Erst mit der Entwicklung der dialektisch-materialistischen Methode konnten Marx und Engels die Phänomene des Kapitalismus erklären: Die sozialen, politischen und ökonomischen Widersprüche, die er hervorbringt, und die Krisen, Kriege und Revolutionen, in denen sich diese Spannungen entladen. Von Yola Kipcak und Sandro Tsipouras.
Marx und Engels ist es gelungen, ein Bild von der kapitalistischen Produktionsweise zu zeichnen, das, wie kein anderer Ansatz, die Phänomene, die sie hervorbringt, darzustellen und zu erklären vermag: Die allgegenwärtigen sozialen, politischen und ökonomischen Spannungen und Konflikte und die plötzlichen Sprünge, wie Krisen, Kriege und Revolutionen, die sich daraus ergeben.
Marx und Engels erarbeiteten sich hierfür ein methodisches Instrumentarium, um alle gesellschaftlichen Phänomene in ihren Zusammenhängen und Beziehungen zueinander zu erfassen und zu verstehen. Dieses ist die materialistische Dialektik, die ein zentrales Element des Marxismus bildet.
Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) formulierte als Erster bewusst die Dialektik und ihre Gesetze der Entwicklung aus. Diese erwiesen sich für Marx und Engels als zentrale Werkzeuge bei der Erarbeitung ihrer Geschichtsphilosophie, des historischen Materialismus, und ihrer „Kritik der politischen Ökonomie“, also ihrer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, die in Marxens Hauptwerk „Das Kapital“ zu finden ist. Ihre eigene dialektische Methode, die sie im Zuge dieses Schaffensprozesses herausarbeiteten, grenzen Marx und Engels von der sogenannten metaphysischen Denkweise ab. In dieser „sind die Dinge (…) vereinzelte, eins nach dem andern (…) zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebene Gegenstände der Untersuchung.“ In der Dialektik hingegen werden die Dinge „in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn“(1) betrachtet.
Zwischen der Hegelschen Dialektik und jener von Marx und Engels besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied:
„Hegel war Idealist, d.h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwie schon vor der Welt existierenden ‚Idee‘“.(1)
Der Marxismus hingegen versteht, dass Entwicklungen in erster Linie durch ein Zusammenwirken von Materie passieren – auch Ideen selbst sind Ergebnis davon. Dieser Unterschied ist sehr relevant, denn er erkennt an, dass menschliche Erkenntnis von unseren Lebensumständen eingeschränkt ist: Eine Jägerin in der Urzeit kann nicht allein durch individuelle Anstrengung quantenphysische Erkenntnisse hervorbringen. Während IdealistInnen für „vernünftige“ Ideen und die „absolute Wahrheit“ eintreten – die in der Geschichte immer den Interessen der Herrschenden entsprachen – kämpfen MarxistInnen für reale Veränderungen.
In der dialektischen Methode werden einige Eigenschaften beschrieben, die allen Prozessen gemein sind:
1. Die Aufhebung bezeichnet die Überwindung des Alten durch das Neue. Hegel verwendet den Begriff der Aufhebung aufgrund seiner widersprüchlichen Bedeutung sehr gerne.
Aufheben kann bedeuten:
- Hochheben, auf eine höhere Ebene bringen („vom Boden aufheben“)
- Behalten, aufbewahren, erhalten („zur Erinnerung aufheben“: Briefe, Geschenke, Kinderbücher)
- Beenden, überwinden (Gesetze, Strafen, Zustände)
Wenn wir also die dialektische Aufhebung eines Gegenstands betrachten, geht es uns darum, dass wir folgendes unterscheiden können:
- Wie eine Entwicklungsstufe endet, um ihrer Nachfolgerin Platz zu machen, wie das Alte vergeht und das Neue entsteht
- Wie dabei ihre positiven Seiten erhalten werden
- Wie diese Seiten sich ins Neue integrieren, in die höhere Stufe aufsteigen und in dieser eine neue Funktion annehmen.
Verdeutlichen wir das: Der Feudalismus endet mit der Eroberung der politischen Macht durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie übernimmt die politische Gewalt, um sich die sozioökonomischen Existenzbedingungen in der Gesellschaft so herzurichten, wie sie sie braucht: Freier Warenverkehr, allgemeine Geschäftsfähigkeit, Gleichstellung der Menschen als bürgerliche Rechtssubjekte, Verallgemeinerung der Lohnarbeit.
