Nur der Zeitpunkt Reinhold Mittlerlehners Rücktritt als ÖVP-Chef kam überraschend. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Auseinandersetzung um die politische Ausrichtung des bürgerlichen Lagers. Die Zeiger werden nun endgültig auf Frontalangriff auf demokratische und soziale Rechte der Arbeiterklasse gestellt. Von Emanuel Tomaselli.
Die Kommentare und TV-Debatten um den Rückzug Mitterlehners entbehren nicht der gewohnten Oberflächlichkeit der politischen Analysefähigkeit der heimischen Polit-Expertenszene.
Tatsächlich mag Mitterlehner persönlich dünnhäutig sein, „persönlich unglaublich verletzt“ (Politologe Fritz Plasser) sicher mag er vom „Totengräber-Django“ getroffen gewesen sein, auch die empirischen Umfrageergebnisse sprechen seit Monaten für den talentierten Basti „gailo“ Kurz als neuen ÖVP-Chef. Aber solche persönlichen und empirischen Ansätze erklären in Wirklichkeit gar nichts. In der politischen Essenz hat mit Mitterlehner die auf gesellschaftlichen Ausgleich orientierte Ausrichtung der ÖVP eine massive Niederlage erlitten. Nun wird eine radikale Neuausrichtung vollzogen. Festmachen kann man diesen Kampf um die Orientierung der Partei, wenn man die Aussagen führender Spitzenpolitiker in den vergangen Tagen gegenüberstellt. Am Wochenende noch meinte Finanzminister Schelling: „Die Sozialpartnerschaft ist tot. Sie weiß es nur noch nicht“; den ersten Dank Mittlerlehners bei seinem Abgang entbot er hingegen genau dieser spezifisch österreichischen Form des Klassenzusammenarbeit.
Für was steht Sebastian Kurz?
Kurz steht, und dies analysieren wir seit Monaten, für eine strategische Neuausrichtung der ÖVP. Es gilt die ÖVP fit zu machen als schlagkräftiges Instrument zur schnellen Verbesserung der Wettbewerbssituation des österreichischen Kapitals. Die Kraft, die hinter Kurz politischer Karriere steht ist der Raiffeisenkonzern und seine Medienunternehmungen (Kurier, Krone, News…). Diese inszenieren Kurz als Macher und halten ihn von den täglichen Untiefen der Spitzenpolitik fern. So wurde er zum populären Politiker und Hoffnungsträger des bürgerlichen Lagers aufgeblasen. Programmatisch ist er dabei ein weißes Blatt. Er begann als Liberaler, stand kurz für Integration von MigrantInnen auf Basis von Leistung und vertritt heute einen chauvinistischen Staatsbürgerschafts-Rassismus und Nationalismus.
Um seine politische Machtbasis abzusichern, positionierte er Vertraute in allen öffentlichen Posten und innerparteilichen Gremien, auf die er zugreifen konnte. Eine starke Hausmacht hat er damit allerdings noch nicht geschaffen. Einzig die ÖVP-Landespartei Wien kontrolliert er politisch vollständig, und natürlich die Junge Volkspartei. Die Geisteshaltung der jungen Schwarzen wurde dabei in den letzten Tagen ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die jungen Schwarzen an der juristischen Universität (an der Kurz selbst noch studiert) lebten in internen Foren ihre die Opfer des Faschismus verhöhnende, menschenverachtende und misogyne Geisteshaltung frei aus, und zwar weit über das „gesellschaftlich akzeptierte“ Maß an Verharmlosung des Nationalsozialismus und Frauenfeindlichkeit. Dass selbst konservative Frauen in diesem Elitenetzwerk hier nicht zugelassen sind passt ins Bild der heranwachsenden bürgerlichen Nachwuchwuchselite: Frauen („Pussys“ und „Fotzen“) sind hier nur als abgebildete leichtbekleidete Pin-ups geduldet, oder im Form von Asche, wenn es sich um ermordete Opfer des Nazismus handelt. Dies ist der ehrenwerte gesellschaftliche Abschaum, aus dem Kurz seine Mitstreiter rekrutiert. Dass im Zuge des Aktionsgemeinschaft-Jus Skandals auch die missbräuchliche Verwendung öffentlicher Gelder ruchbar wird, passt ins Bild.
Leute wie diese, die in der JVP gebündelt werden, bilden den Stoßtrupp der Kurz’schen Durchsetzung öffentlicher und parteiinterner Posten mit eingefleischten Sozi-Hassern.
