Vor mittlerweile fast 10 Jahren erschien Tibor Zenkers Buch „Stamokap heute – Vom gegenwärtigen Kapitalismus zur sozialistischen Zukunft“ in dem die Grundkonzepte der Stamokap Theorie dargelegt und ein aktueller Beitrag zur marxistischen Theoriebildung geboten werden. Herausgegeben wurde das Buch von der Stamokap-Strömung in der Sozialistischen Jugend Österreich. Bereits 2005 hat die Funke Strömung eine Kritik an dem Buch verfasst, die als Broschüre herausgegeben wurde.
Einleitung
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ Dieses Zitat von W.I.Lenin hat Tibor Zenker zum Motto seines Buches „Stamokap heute – Vom gegenwärtigen Kapitalismus zur sozialistischen Zukunft“ ausgewählt. Auf rund 400 Seiten soll dem Wesen des gegenwärtigen Kapitalismus nachgegangen, und es eine Strategie zur Überwindung des Kapitalismus dargelegt werden.
Herausgegeben wurde das Buch von der Stamokap-Strömung in der SJÖ, die darin ihren aktuellen Beitrag zur marxistischen Theoriebildung sieht. Auf ihrer Webseite wird „Stamokap heute“ folgendermaßen zusammengefasst: „In dieser Schrift werden die Kernaussagen der Stamokap-Theorie anhand aktuellen Datenmaterials einer umfassenden Überprüfung unterzogen. Dies impliziert eine Untersuchung der gegenwärtigen Beziehung zwischen Staat und Monopolkapital, des „Globalisierungs“-Begriffes sowie des „Neoliberalismus“. Darüber hinaus werden auch die imperialistische Hegemonialmacht USA sowie die Entwicklung der EU zu einem militärisch handlungsfähigen imperialistischen Bündnis analysiert. Auf Basis der Ergebnisse werden konkrete antimonopolistische und antiimperialistische Ansätze erarbeitet und ein revolutionärer Weg zur Überwindung des Kapitalismus markiert.“
Die Stamokap-Strömung in der SJÖ hatte ihre Blütezeit im Zuge der Linksentwicklung der Sozialistischen Jugend ab Mitte der 1970er Jahre. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hätte dieser Strömung fast den Todesstoß versetzt, da viele ihrer GenossInnen darin die Widerlegung dessen sahen, wofür sie jahrelang politisch aktiv waren. Die SJ-Stamokap ist heute neben dem austromarxistisch inspirierten Zentrum und der revolutionär-marxistischen Strömung um die Zeitschrift „Der Funke“ die dritte wichtige Strömung in der Sozialistischen Jugend.
Tibor Zenker stellt sich mit oben angeführtem Lenin-Zitat jedenfalls eine große Aufgabe. „Stamokap heute“ ist einer der raren Beiträge in der österreichischen Linken, der den Anspruch erhebt eine theoretisch fundierte marxistische Gesellschaftsanalyse und –kritik zu formulieren. Und dies ist auch der Grund, warum wir begonnen haben uns mit diesem Buch genauer auseinanderzusetzen. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit Zenkers Opus soll die Debatte über marxistische Kapitalismuskritik und die Fragen marxistischer Strategie und Taktik auch in der hiesigen Linken vertieft werden. Diesen längeren Artikel verstehen wir als Diskussionsbeitrag, mit dem wir auch Genossen Zenker – bei aller Kritik – unsere Wertschätzung für seine Arbeit bekunden wollen. An einer unmissverständlichen Kritik an Zenkers Methoden werden wir trotzdem nicht herumkommen.
Zenkers Ideengeschichte des Stamokap
Wer als Marxist etwas auf sich hält, der kann natürlich nicht umhin kommen, seinen eigenen theoretischen Beitrag mit Zitaten von den alten marxistischen Klassikern zu stützen. Das dürfte einer der Leitsprüche von Genossen Zenker sein. Er beginnt sein Buch dementsprechend mit einem Rückblick auf Aussagen von Marx, Engels und vor allem Lenin zur Beziehung von Staat und Kapital.
Marx und Engels lebten und arbeiteten weitgehend unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz. Sie sahen eine ihrer Hauptaufgaben in der Offenlegung der Bewegungsgesetze des Kapitalismus. Auch wenn Marx Hauptwerk „Das Kapital“ nicht vollendet werden konnte, so lieferten Marx und Engels in ihren Schriften doch eine Vielzahl von Ansätzen über die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus. In groben Umrissen konnten sie dadurch auch die Herausbildung eines Weltmarktes, die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion, die wachsende Rolle des Staates in der Ökonomie, usw. voraussagen.
Eine genauere Analyse des Monopolkapitalismus mussten sie jedoch der Generation von revolutionären SozialistInnen überlassen, die nach ihnen das Erbe des Wissenschaftlichen Sozialismus antreten sollten. Den wohl wichtigsten Beitrag in dieser Debatte lieferte, und da gehen wir mit Tibor Zenker d’accord, Lenin mit seinem Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“.
Stammvater Lenin
In einem Aufwaschen erklärt Zenker Genossen Lenin aber auch gleich zum eigentlichen Vater der Stamokap-Theorie, nachdem in drei von dessen Schriften aus dem Jahre 1917 der Begriff „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ erstmals auftaucht. Zenker meint selbst, dass die Hauptmerkmale des Stamokap bereits in Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ angeführt sind. Hier liegt ein Punkt, bei dem der Leser bis zuletzt jedoch im Unklaren gelassen wird: Handelt es sich beim „staatsmonopolisitschen Kapitalismus“ nun um ein Synonym für Imperialismus, wie es Zenker in seinem Buch andeutet? Oder haben wir es doch mit einer qualitativ neuen Phase kapitalistischer Entwicklung zu tun, so wie der Monopolkapitalismus auf den Kapitalismus der freien Konkurrenz folgte? Letzteres würde auch implizieren, dass die ArbeiterInnenbewegung unter Umständen eine neue, von den Leitsätzen der Komintern unter Lenin (und Trotzki) abweichende Strategie zur Überwindung des Kapitalismus entwerfen müsste.
Bei Lenin wird der Begriff des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ jedenfalls immer im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg verwendet, d.h. mit einer Kriegswirtschaft, in welcher der Staat natürlich eine besondere Rolle einnehmen musste (siehe „Die drohende Katastrophe…“). Es gibt allerdings keinerlei Hinweise, dass Lenin mit diesem Begriff irgendeine Weiterentwicklung seiner Imperialismustheorie im Sinn hatte. Es ist auch anzumerken, dass Lenin nach 1917 nie wieder vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ spricht sondern sich immer auf den „Imperialismus“ bezieht. Im ebenfalls von Zenker zitierten „ABC des Kommunismus“, einer „populären Erläuterung des Programms der Bolschewiki“ aus dem Jahre 1918, wird dieser Begriff ebenfalls nicht verwendet. Bucharin und Preobraschenski schreiben vielmehr von „Imperialismus“ und in Bezug auf die Entwicklungen im Zuge des Ersten Weltkriegs von „Staatskapitalismus“.
Gerade in den beiden wichtigsten Schriften, aus denen die Anhänger der Stamokap-Theorie immer ihre Legitimität ableiten, in „Staat und Revolution“ und „Die drohende Katastrophe…“, liefert Lenin Paradebeispiele wie MarxistInnen an den Kampf zur Überwindung des Kapitalismus herangehen. Es findet sich in beiden Texten keine Strategie, die auch nur irgendwie an die Etappenkonzepte der stalinistischen KPen erinnern würde. Lenins zentrale Aussage liegt in der Notwendigkeit einer Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und des Aufbaus eigener Organe der Arbeitermacht. Gerade mit dem in „Die drohende Katastrophe…“ angeführten Zitat will Lenin sagen, dass es auf diese extreme Form der Vergesellschaftung des Kapitals, wo der bürgerliche Staat die Monopolisierung übernimmt, nur noch eine Antwort geben kann: den Sozialismus. Von einer Zwischenetappe ist bei Lenin nie die Rede. Zwischen „staatsmonopolistischem Kapitalismus“ und „Monopolkapitalismus“ gibt es bei Lenin auch keinen qualitativen Unterschied. Wenn die StalinistInnen daher behaupten, Lenin habe eine „Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ausgearbeitet“, dann ist das frei erfunden und dient rein der Instrumentalisierung Lenins für die eigenen politischen Interessen.
Exkurs: Gramsci und das Hegemoniekonzept
Doch Lenin sollte nicht der einzige marxistische Klassiker sein, den Zenker ganz in der Tradition der StalinistInnen nach 1945 so zurechtdeutet, dass er als einer der Stammväter der Stamokap-Theorie herhalten kann. Bei Gramsci ist weniger sein Beitrag zur Politischen Ökonomie als vielmehr seine angebliche „Weiterentwicklung“ marxistischer Strategie von Interesse.