In der neuen Gesellschaft spielen jedoch viele Elemente der feudalen Gesellschaft eine zentrale Rolle: Die Bourgeoisie selbst – der dritte Stand der feudalen Gesellschaft, die freien StädtebürgerInnen – wird nun zur herrschenden Klasse.
Die Warenproduktion wird im Feudalismus vor allem von HandwerkerInnen betrieben, außerdem von Bauern, wenn sie über den eigenen Bedarf und den Frondienst hinaus produzieren, um Waren zu Markte zu tragen. Im Kapitalismus sind fast alle Produkte Waren.
Die Warenzirkulation ist im Feudalismus ein stockender Prozess, der stets von neuem beginnt und immer wieder endet. Im Kapitalismus sind alle Waren, sowie die Bewegungen und Handlungen der Menschen Teil der Bewegung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, in die alle Einzelkapitale verschlungen sind.
Die Lohnarbeit bildet im Feudalismus einen gesellschaftlichen Ausnahmefall. Ihr gehen verstoßene Bauern oder verarmte BürgerInnen als Tagelöhner nach, die Grenzen zu den BettlerInnen sind fließend. In dem Maß, wie die Bourgeoisie in ihrer ursprünglichen Akkumulation den gesellschaftlichen Reichtum an sich reißt und als Kapital zum Einsatz bringt, vertreibt sie die Bauern von ihrem Land, wirft massenhaft kleine HandwerkerInnen auf die Straße und macht so die Lohnarbeit zur einzigen Erwerbsmöglichkeit für die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft.
Hier sehen wir also, wie die positiven Seiten der feudalen Gesellschaft in der kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben sind und ganz neue Funktionen erfüllen. Gleichzeitig sehen wir, wie positive Seite definiert ist: Es ist kein moralischer Begriff, es geht nicht darum, dass alles „gute und schlechte Seiten“ hat. Mit „positiv“ bezeichnen wir die Seiten und Eigenschaften des Gegenstands, die weiterleben, die in seiner Entwicklung eine aktive, treibende Rolle spielen, und die den Untergang des Bestehenden überdauern.
Die Evolutionsbiologie und die Kunst sind Schatzkammern für solche Beispiele. In der Evolution kommt es ständig vor, dass Organe neue Funktionen erhalten. Federn, die zunächst nur Dinosauriern bei der Körperwärmeregulation dienten, wurden später zu einem sekundären Sexualorgan und dienen jetzt Vögeln zum Fliegen. In der Entwicklung der Populärmusik passiert es ständig, dass Elemente, die zuerst nur zur Zierde da waren, zu zentralen Rollen avancieren (Sampling).
2. Die Negation ist ein entscheidender Bestandteil der Aufhebung. Negation kommt vom lateinischen Wort „negare“, welches „verneinen“ oder „ablehnen“ bedeutet. In der Logik, wie auch in Hegels Dialektik, ist die Negation von A das begriffliche Gegenteil von A. In der marxistischen Dialektik aber, die sich nicht mit Begriffen, sondern mit echten Prozessen beschäftigt, ist die Negation der reale Prozess, der einen Gegenstand aufhebt.
Was ist die Negation des Feudalismus? Die bürgerliche Revolution. Was ist die Negation des Dinosauriers? Der Vogel.
3. Der Widerspruch: In jedem Gegenstand gibt es unterschiedliche Seiten und Tendenzen, die sich gegenseitig bedingen und einander zugleich ausschließen. Das bedeutet, dass man jeden Gegenstand als Einheit von Gegensätzen auffassen kann, oder anders gesagt, dass in jedem Gegenstand seine Negation als Potential bereits enthalten ist. Konsequenterweise wird die Einheit kämpfender Gegensätze Widerspruch genannt. Deshalb sagt Marx im Vorwort zum 1. Band des Kapitals:
„In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.“
Einheiten von Gegensätzen oder Widersprüche sind nicht zu verwechseln mit gewöhnlichen Dualismustheorien, die vom Esoterischen (Yin&Yang) bis zur banalen Feststellung reichen, dass alles ein Gegenteil hat. Der berühmte Physiker Richard Feynman schreibt zum Beispiel: “Alle Dinge, selbst wir, bestehen aus kleinen, unglaublich stark interagierenden Plus und Minus Teilchen, die in einem perfekten Gleichgewicht stehen.“(2) Obwohl wir keine Ahnung von Physik haben, können wir dem Mann antworten: Wäre tatsächlich alles “in einem perfekten Gleichgewicht”, dann würde alles stillstehen. Die Dialektik findet in der Welt keine harmonischen Zustände, sondern kämpfende Bewegung in Widersprüchen.
