Fußballer zu werden. Der Kommunismus wird die Bedingungen schaffen, diese Potentiale ganz auszuschöpfen. Das wäre die größte Revolution aller Zeiten. Sie würde die menschliche Zivilisation auf ein neues und qualitativ höheres Niveau heben. Um mit Engels zu sprechen: Es wäre der Sprung der Menschheit vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der wirklichen Freiheit.
London, 8. Juli 2015