Die Interessensklammer zum Großkapital bildet dabei die Industriellenvereinigung. Diese wünscht sich nichts sehnlicher als das Scheitern der momentan stattfindenden sozialpartnerschaftlichen Geheimverhandlungen zur Arbeitszeitflexibilisierung. Diese Verhandlungen sind von der Regierung Kern so angelegt, dass es jedenfalls zu einer Verschlechterung für ArbeitnehmerInnen kommt. Falls sich Gewerkschaften und Arbeiterkammer nicht mit der Wirtschaftskammer einigen, sollte diese Materie im Sinne der Kapitalisten von der Regierung gelöst werden. Aus Gewerkschaftskreisen hört man die Einschätzung, dass man mit Wirtschaftskammerpräsident Leitl durchaus ein Konsensergebnis erzielen könnte, allerdings bringe dieser eine konsensuale, „beschränkte“ Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in den eigenen Reihen nicht mehr durch. Wir werden erleben, dass Christoph Leitl früher oder später als Wirtschaftskammerpräsident zurücktreten muss. Hinter ihm positionieren sich schon sein potentielle NachfolgerInnen, die sich allesamt durch einen radikaleren Offensivkurs gegenüber der Arbeiterbewegung und der von ihr erkämpften Rechte auszeichnen. Welche Form auch immer dieser Personalwechsel annehmen wird, es entspricht der Kräfteverschiebung im österreichischen Kapital: Die bürgerliche Demokratie soll ihren „Konsens“-Schleier der Nachkriegszeit endgültig verlieren und sich offen als autoritäre Spar- und Wettbewerbsdiktatur offenbaren, die einzig durch Nationalismus und Rassismus „versüßt“ werden soll.
Die entscheidenden Kräfte des österreichischen Kapitals wollen Tabula-Rasa machen, die institutionalisierte Zusammenarbeit mit der Bürokratie der Arbeiterklasse zurückdrängen, um die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und die Umverteilung hin zum Kapital zu beschleunigen und frei nach ihrem Interesse zu gestalten. Darin liegt die gesellschaftliche Essenz des offenen Sozi-Hasses der Kurzianer. Persönlich getrieben wird dieser kurzsichtige gesellschaftliche Abschaum dabei von der Perspektive, dass sie die öffentlichen Geldtöpfe bald nicht mehr mit den in ihren Augen unnötigen Emporkömmlingen aus der Arbeiterklasse, so sehen sie die Arbeiterbürokratie, teilen müssen.
Umgruppierungsprozesse in großen gesellschaftlichen Formationen brauchen jedoch Zeit. Mitterlehners entnervter Abgang kommt für diese Leute zur Unzeit. Eine geregelte Hofübergabe in Kombination mit einem klaren Wahltermin hätten sie bevorzugt. Daher lässt sich Kurz jetzt etwas Zeit. Doch jene Teile der ÖVP, die sich bezüglich Kurz bisher noch unsicher waren, orientieren sich nun rasch. Der Ausgang ist dabei vorgezeichnet: Schlussendlich wird Kurz den „wenig attraktiven Job“ (Kurz noch am Montag) antreten und die ÖVP in Neuwahlen führen – allein aufgrund der personellen Alternativlosigkeit angesichts der jahrelangen Hochstilisierung von Kurz durch die Raiffeisen-Mediengruppe. Ein Jahr nach Kern in der SPÖ wird nun mit Kurz auch in der ÖVP der vom Kapital über Jahre in der öffentlichen Meinung gehätschelte Kandidat in der Hinterhand ins offene Feuer treten.
Kern, Kurz, Macron
Während Kurz und Kern sich innenpolitisch als große Gegner inszenieren, verfolgen sie doch, nach eigenen Aussagen, ein identes politisches Projekt. Dies lässt sich in ihrer ungeteilten politischen Euphorie bezüglich dem designierten Französischen Präsidenten Emmanuel Macron festmachen. Wettbewerbsfähigkeit, die sich stützt auf eine Zurückdrängung der Gewerkschaften, Zurechtstutzen solidarischer Formen der Daseinsfürsorge (Sozialversicherung,…), öffentliche Investitionen und Subventionen in die Privatwirtschaft. Auch der Politstil ist ident, die Inszenierung als Macher und angestrebte Befreiung von lästigen gesellschaftlichen Prozessen der Meinungsbildung, die sich unter anderem in Parteigremien und Konferenzen widerspiegeln.