Engels sagt: „Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch. Sogar schon die einfache mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fortwährende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung … Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und seine Entwicklung … das Leben [besteht] grade vor allem darin, daß ein Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein.“ (3)
Die Gesetze der Dialektik
Mittels der Dialektik betrachten wir die Entwicklung eines Gegenstands als Resultat widersprüchlicher, entgegengesetzter Entwicklungstendenzen. Diese Tendenzen werden von den Gesetzen der Dialektik beschrieben. Ihre drei Gesetze kennzeichnen die marxistische Dialektik als eine Konzeption von der Entwicklung, die nicht geradlinig verläuft, sondern auf plötzliche Sprünge, Diskontinuitäten aufmerksam macht, indem sie den Widerspruch als grundlegende Eigenschaft der Bewegung postuliert.
Davon wollen wir die wichtigsten drei näher beschreiben:
1. Negation der Negation
Wie wir am Kapitalismus und gefiederten Dinosauriern gesehen haben, veraltet auch das Neue unter gewissen Umständen und wird schließlich durch Neues höherer oder niederer Qualität abgelöst. Dabei gibt es Momente, in denen eine scheinbare Rückkehr zum Ausgangspunkt stattfindet, aber auf einer anderen Ebene.
Engels und Lenin versinnbildlichen das, indem sie sagen, es gibt keine Entwicklung als Kreis, sondern als Spirale. Diese Spiralbewegung nennt man Negation der Negation.
Engels liefert einige Beispiele für die Negation der Negation in der Natur, etwa die Vermehrung eines Gerstenkorns über den Zwischenschritt der Pflanze, „der Negation des Korns“.
„Nehmen wir ein Gerstenkorn. [E]s keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns. (…) Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner (…) Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl“. (3)
Für Marx und Engels war die Negation der Negation, also die Feststellung, dass die Geschichte sich nicht wiederholt, sondern eine Richtung hat und sich entwickelt, keine abstrakte Frage. Die Tatsache, dass es keinen ewiggleichbleibenden, natürlichen Zustand gibt, hat weitreichende Folgen, die direkt die herrschende Ordnung in allen gesellschaftlichen Bereichen – auch der Politik und Wissenschaft – in Frage stellt. Der Staat ist keine immer dagewesene, natürliche Institution, und auch moralische Prinzipien verändern sich und müssen hinterfragt werden, wie beispielsweise die Frage nach „Gerechtigkeit“, und ob nach ihr das Privateigentum unantastbar ist.
2. Einheit und Kampf der Gegensätze
Der Widerspruch ist die Einheit kämpfender Gegensätze. Er bewirkt die Überwindung des Alten durch das Neue, das heißt, er führt zur Lösung des Widerspruchs, wie etwa Klassenwiderspruch im Kapitalismus durch die Überwindung des Kapitalismus – oder durch Zerstörung der Zivilisation.
Die Leninsche Definition des Gesetzes von der Einheit der Gegensätze lautet, daß es die „Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft)“ (4) ist.
3. Der Umschlag von Quantität in Qualität
Der genaue Zeitpunkt, an dem sich ein Widerspruch löst, wird als Umschlagen von Quantität (von lat. quantum = wieviel) in Qualität (von lat. quale = welches) oder als qualitativer Sprung bezeichnet.
Bevor sich ein Widerspruch lösen kann, muss er sich zuspitzen. Diesen Vorgang nennt man quantitative Veränderung. Bevor Wasser zu kochen beginnt, ist die Erwärmung eine rein quantitative Veränderung. Wenn die Temperatur jedoch 100 Grad erreicht, beginnt das Wasser zu kochen und wird zu Dampf. Diese Veränderung ist qualitativ.
Ein Beispiel für die Anwendung des Konzepts der qualitativen Sprünge finden wir im IMT-Weltperspektivendokument 2014:
„Der Marxismus wirft einen langfristigen Blick auf die Geschichte. Es gibt bestimmte Momente, die entscheidende Wendepunkte darstellen. Solche Momente waren 1789, 1917 und 1929. Zu solchen Zeiten wird der gesamte Prozess beschleunigt und Dinge, die für alle Zeiten gefestigt schienen werden in ihr Gegenteil verwandelt. Zu dieser Liste von großen historischen Wendepunkten müssen wir nun 2008 hinzufügen.“
Was passiert also an solchen Wendepunkten? Eine Einheit von Gegensätzen kommt an ihr Ende, ein Widerspruch löst sich, und das Alte macht dem Neuen Platz: Ein neuer Widerspruch tritt auf.