Antonio Gramsci, der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, gehört zweifelsohne zu den größten Köpfen, welche die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung hervorgebracht hat. Er war einer jener jungen Sozialisten, die am Ende des Ersten Weltkriegs die Ideen und Methoden der russischen Revolution in der italienischen ArbeiterInnenbewegung verbreiteten und mehrheitsfähig machten. Gramscis Intellekt wurde von den Faschisten gefürchtet, weil er die Fähigkeit besaß, mit seinen Schriften der durch die eiserne Ferse der „Schwarzhemden“ atomisierten ArbeiterInnenklasse ein kollektives Gedächtnis zu geben. Das war auch der Grund warum von Mussolinis Schergen er mit einer derartigen Härte behandelt wurde.
Selbst im Kerker setzte Gramsci seine theoretische Arbeit fort. Die Bedingungen waren klarerweise denkbar schlecht. Die faschistische Zensur ermöglichte kein freies Arbeiten. Theoriearbeit lebt natürlich immer auch von kollektiven Diskussionsprozessen. Mehr oder weniger isoliert vom Rest der Organisation war Gramsci in dieser Hinsicht natürlich stark eingeschränkt. Seine „Gefängnishefte“ sind aber trotzdem von großem politischem Interesse. Gramsci sah sich als Reaktion auf die scharfe Zensur jedoch gezwungen in diesen im Kerker verfassten Texten eine Sprache zu verwenden, die die Dinge nicht immer direkt beim Namen nennt. Der stalintreuen Parteiführung des KPI unter Togliatti kamen diese Unschärfen sehr gelegen, um mit Gramscis Spätwerk ihre reformistische Orientierung während der revolutionären Krise, die Italien zwischen 1943-48 erschütterte, zu rechtfertigen.
Eine sehr kontroversielle Debatte kreist seither rund um die Frage des Konzepts der Hegemonie, wie es Gramsci beschrieb. Es muss in diesem Zusammenhang gesagt werden, dass Gramsci in dieser Frage auf theoretischen Diskussionen aus der russischen Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbaut, wo dieser Begriff ebenfalls Verwendung fand. Selbst auf dem 3. Weltkongress der Kommunistischen Internationale wird der Begriff im Sinne der Führung des Proletariats über die anderen ausgebeuteten und unterdrückten Klassen im revolutionären Kampf verwendet. Auf dem 4. Weltkongress der KI wird „Hegemonie“ zur Beschreibung der Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat eingesetzt. Dies nimmt Gramsci auch als Ausgangspunkt für seine weiteren Überlegungen.
Die Herrschaft des Kapitals wird durch die diversen Institutionen des Überbaus, die ihm zur Verfügung stehen, abgesichert. JournalistInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, Priester, JuristInnen usw. – kurz die Intellektuellen stehen also im Dienst der herrschenden Klasse, deren Hegemonie sie garantieren sollen.. Gramsci verteidigte eine konstante Arbeit unter den Intellektuellen, die der ArbeiterInnenklasse nahe stehen, um so die Stabilität der sogenannten „Kasematten“ der herrschenden Klasse zu unterminieren. Aus nichts lässt sich jedoch schließen, dass Gramsci einen graduellen Übergang zum Sozialismus für denkbar hielt. Er ging immer davon aus, dass revolutionäre Ideen nur unter den Bedingungen einer sozialen Krise zu einer materiellen Gewalt werden können, und dass der bürgerliche Staat durch einen sich auf ArbeiterInnenräte stützenden ArbeiterInnenstaat ersetzt werden müsse.
Gramsci suchte nach einer Antwort auf die Frage, wie die Revolution im Western, wo die bürgerliche Herrschaft viel stabiler war als jene in Russland und auch in der ArbeiterInnenklasse bürgerliche Ideologien einen großen Rückhalt haben, aussehen könnte. Er schreibt in den Gefängnisheften: „Im Osten war der Staat alles, die bürgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfängen, und ihre Konturen waren fließend. Im Western herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und, erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat war lediglich ein vorgeschobener Schützengraben, hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten lag …)“.
Dieses Zitat wurde von den ReformistInnen (auch in den KPen) immer wieder als Argument für die Unmöglichkeit einer klassischen sozialistischen Revolution in den westlichen Gesellschaften angeführt. Dabei wird natürlich gerne unter den Tisch gekehrt, dass das zaristische Russland, dieser „Völkerkerker“, zwar über einen gewaltigen staatlichen Repressionsapparat verfügte, dass darüber hinaus aber die herrschende Ordnung des russischen Zarismus auch durch die orthodoxe Kirche und den Analphabetismus abgesichert wurde. Die soziale Kontrolle auf Grundlage der von den Pfaffen und den kleinbürgerlichen Intellektuellen geförderten Unwissenheit der Massen war ein wichtiger Stabilisator des zaristischen Systems.
Damals wie heute hängt die Wirksamkeit des gesellschaftlichen Überbaus aber von der Fähigkeit des Kapitalismus die Produktivkräfte und den Wohlstand einer Gesellschaft zu entwickeln ab. Antikapitalistische Massenbewegungen haben immer in einer Ablehnung der Auswüchse des Systems ihren Ausgangspunkt, erst im Zuge des zugespitzten Klassenkampfes werden auch der Staatsapparat und die ideologischen Formen des Überbaus in Frage gestellt.
Gramsci lehnt in den Gefängnisheften den Bewegungskrieg als revolutionäre Strategie, den er mit der russischen Revolution verbindet, als im Westen nicht praktikabel ab und plädiert für einen Stellungskrieg. Er sieht sich dabei selbst in der Tradition Lenins. Die Einheitsfronttaktik sei die adäquate Anwendung dessen. In diesem Zusammenhang kritisiert er Trotzki, indem er die Theorie der permanenten Revolution gleichsetzt mit der Theorie des Bewegungskrieges. Aus unserer Sicht basiert diese Kritik an Trotzki auf einem völligen Unverständnis dieser Theorie. Trotzkis Position zur Frage der revolutionären Strategie wird von Gramsci gleichgesetzt mit der linksradikalen Politik von Bordiga und den deutschen KommunistInnen im Zuge der Märzaktion von 1921, die ohne ausreichende Massenunterstützung den Aufstand organisierten. Diese putschistische Politik endete natürlich in einer schweren Niederlage und wurde von Trotzki auch immer heftig bekämpft. Trotzki war gemeinsam mit Lenin (und dem deutschen Kommunisten Karl Radek) in Wirklichkeit federführend an der Ausarbeitung der Einheitsfronttaktik beteiligt. Die beiden verallgemeinerten dabei in erster Linie die taktischen Erfahrungen aus der russischen Revolution und wandten sie auf die konkrete Situation der Weltrevolution zu Beginn der 1920er Jahre an.
Gramsci betont in den Gefängnisheften stark die Notwendigkeit für die ArbeiterInnenklasse einen möglichst großen Konsens in der Gesellschaft herzustellen. Dies ist sicher ein zentraler Punkt in einem revolutionären Prozess. MarxistInnen streben nicht nur nach der Einheit der ArbeiterInnenklasse sondern auch danach, die (zumindest passive) Unterstützung anderer unterdrückter Schichten der Gesellschaft zu gewinnen. Der Begriff Hegemonie (der Partei der ArbeiterInnenklasse) steht dabei in engem Zusammenhang mit Perioden des Aufstiegs einer revolutionären Bewegung, wenn die unabhängige Aktion der ArbeiterInnenklasse eine Anziehungskraft auf andere ausgebeutete und unterdrückte Schichten auszuüben vermag. In gewöhnlichen Zeiten, wo die Herrschaft des Kapitals nahezu uneingeschränkt ist, können revolutionäre Ideen nie diese Hegemonie entfalten.
Bei aller Bedeutung des Hegemoniekonzepts stellt sich in einer Revolution trotzdem die Frage der Machteroberung. Die Veränderung der Gesellschaft kann nur über einen revolutionären Weg erfolgen, wobei der Aufstand und die Zerschlagung des alten Staatsapparates unerlässliche Schritte sind. Diese klassische Herangehensweise des Marxismus zur Staatsfrage wird von Gramsci auch in den Gefängnisheften in keiner Weise in Frage gestellt.
Nach Lenin wird es dürftig
Wir haben schon angemerkt, dass Lenin nach Ende des Ersten Weltkriegs den Begriff des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ nicht mehr verwendete. Auch in den Dokumenten zu den ersten vier Weltkongressen der Kommunistischen Internationale bis zum Abeleben von Lenin, in denen der Marxismus um etliche Facetten angereichert wurde und wo Fragen der Strategie und der Taktik im Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus einen zentralen Stellenwert hatten, findet sich nichts von einer Debatte über den „Stamokap“.