Der Unterschied zwischen Macron und seinen österreichischen Aspiranten ist dabei offensichtlich. Macron ist tatsächlich frei von organisierter Einflussnahme auf seine Politik durch bestehende politische Apparate, er schuf sich eine politische Bewegung nach seinem Zuschnitt, die der Kleidergröße des Kapitals und der Brüssler Spardiktatur entspricht und von schwachbrüstigen, jungendlichen, karrieregeilen, freischwebenden Individuen ausgefüllt wird. Kurz hingegen wird Zugeständnisse an die politische Verfasstheit des österreichischen Bürgertums machen müssen. Die ÖVP-Landeshauptleute beginnen schon damit, ihr designiertes Zugpferd zuzureiten. Freie Hand werden sie ihm dabei nur bis zu einem gewissen Grad bei der künftigen Koalitionsfindung lassen. Jene traditionalistischen Teile der ÖVP, die sich eine Fortführung der Klassenzusammenarbeit mit SPÖ und Gewerkschaften in Regierung und Sozialpartnerschaft wünschen, haben jedoch mit Mitterlehners Abgang verloren. Die Entscheidung für Kurz ist eine Entscheidung für eine Bürgerblockregierung der offenen Attacken auf die Arbeiterbewegung. Wahrscheinlich ist eine Koalition mit den Blauen, aber auch eine Zusammenarbeit mit anderen bürgerlichen Kräften ist denkbar.
Auch im Lager der Arbeiterbewegung sind Widersprüche objektiv angelegt. Nach der traumatischen Erfahrung mit der Kanzlerschaft Faymanns knien sich alle Teilorganisationen vor Christian Kern nieder. Ein einziger Grund ist dafür ausschlaggebend: die Wahrnehmung, dass er gegenüber schwindender gesellschaftlicher Relevanz der Arbeiterbewegung (ein Resultat der programmatischen und ideenmäßigen Verwüstung angesichts der Unterordnung unter die Bedürfnisse des krisenhaften Kapitalismus) den Zugang zum Staatsapparat erhalten könnte. Dieser Zugang ist notwendig, damit die Apparate der Arbeiterbewegung ihre gegenüber dem Rest der Arbeiterklasse privilegierte Stellung in der Gesellschaft absichern können. Diese Verknüpfung mit dem bürgerlichen Staat wird aber auch als strategisches Instrument verbrämt und verstanden, um die Offensive der Bürgerlichen in bürokratischen Apparat der öffentlichen Institutionen und der Sozialpartnerschaft abzubremsen und womöglich ins Leere laufen zu lassen. Als Seitennotiz sei hier vermerkt, dass sich in diesem Punkt die Bürokratie der Arbeiterbewegung und ihre linksreformistischen KritikerInnen einig sind, wobei letztere diesen politischen Zugang natürlich theoretisch mit einer Zerfledderung der politischen Tradition Gramscis, mit Poulantzas, Althusser und anderen zu untermauern verstehen.
Nein!
Ein Herumtaktieren ist aber für die Arbeiterbewegung als gesamtes keine Option zur Absicherung des Lebensstandards der Arbeiterbewegung. Mit dem Abgang Mitterlehners werden die Karten auf den Tisch gelegt: die Zeichen stehen auf Sturm, auf Angriff, auf den Abriss der sozialen und demokratischen Errungenschaften der Nachkriegsjahrzehnte, wie er in anderen Ländern Europas schon voranschreitet. Der Ausgang der kommenden Wahlen wird dabei nur das Tempo bestimmen; beschleunigen und bessere Bedingungen schaffen wird sich dieser Drang des Kapitals auf bessere Profitbedingungen abseits einer politischen Alternative aber jedenfalls. Die momentan herrschende rassistische Spaltung der Arbeiterklasse und der ekelhaft chauvinistische rot-weiss-rote Patriotismus ist dafür ein herrlicher Dämmstoff zur geräuscharmen Demolierung sozialer und demokratischer Rechte.
Die Arbeiterbewegung hat eine sehr einfache und effiziente Möglichkeit die Verschlechterung unseres Lebens zu stoppen und umzukehren: „Nein!“ zu sagen. An jedem Neuanfang steht ein mutiges Nein zu weiteren Verschlechterungen. Die Führung der Gewerkschaftsbewegung hat dabei den Schlüssel in der Hand: Zentraler Angriffspunkt ist im Moment die Diskussion um den Lohnraub der Arbeitszeitflexibilisierungen und die Verschlechterungen des Arbeitsschutzes. Die Gewerkschaftsbewegung muss, statt politisch taktierend die Farce der „sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen“ weiter aufrecht zu erhalten, entschlossenen Widerstand in den Betrieben organisieren und politisch verallgemeinern. Nur so kann es nach Jahren der erfolgreichen Paralysierung und Spaltung der Arbeiterklasse zu einer Solidarisierung kommen und der mutige gemeinsame Kampf gegen die Zumutungen des Kapitals geführt werden.