1789 löst sich der Widerspruch zwischen Adel und drittem Stand, und der Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat trat in den Vordergrund.
Im Februar 1917 löst sich der Widerspruch eines Landes, das von imperialistischen Kräften industrialisiert wurde, aber politisch noch im Feudalismus verhaftet war und keine eigenständige Bourgeoisie hervorgebracht hatte: Das Proletariat entmachtet den Kaiser, nur um noch im Oktober desselben Jahres die Macht zu ergreifen und führten die Produktionsmittel in Staatseigentum über. Die Bourgeoisie wird zur unterdrückten Klasse, noch bevor sie selbst zur herrschenden Klasse geworden ist.
1929 haben wir eine typische Überproduktionskrise, ausgelöst durch das Platzen einer Spekulationsblase. Spekulationsblasen bedeuten die Ausdehnung der Warenproduktion über ihre Grenzen, in anderen Worten, die Ausdehnung der Produktivkräfte über die Grenzen der Produktionsverhältnisse hinaus. Dieser Widerspruch kommt in der folgenden Periode zum Tragen, als das weltweite BIP in den folgenden drei Jahren um 15% fällt, indem sich die Produktionsverhältnisse gewaltsam geltend machen.
Und 2008? Was sich heute in sein Gegenteil verwandelt ist die Stabilität der Nachkriegszeit und die Periode eines sturmhaft expandierten Kapitalismus nach dem Fall des Stalinismus. Die Pleite von Lehmann Brothers im Jahr 2008 markiert den Wendepunkt einer ungebremsten kapitalistischen Expansionsphase. Die Krise des Kapitalismus bleibt dabei nicht auf die Wirtschaft beschränkt, sondern transformiert sich in politische, diplomatische, militärische Konflikte und humanitäre Desaster, die ihrerseits wiederum die wirtschaftliche und politische Stabilität durcheinander wirbeln. Die Rebellion der Produktivkräfte gegen die Produktionsbedingungen (in erste Linie Nationalstaat und Privateigentum) ist kein wirtschaftlicher Prozess allein, sondern verdichtet sich zu einem Knäul an Widersprüchen und Konflikten die in ihrer Gesamtheit einen instabileren und katastrophenanfälligen Zustand ergeben.
Das Zusammenwirken der Widersprüche
Bis jetzt haben wir uns spezifische, einzelne Widersprüche angesehen, wie den Klassenwiderspruch oder den Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften. Nun gibt es auch allgemeine Widersprüche, die in jedem Prozess auftreten:
Form und Inhalt
Man kann bei jedem Prozess zwischen Form und Inhalt unterscheiden. Zwischen Form und Inhalt besteht ein Widerspruch, der sich darin auflöst, dass die Form gesprengt wird und der Inhalt sich eine neue Form gibt. In unserem vorherigen Beispiel sahen wir, welche positiven Seiten des Feudalismus sich im Kapitalismus eine neue Form gesucht haben.
Auch an dem aktuellen Beispiel Griechenlands seit der Krise, sehen wir, wie derselbe Prozess – der Widerstand der ArbeiterInnenklasse – eine ganze Reihe von Formen durchläuft: Von Platzbesetzungen, über Massenstreiks, über den Erfolg der Linkspartei SYRIZA und nach deren Kapitulation darüber hinaus. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt ist hier unlösbar, solange der Widerstand der ArbeiterInnen nicht den Rahmen des Kapitalismus sprengt. Solang die Form nicht über den Kapitalismus hinausweist, kann sie dem Inhalt nicht adäquat werden, weil im Kapitalismus die Probleme der Menschen nicht zu lösen sind. Das ist nur möglich, wenn sich die Arbeiterbewegung ein revolutionäres Programm gibt.
Wesen und Erscheinung
Wesen und Erscheinung sind hochkomplexe Kategorien der dialektischen Theoriebildung. Im Grunde genommen geht es darum, dass es in jedem Prozess einen wesentlichen Widerspruch gibt, der den ganzen Prozess determiniert, wie dies Kapital und Arbeit im Kapitalismus tun. Diesen wesentlichen Widerspruch sieht man dem Gegenstand aber nicht an, sondern den muss man durch gründliche Forschung aufdecken.
Notwendigkeit und Zufall
Der Marxismus geht von einer Entwicklung der Geschichte und der Welt aus, die nicht ziellos einfach passiert, sondern durch vorangegangene Ereignisse bestimmt ist. Das heißt jedoch nicht, dass der Ausgang der Geschichte von vornherein feststeht und unveränderlich ist: Die Durchsetzung des Kapitalismus als allgemeine Produktionsweise bringt das Proletariat hervor, dessen Interessen fundamental dem der KapitalistInnen widersprechen – der Boden für die Beseitigung des Kapitalismus ist bereitet. Ob die Revolution allerdings glückt, hängt von vielen Faktoren ab.