In den 1920ern befasst sich zwar der kommunistische Ökonom Eugen Varga intensiv mit der Rolle des Staates im Kapitalismus, doch er sollte nach 1945 bei der Parteiführung in Ungnade fallen und findet daher auch kaum noch Erwähnung in der späteren wissenschaftlichen Debatte. Auch Zenker lässt Varga links liegen, obwohl er sonst eine ellenlange Bibliographie anführt. Dass die Vertiefung von Lenins angeblichem Theorieansatz in der Zwischenkriegszeit steckengeblieben war, erklärt Zenker damit, dass die kommunistische Bewegung vor dringlicheren Herausforderungen gestanden sei, nämlich dem Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion und dem Kampf gegen den Faschismus im Westen. Diese Argumentation steht jedoch auf sehr schwachen Beinen, wenn man sich ansieht, dass nach 1945 diese beiden Aufgaben immer sehr eng mit der ökonomischen Analyse der kapitalistischen Welt in Verbindung gebracht wurden. Der wirkliche Grund, warum Zenker auf diese Frage keine Antwort geben kann, ist natürlich darin zu sehen, dass er sich standhaft weigert eine wissenschaftliche Analyse der Entwicklung der Sowjetunion und damit der Rolle der KPen zu leisten. Würde er sich nämlich an diese Aufgabe machen, dann würde sein ganzes Ideengebäude rasch wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.
Entwicklung der Stamokap-Theorie nach 1945
Ideengeschichtlich ist die Zeit nach 1945 eigentlich die wichtigste Periode bei der Herausbildung einer Theorie des Stamokap. Diese Periode wird von Tibor Zenker jedoch weitgehend ausgespart. Warum wohl?
Zenker schreibt über diese Phase kaum etwas und begnügt sich mit einer von Chrustschow entlehnten Kritik an der von Stalin propagierten Zusammenbruchstheorie, der Lenins Diktum vom Imperialismus „als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus“ wohl zu wortwörtlich nahm. Und auch wenn es Zenker nicht gerne sehen mag, gerade unter dem revisionistischen und antileninistischen Pontifikat von Chrustschow wird die Stamokap-Theorie erst so richtig entwickelt, vertieft und als Basis der offiziellen Parteiprogramme der KPen herangezogen. Ein weiterer Widerspruch, den er nur auflösen wird können, wenn er eine wissenschaftliche Stalinismuskritik zu entwickeln vermag.
An dieser Stelle wollen wir Genossen Zenkers etwas lückenhafte Darstellung der Ideengeschichte des Stamokap ein wenig ergänzen. Denn gerade die Phase nach 1945 ist aus unserer Sicht ganz besonders relevant, weil sie erst Einblick verschafft in die tatsächliche Funktion, die diese Theorie in der kommunistischen Weltbewegung hatte. Dabei, so Werner Petrowsky, war die „Entstehung und die Entwicklung der Theorie des Stamokap kein kontinuierlich verlaufender Prozess. (…) Die Geschichte der Theorie des Stamokap ist Ausdruck der laufenden Veränderungen der politischen Einschätzungen der KPdSU einerseits und dem Kontinuum der Rechtfertigung des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande mit den jeweiligen Methoden und daraus abgeleiteten Taktiken der KPen.“
Die Entwicklung der Stamokap-Theorie wurde also weniger durch die wissenschaftliche Diskussion, sondern vielmehr durch die politischen Entscheidungen in den „real-sozialistischen“ Ländern bestimmt. Dies wollen wir in der Folge skizzenhaft darlegen. Zwischen 1945-48 herrschte in den KPen eine grundoptimistische Stimmung vor, wonach die Befreiung vom Faschismus einen Transformationsprozess hin zum Sozialismus einleiten würde. Nachdem, laut den Thesen der stalinistischen Komintern, der Faschismus die letzte Form bürgerlicher Herrschaft sei, gäbe es mit seiner Vernichtung auch keine Perspektive einer weiteren Entwicklung der Produktivkräfte auf kapitalistischer Grundlage. Die eklatante Schwäche der Bürgerlichen, die durch die Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg weitgehend diskreditiert waren, und im Gegenzug die Stärke der Sowjetunion, die sich darin ausdrückte, dass die Rote Armee im Kampf gegen die Nazis bis Berlin, Prag und Wien vorgerückt war, nährten dieses optimistische Bild.
Der Kreml zielte am Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch in erster Linie auf eine friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus ab, um so den eigenen Wiederaufbau zu erleichtern. Stalin selbst lehnte in dieser Phase eine offene Kritik am kapitalistischen System ab, weil er eine freundschaftliche Zusammenarbeit mit den USA einleiten wollte. Klassenkampf im Westen würde somit nur den „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ gefährden. Die Hoffnung der StalinistenInnen war einfach, dass der Kapitalismus ohnedies so angeschlagen sei, dass in einem freien Wettbewerb zwischen den Systemen die Sowjetunion allein überbleiben würde. Diesem Vorbild folgend würden sich dann auch die Massen im Westen dem Kommunismus zukehren. Der Übergang zum Sozialismus wird so völlig automatisch auf die Tagesordnung gesetzt.
In Europa konnten die Bürgerlichen in der (vor)revolutionären Nachkriegskrise nur ihren Hals aus der Schlinge ziehen, indem sie sich politisch auf die reformistischen Kräfte in der ArbeiterInnenbewegung stützten und ökonomisch eine verstärkte Rolle des Staates, der auch Eigentümer in zentralen Sektoren wie der Grundstoff- und Elektrizitätswirtschaft wurde, zuließen. Diese wachsende Bedeutung des Staates in der Ökonomie löste natürlich in der kommunistischen Bewegung eine Debatte über den Charakter des Kapitalismus aus. Der Begriff des Stamokap findet nun wieder Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs. Der Stamokap schien die letzte Phase des Imperialismus, dem „höchsten Stadium des Kapitalismus“ (Lenin) zu sein. Der Übergang zum Sozialismus wäre also nur noch eine Frage der Zeit.
Mit Ausbruch des Kalten Krieges und dem Bruch mit dem titoistischen Jugoslawien zieht ein neuer Wind durch die Wissenschaftsakademien. Der Auftrag an die Ökonomen lautet nun, sich verstärkt mit den Problemen des Imperialismus und der allgemeinen Krise des Kapitalismus auseinanderzusetzen. Die Thesen von Eugen Varga und anderen, die aufgrund der wachsenden Rolle des Staates im Kapitalismus einen langsamen, allmählichen und friedlichen Übergang zum Sozialismus für möglich hielten, wurden plötzlich als reformistische Abweichung gebrandmarkt.
War der Staat vorher der Ausdruck des Übergangs zum Sozialismus so wurde er nun laut Stalin zum letzten Rettungsanker des kapitalistischen Systems. Ökonomischer Zusammenbruch und Faschismus seien die nächste Perspektive für den Kapitalismus. Die KommunistInnen müssten selbst unter diesen Bedingungen aber abwarten und auf den Erfolg im friedlichen Systemwettbewerb setzen. So nebenbei sei hier nur erwähnt, dass in dieser Phase bereits der Nachkriegsboom, der bis Anfang der 1970er Jahre anhalten sollte, voll eingesetzt hatte. Die Wissenschaft, die nur noch eine Karikatur des wissenschaftlichen Sozialismus darstellt, wird nun dazu vergewaltigt die „Richtigkeit“ der stalinistischen Theorien und Praxis zu beweisen.
Ab Mitte der 1950er Jahre waren diese Zusammenbruchstheorien nicht mehr zu halten. Viel wichtiger war jedoch, dass die neue Führungsriege der Sowjetunion einen Kurs der Entspannung mit den USA fuhr. Dies erforderte auch einen neuerlichen Kurswechsel in den Wissenschaftsabteilungen. Mit dem Buch von Kusminov „Der Staatsmonopolistische Kapitalismus“ aus dem Jahre 1955 wurde dem Kapitalismus nun erstmals eine gewisse Entwicklungsmöglichkeit eingeräumt. Der unter Stalin praktizierte Dogmatismus wird nun entsorgt. Man versuchte sich nun zwar in einer echten Kapitalismusanalyse, die Perspektiven orientierten sich aber immer noch an den dogmatischen Leitsätzen, wonach die Systemkonkurrenz nicht mehr lange mithalten wird können.
Aus der Stamokap-Theorie wird die Notwendigkeit einer parlamentarischen Ausrichtung der KPen abgeleitet. Da die Monopole mit ihren Interessen (Wettrüsten!) immer mehr in Widerspruch zu den werktätigen Massen kämen, bestünde die Möglichkeit eines breiten antimonopolistischen Bündnisses der ArbeiterInnenklasse mit der Bauernschaft, den Intellektuellen usw., das auch die Mehrheit im Parlament erlangen könne. Das zentrale politische Ziel sei die Erhaltung des Weltfriedens – damit in der Sowjetunion weiter am Aufbau des Sozialismus gearbeitet werden könne. Da der Stamokap nur noch den Ausweg der Militarisierung und des Krieges hat, gehe vom Kapitalismus eine Gefahr für die gesamte Menschheit aus. Die ArbeiterInnenklasse wird mit solchen Argumenten in klassenübergreifende Bündnisse getrieben.
Nachdem die prognostizierte Weltwirtschaftskrise jedoch ausbleibt, zerplatzen auch die Hoffnungen den Kapitalismus ein- und überholen zu können wie Seifenblasen. Angesichts des Nachkriegsaufschwungs, der die Spielräume für soziale Reformen vergrößert, nehmen in den KPen die Illusionen in eine reformistische Politik stark zu. Der KPI und die KPF, die beiden größten KPen in Westeuropa, treten ab 1959 für ein „Programm der demokratischen und nationalen Erneuerung“ ein. Ein breites antimonopolistisches Bündnis aus „Arbeitern, Bauern, Unabhängigen, Produzenten und Verbrauchern“ soll gegen die Herrschaft der Monopole den Kampf „für die Wiederherstellung der Volksvertretungsinstitutionen“, „für das ordnungsgemäße Funktionieren des Parlaments und der demokratischen Einrichtungen“ führen. Dieser antimonopolistische, stark auf demokratische Losungen ausgerichtete Kampf wird mit der Tendenz des Stamokap zu autoritären Regimes und zum Faschismus argumentiert. Der Regierungsantritt von De Gaulle im Jahr 1958 und die Schaffung der EWG galten als Beweis für diese Richtigkeit dieser Perspektive.
Dies zeigt auch, dass die Taktik des antimonopolistischen Kampfes, der parlamentarischen Ausrichtung, des Ausnützens des Staatsapparates bereits formuliert und in Programme gegossen wurde, bevor noch eine wirkliche Theorie des Stamokap formuliert worden war. Die Stamokap-Theorie sollte vielmehr die „wissenschaftliche“ Begründung für die Taktiken der KPen liefern. Diese antimonopolistische Ausrichtung ist daher in erster Linie auch nur aus den historischen Traditionen der stalinistischen Komintern, und vor allem der Volksfronttaktik seit deren VII. Weltkongress 1935 ableitbar.
Ab Mitte der 1960er Jahre werden die Bemühungen um eine Ausarbeitung einer geschlossenen Stamokap-Theorie intensiviert. Vor allem in der DDR wird diese Arbeit vorangetrieben (z.B. das Buch „Imperialismus heute“, das auch bei Zenker mehrfach zitiert wird). Neben einer verstärkten Analyse des Stamokap werden auf den wissenschaftlichen Tagungen zu diesem Thema auch Fragen der Taktik behandelt. So auf der Internationalen Wissenschaftlichen Session zum 100. Jahrestag der 1. Internationale im September 1964. Der französische Kommunist Jacques Duclos definiert dort das Programm der „demokratischen Regierung von morgen“. Dieses umfasst radikaldemokratische Reformen und Verstaatlichungen, die von einer parlamentarischen Mehrheit der Linksparteien umgesetzt werden sollen. Duclos: „Solche demokratischen Reformen sind noch nicht der Sozialismus, aber ihre Durchführung kann günstige Bedingungen für die Erweiterung des Kampfes für die sozialistische Revolution schaffen.“ Und der italienische KP-Führer Longo: „Die Alternative, die wir vorschlagen und auf deren Grundlage man eine breite Vereinigung der sozialen und politischen Kräfte herstellen kann und muß, ist keine sozialistische Alternative. Wir kämpfen um eine Programmierung der Wirtschaft und eine demokratische Umgestaltung des Staates, die den Weg zum Sozialismus eröffnet.“ Zur Rechtfertigung dieser reformistischen Ausrichtung wird sogar Lenin zurechtgebogen. Emilio Sereni schließt aus Lenins Analyse der Rolle des Staates im Imperialismus, welche in der Phase des Stamokap sogar noch zunähme, die Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse jeden wirtschaftlichen Kampf zu einem politischen Kampf mache, sprich zu einem Kampf für die Demokratisierung des Staates: „Selbst der Kampf um die Macht ist in den kapitalistischen Ländern unter diesen Bedingungen nicht als die Sache eines Moments zu denken, der gestatten würde, sich zur Stunde X des Staatsapparates zu bemächtigen, nur um ihn zu zerschlagen und ihn durch einen anderen zu ersetzen. Eine derartige Auffassung wäre kindisch zu einer Zeit, da die Festigung des staatsmonopolistischen Kapitalismus die Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik grundlegend geändert hat, zu einer Zeit, da der Kampf der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten das Vorzeichen der Institutionen des Staatskapitalismus umzukehren in der Lage ist, um daraus Instrumente einer demokratischen antimonopolistischen Programmierung und Positionen zu machen, deren Eroberung sie in die Lage versetzt, tiefe Breschen in die Festungen des Imperialismus und Kapitalismus zu schlagen.“ Die KPen theoretisieren in dieser Phase also ihren Reformismus und stellen die marxistischen Klassiker auf den Kopf.
In den westeuropäischen KPen wird in dieser Phase auch die notwendige Etappe eines „antimonopolistischen Staates“ erstmals als Ziel definiert, da ein „direkter, unmittelbarer Übergang vom staatsmonopolistischen Kapitalismus zum Sozialismus“ nicht möglich sei. Dabei sollen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht aufgehoben werden. Es geht nur um eine Einschränkung der Monopole. Indem das antimonopolistische Bündnis die staatlichen Regulierungsmethoden des Stamokap in seine Hände nimmt und den Staat demokratisiert, ließe sich eine „harmonische wirtschaftliche Entwicklung erreichen“.
Warum scheiterte der „reale Sozialismus“?
Diese Unvollständigkeit der Genealogie der Stamokap-Theorie ist mit Sicherheit nicht der schlampigen Arbeitsweise des Autors zu schulden. Dass Genosse Zenker prinzipiell ein Meister des Details ist, der gern ellenlang Beispiele und Daten zur Untermauerung seiner Thesen wiedergibt, wird in den äußerst lesenswerten Kapiteln 3 und 4 offensichtlich. Vielmehr liegt der Hund darin begraben, dass er sich nicht traut, das „heiße Eisen“ – die Frage des Scheiterns der Sowjetunion und der „real-sozialistischen Länder“ in Osteuropa – anzupacken. Im Abschnitt 4.2 unternimmt er zwar den Versuch eine Erklärung dafür abzugeben, hier zeigt sich jedoch eine theoretische Schwäche, die für den Charakter des gesamten Buches entscheidend ist.
Wo wir mit Tibor Zenker einer Meinung sind, ist einerseits die historische Bedeutung der Oktoberrevolution und der Existenz der Sowjetunion und andererseits die Einschätzung der katastrophalen Folgen des kapitalistischen Transformationsprozesses für die ArbeiterInnenklasse in Russland. Zenkers Achillesferse ist aber seine fehlende oder besser gesagt falsche Stalinismustheorie.
Er schreibt dabei von „Fehlentwicklungen im administrativen, demokratischen und nicht zuletzt ökonomischen Bereich“. Doch woraus resultierten diese? Erstens natürlich aus der ökonomischen und kulturellen Rückständigkeit Russlands und dem „Fehlen einer vorangegangenen Epoche bürgerlicher Demokratie“. Dieses Argument wäre sogar der Schlüssel zur Auflösung dieser für MarxistInnen so zentralen Frage. Aber fest gefangen in den alten stalinofilen Denkweisen gelingt es Zenker leider nicht die Türe aufzusperren, die ihn der historischen Wahrheit ein wenig näher bringen könnte. Lenin wird so zitiert, als wäre die Frage der ökonomischen Rückständigkeit einzig und allein ein Problem des Systemwettbewerbs. Wer kann sich schneller ökonomisch entwickeln: der kapitalistische Westen oder Sowjetrussland? Alles eine Frage der schnellen Elektrifizierung also…??