Oftmals kann sich eine Notwendigkeit im Einzelnen, einem Zufall, ausdrücken: Dass der Linksreformist Jeremy Corbyn in Großbritannien zum Labour Leader gewählt wurde, war möglich, weil die Rechten innerhalb der Partei das Wahlsystem zu ihren eigenen Gunsten so undemokratisch gestaltet hatten, dass auch nicht-Mitglieder mit einem einfachen 3£ Beitrag wählen konnten. Doch die Notwendigkeit der radikalisierten Jugend und ArbeiterInnen sich ein politisches Sprachrohr zu geben, drückte sich dadurch aus, dass ein riesiger Zustrom an neuen Leuten die Wahl zu seinen Gunsten entschied.
Marx fasste das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall prägnant so zusammen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (5)
Die Wichtigkeit dieser Zeilen sind nicht zu unterschätzen, denn sie beschreiben die Möglichkeit der Menschen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, kurz: Die Wichtigkeit für MarxistInnen, selbst politisch aktiv zu sein und sich als RevolutionärInnen zu organisieren, um die Möglichkeit des Sozialismus Wirklichkeit werden zu lassen.
Abstraktes und Konkretes
Die dialektische Methode ist nach Marx „die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen“. Das bedeutet also das Aufsteigen von einer einseitigen, subjektiv beschränkten Auffassung hin zu einer umfassenden, konkreten Auffassung.
Eine Rose mag man als „rot“, „duftend“ oder „stachelig“ bestimmen. Sie ist die Einheit von Röte, Duft und Stacheln. Für sich genommen, ohne den Bezug zur Rose, sind Röte und Duft abstrakte Bestimmungen. Das Wort „abstrakt“ bedeutet ursprünglich „herausgezogen“ oder „abgesondert“, eine Abstraktion ist also die Absonderung einer einzelnen Bestimmung aus der konkreten Einheit der Gegensätze. „Abstrakt“ bedeutet also auch „einseitig“. Das Wort „konkret“ hingegen bedeutet „zusammengewachsen“ oder „zusammengefasst“. Das Konkrete ist das Ganze, eine Einheit vielfältig in sich selbst gegliederter Gegensätze.
In seiner Analyse des Kapitalismus studiert Marx Phänomene wie „Lohn“, „Miete“ oder „Profit“ und deckt so das Wesen der Ware und das Geheimnis ihres Wertes auf. Er beschreibt diese im Abstraken, indem er aufzeigt, dass sich der Wert von Waren daraus ergibt, wie viel menschliche Arbeitskraft darinsteckt und liefert die theoretische Erklärung für die Ausbeutung der Arbeit. So erfahren wir, wie die Warenproduktion sämtliches gesellschaftliches Leben im Kapitalismus bestimmt – die Löhne ArbeiterInnen und ihre Lebensbedingungen, die Profite der KapitalistInnen und ihre Konkurrenz untereinander. Dieselben Phänomene wie „Lohn“, Miete“ oder „Profit“ können nun konkreter, umfassender, mit einem tieferen Verständnis erfasst werden.
Die Analyse des Kapitalismus beginnt beim Wert, seiner abstrakt-allgemeinen Bestimmung und legt gleichzeitig die Basis für das Verständnis seiner Überwindung, indem erklärt wird, wie die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse durch KapitalistInnen vonstattengeht, und warum der Kapitalismus so an seinen eigenen Widersprüchen zerschellt.
Die materialistische Dialektik ist das beste methodische Werkzeug, um sich der objektiven Realität in unserer Erkenntnis anzunähern. Sie zeichnet nach, wie die materielle Welt natürliche, historische aber auch ideologische Prozesse hervorbringt, und wie diese miteinander verbunden sind. Für MarxistInnen ist dieses Instrument unabdingbar, um die Geschichte zu verstehen, in deren Verlauf wir als RevolutionärInnen eingreifen wollen.
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(1) Engels, Friedrich (1880): Die Entwicklung des Sozialismus von Utopie zur Wissenschaft
(2) Feynman, R. (1969): Lectures on Physics
(3) Engels, Friedrich (1877): Anti-Dühring
(4) Lenin (1914/15); Zur Frage der Dialektik
(5) Marx, Karl (1852): 18. Brumaire des Louis Bonaparte