Der aus Lenins Sicht viel zentralere Hebelpunkt zur weiteren Entwicklung des jungen Sowjetstaates wird vom Autor leider unter den Tisch gekehrt. Lenin sah nur eine Lösung für den dauerhaften Aufbau eines gesunden ArbeiterInnenstaates, einer sozialistischen Demokratie in Russland, und das war der Erfolg der sozialistischen Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Das Schlüsselland stellte am Ende des Ersten Weltkriegs Deutschland dar. Nur wenn das Proletariat ein Sowjetdeutschland errichtet, kann die Basis für die nötigen wirtschaftlichen Kooperationen gelegt werden, welche den Aufbau der Wirtschaft in Sowjetrussland ermöglichen würden. Würde die Revolution im Westen scheitern und bliebe Sowjetrussland international isoliert, dann wäre eine bürokratische Degeneration unvermeidlich. Bereits 1918 erkennt Lenin anhand konkreter Entwicklungen im jungen Arbeiterstaat diese Gefahr einer Bürokratisierung, die er bis zuletzt und trotz schwerer Krankheit politisch zu bekämpfen versuchte. In unzähligen Reden und Artikeln lässt sich zeigen, dass Lenin all seine Hoffnungen auf eine internationalistische Perspektive der Revolution legte.
Warum spart Zenker diese Tatsache aus? Weil er natürlich die Weichen dahingehend stellen will, dass Lenins Konzeption nicht in Widerspruch mit Stalins Theorie vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ steht. Die Bolschewiki und Lenin hatten im Laufe des Jahres 1917 jedoch die Theorie der Permanenten Revolution, die sich in der Praxis als einzig realistische Methode zur Erklärung der Dynamik der russischen Revolution erwies, übernommen. Diese Konzeption, welche die russische Revolution immer nur eingebettet in die Perspektive der Weltrevolution sah, schloss den Aufbau des Sozialismus in einem Land kategorisch aus. Mit anderen Worten: Im ökonomisch rückständigen Russland waren die Bedingungen zwar reif, dass die in Relation zur Gesamtbevölkerung zwar sehr kleine ArbeiterInnenklasse den Kapitalismus stürzen konnte, ohne eine internationale Ausdehnung der Revolution, ohne Unterstützung der internationalen, speziell der deutschen ArbeiterInnenklasse lief der junge Arbeiterstaat aber Gefahr in der Isolation zu verkommen. Russland war reif für die proletarische Revolution, weil es im Weltmaßstab das „schwächste Glied der Kette“ des internationalen Kapitalismus war. Für die Bolschewiki war es aber völlig undenkbar, dass in Russland selbst eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden könnte. Im bereits angeführten „ABC des Kommunismus“, eine populären Darstellung des Programms der Bolschewiki, steht unmissverständlich: „Die Notwendigkeit der kommunistischen Umwälzung wird vor allem dadurch hervorgerufen, dass Russland allzu sehr in das System der Weltwirtschaft hineingezwängt ist. Und wenn gefragt wird, wie denn Russland zur kommunistischen Gesellschaftsordnung übergehen könne, da es doch ein zurückgebliebenes Land sei, so muss diese Frage vor allem mit dem Hinweis auf die internationale Bedeutung der Revolution beantwortet werden. Die Revolution des Proletariats kann jetzt nur eine Weltrevolution sein.“
So nebenbei sei nur kurz angemerkt, dass Zenker kein Wort darüber verliert, wie es möglich war, dass in Russland überhaupt die sozialistische Revolution siegreich sein konnte bzw. warum die Bolschewiki keine Zwischenetappe einer „antimonopolistischen Demokratie“ oder dergleichen einlegten. Den Ausgangspunkt für die „Fehlentwicklungen“ in der Sowjetunion datiert Zenker dann mit der Entscheidung Stalins im Jahre 1928 die Phase der NÖP weitaus früher zu beenden, „als Lenin es ursprünglich konzipiert gehabt hätte“. Die darauf folgende Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung der Wirtschaft der UdSSR leiteten eine Periode der „Fehlentwicklungen“ ein. Eine Weiterführung der NÖP, also der Zulassung marktwirtschaftlicher Elemente, wäre rückblickend aber fatal gewesen, weil man dann nicht über die nötigen Ressourcen für den Kampf gegen Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg gehabt hätte. Wie er es auch gemacht hätte, der Stalin war halt in einer schwierigen Situation. Da muss man eben Verständnis aufbringen, auch wenn man aus heutiger Sicht die diktatorischen Mittel der Stalinzeit nicht gutheißen könne.
Genosse Zenker sieht den „Schlüssel zum Verständnis … in gewisser Weise in der Frage der Demokratie“. Er geht in seiner Kritik sogar so weit, dass er von einer „aus Sicht des Volkes entrückten Bürokratie im Obersten Sowjet und im Politbüro“ spricht, und dass dies zur Entfremdung der ArbeiterInnen vom Arbeiterstaat führte. Aber um den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken und umdrehen zu können, müsste er einen Schritt weitergehen und die Frage stellen, warum „trotz einer brauchbaren Sowjetverfassung von 1936“ die sozialistische Demokratie mit Füßen getreten wurde, warum die ArbeiterInnenklasse von der Partei „bevormundet und regelrecht ersetzt wurde.“ Wo bleibt da eine historisch-materialistische Erklärung?
Zenker wagt es nicht die Bürokratie als soziales Phänomen zu sehen und ihren Ursprung in der konkreten historischen Entwicklung der Sowjetunion zu benennen. Die Bürokratie ist unter den Bedingungen der ökonomischen Rückständigkeit und der internationalen Isolation zur politisch herrschenden Schicht aufgestiegen. Sie hat jenes politische Vakuum gefüllt, das die im Bürgerkrieg extrem geschwächte ArbeiterInnenklasse hinterlassen hatte. Und sie hatte ein Interesse an der Aufrechterhaltung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse, wie sie aus der Oktoberrevolution hervorgegangen sind. Durch ihre vorherrschende Stellung im Staat, genoss sie ihre materiellen Privilegien. Eine Restauration des Kapitalismus, und eine Weiterführung der NÖP mit der damit verbundenen Stärkung der Kulaken und anderer kapitalistischer Elemente in der Sowjetgesellschaft, hätte großen Teilen der Bürokratie diese privilegierte Stellung an den Machthebeln von Ökonomie und Gesellschaft gekostet.
Die Linke Opposition unter Trotzki hatte bereits ab 1924/5 vor der Gefahr einer Restauration gewarnt und sprach sich – unter gleichzeitiger Beibehaltung einer internationalistischen Perspektive – für eine schrittweise Umstellung auf Investitionen in den Aufbau der Industrie und Anreize für eine freiwillige Kollektivierung der Landwirtschaft aus. Stalin lehnte lange Zeit einen solchen Kurswechsel ab. Erst als die „NÖP-Männer“ und Kulaken eine offensichtliche Bedrohung für die Bürokratie und die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene soziale Ordnung wurden, kam der Kurswechsel hin zu einer Planwirtschaft. Ein Schritt, der völlig überhastet gemacht wurde und dementsprechend viele Opfer forderte.
Was der Stamokap-Strömung fehlt ist ein wirkliches Verständnis der Rolle der Bürokratie in der Sowjetunion. Fehlentwicklungen werden als subjektives Versagen der Parteispitze gesehen, die sozialen Interessen dahinter werden aber ausgeblendet. Dadurch kommen Zenker & Co. immer wieder an Punkte in der Geschichte der Sowjetunion, die sie nicht erklären können. Die Weigerung sich ernsthaft mit der Stalinismusanalyse von Leo Trotzki auseinanderzusetzen, der in diesem Buch in bester Tradition einfach ungenannt bleibt, wird es diesen GenossInnen nur sehr schwer möglich machen, aus dieser theoretischen Sackgasse ausbrechen zu können. In seinem Buch „Verratene Revolution“ hat Trotzki genau diese Fragen nach dem Charakter der Sowjetunion und der Bürokratie beantwortet. Seine Perspektiven für die Sowjetunion aus dem Jahre 1936 haben die Entwicklung Ende der 1980er Jahre und den Zusammenbruch des Stalinismus vorausgesagt. Es ist aber klar, dass es dabei nicht nur um eine historische Debatte über die Sowjetunion geht, sondern dass damit auch die in „Stamokap heute“ behandelten Fragen der revolutionären Strategie auf das Engste verbunden sind.
Revolutionäre Strategie heute
Ausgangspunkt von Zenkers Überlegungen ist die Schwäche der revolutionären Linken nach dem Fall der Berliner Mauer 1989. Eine revolutionäre Perspektive scheint für die Stamokap-Strömung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in weite Ferne gerückt, und da gilt es sich den Kopf zu zerbrechen, wie man in diesen schwierigen Zeiten „günstigere Bedingungen für den Kampf um die klassenlose Gesellschaft“ schafft. Die Frage, wie die revolutionäre Linke tatsächlich aus der Defensive kommen kann, ist tatsächlich entscheidend. Was hat nun Zenkers Buch „Stamokap heute“ dazu zu bieten?
Ihre Antwort entlehnt die Stamokap-Strömung den Programmen der KPen aus den 1980ern. Ganz im Stil des KPÖ-Programms „Sozialismus in Österreichs Farben“ strebt sie „die Schaffung antimonopolistischer Bündnisse“ an, um das Monopolkapital zu schwächen und zurückzudrängen. Alle gesellschaftlichen Schichten, die objektiv andere Interessen als das Monopolkapital haben, sollen zu einem Bündnis zusammengeschmiedet werden: „Das sind in erster Linie natürlich die ArbeiterInnen, die in diesem Bündnis auch die treibende Kraft sein und Klassenpositionen einbringen müssen, aber zweifelsfrei auch die kleinen und mittleren Bauern und Bäuerinnen, (kleinbürgerliche) Intellektuelle, StudentInnen, städtische Mittelschichten sowie eventuell auch KleinunternehmerInnen. Von organisatorischer Seite kann dieses Bündnis u.a. Frauenbewegungen, Ökologiebewegungen, ja auch progressive kirchliche oder religiös motivierte Bewegungen umfassen.“
Der Zweck dieser Bündnisse liege darin, die Offensive des Monopolkapitals und des Imperialismus abzuwehren, und ausgehend von erfolgreichen Defensivkämpfen selbst wieder in die Offensive zu gehen, um den Monopolen soziale und politische Zugeständnisse abzuringen. Die Stamokap-Strömung verfällt hier dem Fehler, den revolutionären Kampf in ein starres, vorgefertigtes Etappenkonzept pressen zu wollen, das allen historischen Erfahrungen zufolge der Dynamik sozialer Bewegungen und revolutionärer Prozesse nicht gerecht werden kann.
Hier rächt es sich, dass Zenker & Co. noch immer keine korrekte Stalinismusanalyse entwickelt haben und krampfhaft an den Traditionen der KPen seit dem VII. Weltkongress der Komintern von 1935 festhalten, wo die Volksfronttaktik ausgegeben wurde. Diese von Stalin und dem bulgarischen Kommunist Dimitroff entwickelte Taktik war die Antwort der StalinistInnen auf die Niederlage gegen den Nationalsozialismus in Deutschland zu Beginn der 1930er. Eine Niederlage, die sie zuvor mit der linksradikalen „Sozialfaschismustheorie“, welche die Sozialdemokratie als Zwilling des Faschismus porträtierte, mitverschuldeten. Überspannte man den Bogen zuerst in die eine Richtung, so wurde mit der Volksfronttaktik nun das andere Extrem gewählt. Die Volksfronttaktik sollte alle antifaschistischen Kräfte der Gesellschaft zu einem Bündnis gegen den Faschismus zusammenschließen. Das Ziel sei nicht mehr vorrangig die sozialistische Revolution sondern der antifaschistische Kampf. Diesem Ziel sollte alles andere untergeordnet werden, was dazu führte, dass die KommunistInnen programmatische Abstriche machten, um ihre potentiellen BündnispartnerInnen im Kleinbürgertum oder unter liberalen Bürgerlichen nicht abzuschrecken. In den meisten Ländern existierte aber bestenfalls der „Schatten“ eines liberalen Bürgertums (Zitat Trotzki). So auch in Österreich, wo sich das bürgerliche Lager fast geschlossen reaktionären Ideologien verschrieben hatte. Hier wurde auf der Grundlage der von absolutem Unverständnis für den wahren Charakter des Faschismus gekennzeichneten „Faschismusanalyse“ von Dimitroff die Volksfront als „Kampfbündnis für die nationale Unabhängigkeit“ geschmiedet. Dies wurde aus der Dimitroffschen Faschismusanalyse, die noch heute bei der Stamokap-Strömung hoch im Kurs steht, abgeleitet. Dimitroff bezeichnete den Faschismus an der Macht als „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“, wobei die „reaktionärste Spielart des Faschismus der Faschismus deutschen Schlages“ sei. Die StalinistInnen verstanden dabei nicht, dass der Faschismus eine soziale Massenbasis in dem von der Krise schwer getroffenen Kleinbürgertum gefunden hatte. In diesem Zusammenhang waren die KPen sogar bereit mit Monarchisten oder anderen reaktionären bürgerlichen Kräften gegen den „aggressiveren deutschen Faschismus“ eine „Volksfront“ zu bilden.
Die Volksfronttaktik endete in einem Land nach dem anderen in einer Niederlage. Da diese Taktik außerdem nur als Appendix zur Außenpolitik des Kreml verstanden werden kann, führte sie letztlich auch dazu, dass in mehreren Fällen revolutionäre Bewegungen von den StalinistInnen offen sabotiert wurden, weil sie eben den außenpolitischen Zielen der Sowjetbürokratie zuwiderliefen (z.B. Spanien 1936, Italien 1943-45, Griechenland 1945).
Die mit der reformistischen Volksfronttaktik verbundene Etappenkonzeption im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft ist seit den 1930ern der rote Faden, der sich durch die strategischen Überlegungen der KPen (und der Stamokap-Strömung) zieht. Mit der Theorie des Stamokap ab den 1960ern wurde diese Bündnisorientierung aus den angeblichen Bewegungsgesetzen des Kapitalismus selbst abgeleitet. Diese Argumentation läuft kurz zusammengefasst in etwa so: Im Stamokap gewinnt der Staat, der den Monopolen vollkommen untergeordnet ist, an immer größerer Bedeutung. Dadurch äußern sich die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche in erster Linie als politische. Die Verflechtung von Ökonomie und Politik konstituiert also ein Primat der Politik. Untergeordnet unter die Monopole hat der Staat natürlich reaktionären Inhalt. Über die „gesellschaftliche Ausbeutung“ im Zuge der staatlichen Regulierungsmechanismen, die rein den monopolkapitalistischen Interessen folgen, wird aber das gesamte „Volk“ ausgeplündert. Alle anderen sozialen Schichten (die wissenschaftlich-technische Intelligenz, Bauern, Kleingewerbetreibende und selbst die „nicht-monopolistische Bourgeoisie“) stehen daher den Monopolen grundlegend antagonistisch gegenüber. Der zentrale Klassenwiderspruch in der marxistischen Theorie zwischen Lohnarbeit und Kapital wird vom Antagonismus zwischen „Monopolen“ und „Volk“ überlagert. Zwischen allen Schichten, die zu den Monopolen im Widerspruch stehen, wird eine Art Interessensidentität angenommen. Um die Monopole zu stoppen, gilt es diese Schichten zu einem Bündnis zusammenzuschließen. In der traditionellen Stamokap-Theorie ergibt sich daraus eine Orientierung darauf, den Staat z.B. durch Wahlen in den Einfluss des antimponopolistischen Bündnisses zu bringen, um dann den Staat mit neuem Inhalt zu füllen und den antimonopolistischen Schichten nutzbar zu machen. Nachdem dieser Theorie zufolge die Grenzen der staatlichen Regulierung ja nur in den Herrschaftsinteressen der Monopolbourgeoisie liegen, folgt logischerweise, dass in einer antimonopolistischen Demokratie eine widerspruchsfreie Planung möglich wäre und in der Folge das Wirtschaftswachstum volle Entfaltung finden und der technologische Fortschritt seines reaktionären Charakters (Umweltzerstörung, nukleare Bedrohung…) befreit werden könnte. Der vom XX. Parteitag der KPdSU als möglich erachtete friedliche und graduelle Weg zum Sozialismus erscheint plötzlich als eine realistische Variante. Der Reformismus der KPen, der in Frankreich 1968 oder in Italien 1969-74 wesentlichen Anteil an der Erfolglosigkeit der dortigen revolutionären Bewegungen hatte, bekam somit eine theoretische Legitimation.
Voraussetzung ist natürlich, dass die ArbeiterInnenklasse in diesen antimonopolistischen Bündnissen die treibende Kraft ist und Klassenpositionen einbringt, so Zenker. In seinem Buch beweist Zenker dann auf mehreren Seiten die zentrale Rolle der ArbeiterInnenklasse. 90% der Bevölkerung seien heute Lohnabhängige. 7-8% gehören zu den „selbsterarbeitenden EigentümerInnen (Kleinbauern, Freiberufler,…) und maximal 2-3% zur Klasse der KapitalistInnen. Zenker leistet mit seinen Statistiken und Ausführungen einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung einer marxistischen Klassenanalyse gegen all jene, die in der ArbeiterInnenklasse nicht viel mehr als ein historisches Subjekt sehen. Aus unserer Sicht drängt sich an dieser Stelle jedoch die Frage auf, was angesichts dieser zentralen Rolle der ArbeiterInnenklasse in der Gesellschaft und daraus folgend im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft noch für eine derartige Betonung der Bündnispolitik sprechen könnte?!
Bereits in den 1970ern gab es in Stamokap-Kreisen eine heftige Debatte über marxistische Klassenanalyse und vor allem den Klassencharakter der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Gegen die Linie der Parteiorthodoxie gab es damals bereits Ansätze, die meinten, große Teile der Intelligenz gehörten zum gesellschaftlichen Gesamtarbeiter, was natürlich eine Bündnisorientierung zwischen ArbeiterInnenklasse und Intelligenz ad absurdum führen würde. Vielmehr ging es für MarxistInnen darum, bei allen durch materielle Unterschiede – zwischen einem Hochofenarbeiter und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin in einem Labor – und ideologische Spaltungsversuche verursachten Differenzierungen, die Einheit der Klasse im Kampf herzustellen. Zenker gelingt es trotz all seiner positiven Ansätze auch in dieser Frage nicht diesen Widerspruch aufzulösen. Einerseits wird die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Klasse der Lohnabhängigen zugezählt, andererseits versucht man krampfhaft diese 75, 80 oder gar 90% auf eine Bündnispolitik mit anderen „antimonopolistischen Schichten“ zu orientieren, die dazu führt sozialistische Forderungen zugunsten demokratischer, an den Interessen der Bündnispartner anknüpfende Forderungen zurückzustellen sowie Methoden des Klassenkampfes, die den Bündnispartnern zu radikal erscheinen mögen, hinten an zu halten.
Begründet wird die Notwendigkeit dieser Bündnispolitik damit, dass die ArbeiterInnenklasse in der Defensive ist, dass das Klassenbewusstsein noch nicht genügend ausgeprägt sei. Wie soll dann gerade aber diese ArbeiterInnenklasse in einem antimonopolistischen Bündnis die vorwärtstreibende Kraft sein? Klassenbewusstsein entwickelt sich nun einmal im Klassenkampf. Wenn dieser aber in Hinblick auf das Bündnis zurückgehalten wird, hat das auch Auswirkungen auf das Klassenbewusstsein. Dazu fehlt der Stamokap-Strömung aber das Verständnis, wie sich auch in ihrer Praxis zeigt. Sie reduziert marxistische Schulungsarbeit rein auf die Lektüre marxistischer Klassiker und die Organisation von Seminaren. Die Herausbildung von revolutionären Kadern kann aber nur gelingen, wenn es eine Einheit von Theorie und Praxis gibt, wenn neben der klassischen Schulungstätigkeit GenossInnen auch in der praktischen Arbeit, im Klassenkampf als Revolutionäre tätig sind. Wer dies nicht beherzigt, wird in seiner kleinen sterilen „marxistischen“ Welt isoliert bleiben und schlussendlich dem Druck des Reformismus nachgeben.
Eng damit verbunden ist auch eine der Hauptschwächen von Zenkers Buch. Zenker ist ein Meister, wenn es darum geht, ein passendes Lenin-Zitat zu finden. Und wo Lenin & Co. nichts zu bieten haben, weil sie völlig andere Konzepte als die Stamokap-Strömung vertraten, stützt er sich auf die theoretischen Werke der DKP und der SED bzw. werden bewusst oder unbewusst Zitate von Engels und Lenin zu Problemen der bürgerlichen Revolution aus dem historischen Kontext gerissen und so dargestellt, als wären sie punktgetreu für eine Strategiediskussion in der ArbeiterInnenbewegung im imperialistischen Zeitalter Anfang des 21. Jahrhunderts geschrieben worden.
Und Zenker beherrscht es auch Zitate der Klassiker mit Zahlenmaterial aus Statistiken der bürgerlichen Wissenschaften zu untermauern. In einem Punkt wird er jedoch seinem Anspruch an die marxistische Methode nicht gerecht. Sein Wissen über die Schriften von Marx, Engels und Lenin und seine gründliche Darstellung des modernen Kapitalismus befähigen ihn nicht Perspektiven für den Klassenkampf zu entwickeln. Über rein abstrakte Formeln, die er den Stamokap-Theoretikern vor mehr als 20 Jahren entlehnt hat, kommt Genosse Zenker leider nicht hinaus. Nirgends bezieht er sich auf die aktuellen Klassenkämpfe in Europa, nirgends fällt ein Wort über die revolutionären Prozesse in Lateinamerika. Dementsprechend vage und abstrakt bleiben auch die Ausführungen zur Strategie. Wie sollen die antimonopolistischen Bündnisse aussehen? Welche Ansprechpartner hat dabei die ArbeiterInnenbewegung? Den Bauernbund? Die Wirtschaftskammer? Irgendwelche bürgerliche Parteien? Christliche Organisationen wie die Fokolarbewegung?
Indirekt werden an einer Stelle die Proteste gegen WEF, WTO, G8 usw. als positives Beispiel für solch antimonopolistische Bündnisse genannt. Einmal ganz abgesehen davon, dass die Stamokap-Strömung dort, wo es in Österreich möglich und notwendig gewesen wäre, diese Proteste mitzuorganisieren und aus marxistischer Sicht zu beeinflussen, durch Abwesenheit glänzte, so fehlt hier auch eine klare Perspektive. Wie stehen MarxistInnen zu dieser „Antiglobalisierungsbewegung“? Wo muss eine marxistische Kritik dieser „Bewegung der Bewegungen“ ansetzen? „Der Funke“ und international die IMT (www.marxist.com) betonten immer, dass in diesen Protesten die organisierte ArbeiterInnenklasse die zentrale Rolle einnehmen müsse. Dass nicht zivilgesellschaftlicher bis anarchistischer Aktionismus die Bewegung voranbringen kann, sondern nur die traditionellen Methoden des Klassenkampfs wie der Streik und gut organisierte Massendemos. Und wir haben eine scharfe Kritik an den diversen reformistischen Konzepten, die in der Bewegung unter verschiedenen Mäntelchen auftraten, formuliert und diesen eine revolutionäre-sozialistische Perspektive entgegengestellt. Wie positionierte sich die Stamokap-Strömung in dieser Bewegung? Wir können es nur vermuten, denn zu solch praktischen Fragen will sich Genosse Zenker leider nicht äußern…
Solange die Stamokap-Strömung nicht erklärt, wie diese antimonopolistischen Bündnisse konkret aussehen und mit wem sie zu schmieden sind, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, es handle sich dabei um volksfrontähnliche Bündnisse, in denen KommunistInnen auf zentrale Bereiche ihres Programms und ihrer Methoden verzichten müssen. Wo ist der Unterschied zur Idee der Sozialforen, wie sie ein Fausto Bertinotti oder ein Walter Baier vertreten, die ja genauso aus einer Stamokap-Tradition kommen? Ein englisches Sprichwort besagt: „The proof of the pudding is the eating.“ D.h. eine Theorie macht nur Sinn, wenn sie sich in der Praxis auch anwenden lässt. Bei der Konzeption der antimonopolistischen Bündnisse können einem da schon mal Zweifel kommen, ob wir den Pudding überhaupt jemals zu Gesicht bekommen werden.
Die Stamokap-Strömung hat in ihrem Bild der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung leider einen großen „blinden Fleck“. Dieser umfasst die ersten vier Weltkongresse der Kommunistischen Internationale unter Lenin und Trotzki. Die Entwicklung der marxistischen Theorie in dieser Phase auf Grundlage der Erfahrungen der Russischen Revolution und der revolutionären Kämpfe nach dem Ersten Weltkrieg sollte zum ABC eines jeden Revolutionärs gehören. Die Einheitsfrontpolitik, die Losung der Arbeiterregierung, die Thesen zur Gewerkschaftsarbeit, all diese Punkte sind für die Stamokap-Strömung aber leider eine terra incognita.
In diesem Zusammenhang legen wir allen GenossInnen der Stamokap-Strömung die „Thesen zur Taktik – Der Weg zur sozialistischen Revolution“ des 3. Weltkongresses der Komintern ans Herz. Darin liefert die Komintern eine Antwort auf die Frage, wie die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse für die Grundsätze des Kommunismus gewonnen werden kann. Das zentrale Ziel der KommunistInnen ist demzufolge die Herstellung der Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital unter der Führung der Kommunistischen Partei. Solche kommunistische Parteien können sich nur im Klassenkampf entwickeln. „Die gesamte Agitation und Propaganda, die gesamte Arbeit der kommunistischen Parteien muss erfüllt sein von dem Bewusstsein, dass auf dem Boden des Kapitalismus keine dauerhafte Besserung der Lage der Masse des Proletariats möglich ist, dass nur die Niederwerfung der Bourgeoisie, die Zertrümmerung des kapitalistischen Staates die Möglichkeit gibt, an die Besserung der Lage der ArbeiterInnenklasse zu schreiten. (…) Aber diese Einsicht darf sich nicht ausdrücken in dem Verzicht auf den Kampf um die aktuellen, unaufschiebbaren Lebensnotwendigkeiten des Proletariats bis es fähig sein wird, sie durch seine Diktatur zu verfechten.“
Das Programm, dass die Komintern dabei aufstellt, umfasst „ein System von Forderungen, das in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Etappen im Kampf um die proletarische Diktatur bilden und deren jede für sich dem Bedürfnis der breitesten Massen Ausdruck verleiht, auch wenn diese Massen noch nicht bewusst auf dem Boden der proletarischen Diktatur stehen. In dem Maße, wie der Kampf um diese Forderungen immer größere Massen umfasst und mobilisiert, in dem Maße wie dieser Kampf die Lebensnotwendigkeiten der Massen den Lebensnotwendigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft entgegenstellt, wird die ArbeiterInnenklasse sich bewusst werden, dass, wenn sie leben soll, der Kapitalismus sterben muss; dieses Bewusstsein ist die Grundlage des Willens zum Kampfe um die Diktatur.“ Aus Teilkämpfen, der immer breitere Teile der ArbeiterInnenklasse umfassen sollen, entsteht so ein verallgemeinerter Kampf um die Staatsmacht. Die stalinistischen Parteien haben später diese Methode immer mehr aufgegeben und durch die für die frühe Sozialdemokratie übliche Trennung in ein Minimalprogramm für tägliche Reformen und ein Maximalprogramm für das „Fernziel“ Sozialismus ersetzt. Sie bieten im Gegensatz zur frühen Komintern und zur IV. Internationale von Trotzki keine Antwort darauf, wie diese beiden dialektisch miteinander verbunden werden können. Der Kampf für Sozialismus wird dadurch in Wirklichkeit losgelöst vom aktuellen Klassenkampf und auf den St. Nimmerleinstag verschoben. Der Sozialismus wird wieder zu einer abstrakten Idee ohne Bezug zur Realität.
Die „Thesen zur Taktik“ der Komintern befassen sich auch mit der Frage des Verhältnisses zu den Mittelschichten der Gesellschaft. Dazu lesen wir Folgendes: „In Westeuropa gibt es keine andere große Klasse, die neben dem Proletariat zum ausschlaggebenden Faktor der Weltrevolution werden könnte, wie es in Russland der Fall war, wo das Bauerntum durch den Krieg und Landhunger von vornherein zum ausschlaggebenden Kampffaktor neben der Arbeiterklasse wurde.“ Aber die kapitalistische Krise trifft auch Bauern und große Teile des alten und neuen Mittelstandes. KommunistInnen müssten versuchen diese Schichten für das revolutionäre Programm zu gewinnen, weil dies eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Revolution darstellt. Diese Schichten sind in normalen Zeiten wichtige soziale Stabilisatoren der herrschenden Ordnung. MarxistInnen müssen in ihrem Programm Ansätze entwickeln, um diese Schichten zumindest zu neutralisieren, bestenfalls um sie für die Revolution zu gewinnen. Der Erfolg dieser Politik entscheidet ganz wesentlich über den Verlauf eines revolutionären Prozesses. Es gibt etliche historische Beispiele aus der Revolutionsgeschichte, die zeigen, dass Revolution nicht gleichbedeutend sein muss mit einem Blutvergießen, da sich der bürgerliche Staatsapparat unter dem Druck der Massen entlang von Klassenlinien spaltet und oft (für zumindest kurze Zeit) nicht mehr als Repressionsinstrument einsetzbar ist. Auch wenn unser Ziel eine möglichst friedliche Form der Revolution ist, so muss uns aber bewusst sein, dass der Übergang zum Sozialismus nicht schrittweise, graduell verlaufen kann. Eine Revolution ist immer ein gewaltsamer Akt, wie Marx erklärte. Damit ist gemeint, dass eine Revolution nur siegreich sein kann, wenn es der revolutionären Bewegung gelingt mittels Aufstand die politische Macht zu erlangen und den alten Staatsapparat, der die herrschende Ordnung verteidigt, zu zerschlagen. „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“ (Marx und Engels in ihrem Vorwort zum „Kommunistischen Manifest“ aus dem Jahre 1872) Der Marxsche Gedanke, so Lenin, besteht gerade darin, dass die Arbeiterklasse „die fertige Staatsmaschine“ zerschlagen, zerbrechen muss und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.
Leo Trotzki entwickelte in den 1930ern das Konzept eines Programms von Übergangsforderungen auch in Hinblick auf die Gewinnung der Bauern für die Revolution weiter. Entgegen anderslautenden Anschuldigungen von Seiten der StalinistInnen nimmt die Bauernfrage dabei einen wichtigen Platz ein. Zur Frage des Bündnisses zwischen der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft schreibt er im „Übergangsprogramm der IV. Internationale“ folgendes: „Die Bauern repräsentieren eine andere Klasse: das ist das Kleinbürgertum des Dorfes. Das Kleinbürgertum setzt sich aus verschiedenen Schichten zusammen, von den Halbproletariern bis zu den Ausbeutern. Deshalb besteht die politische Aufgabe des Industrieproletariats darin, den Klassenkampf in das Dorf zu tragen: nur so kann es seine Verbündeten von seinen Feinden trennen.“ Durch ein Programm von Übergangsforderungen soll der Bauernschaft eine Antwort auf ihre konkreten Bedürfnisse (billige Kredite, erschwingliche Preise für Landmaschinen und Dünger,…) gegeben werden.
Mit keinem Wort spricht die frühe Komintern in der Frage eines Bündnisses der ArbeiterInnenklasse mit der Bauernschaft von einem „antimonopolistischen Bündnis“. Vielmehr gilt es aus ihrer Sicht diese Schichten wie auch noch nicht organisierte und klassenbewusste Teile der ArbeiterInnenklasse ohne irgendwelche Zwischenetappen über Teilkämpfe für die „Ideen des Kommunismus“ zu gewinnen. Die Etappenkonzeption des Stamokap war der frühen Komintern unter Lenin also völlig fremd.
Schlussbemerkungen
Trotz all dieser Kritik muss man Genossen Zenker zugute halten, dass sein Buch gegenüber herkömmlicher Stamokap-Literatur einen Fortschritt darstellt. Seine kritischen Analysen zum Scheitern der revolutionären Prozesse in Guatemala 1954 oder in Chile 1973 führen ihn sogar nahe an eine Lösung der zentralen revolutionstheoretischen Fragen der ArbeiterInnenbewegung. In seinen Darstellungen ist die Notwendigkeit der Permanenz der Revolution bereits angelegt. Die daraus folgende Konsequenz wagt er jedoch nicht zu nennen. Denn es würde sein gesamtes theoretisches Konzept durcheinanderbringen. Trotzki und dessen Theorie der permanenten Revolution müssen somit außen vorbleiben, müssen totgeschwiegen werden, damit sie nicht das stalinistisch geprägte Denken in Formeln durcheinander wirbeln.
Genosse Zenker weigert sich in diesem Buch leider die stalinistischen Scheuklappen abzulegen und trabt daher weiter im Kreis. Durch seine großen Anstrengungen bei der Darstellung des Imperialismus, nicht zuletzt auch des österreichischen, liefert er ein Buch, das von linken AktivistInnen durchaus gelesen werden sollte. Mit seinem reichhaltigen Zahlenmaterial präsentiert er eine lesenswerte Studie des Kapitalismus. Sie liefert eine interessante Grundlage für weitere Debatten zum Charakter des gegenwärtigen Imperialismus.
Solange Genosse Zenker aber in der Zwangsjacke stalinistischen Denkens verharrt und die dem revolutionären Marxismus von Lenin und der frühen Komintern völlig entgegengesetzten Etappenkonzeptionen und die Volksfronttaktik im Gewande einer „antimonopolistischen Bündnisorientierung“ die Treue hält, wird er auch keine brauchbaren strategischen und taktischen Ansätze für die neue Generation von RevolutionärInnen liefern, die den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft zu führen bereit sind. Durchaus interessant ist noch, dass sich Zenker in seinen eigenen Schlussbemerkungen zu seinem Buch bei der Frage nach den Konsequenzen für die praktische Arbeit von MarxistInnen wiederum voll auf die ArbeiterInnenbewegung konzentriert: „Es gilt systemüberwindende Perspektiven und sozialistische Positionen erst wieder in diese Organisationen (Gewerkschaften, Sozialdemokratie; Anm.) hineinzutragen und eine entsprechende Hegemonie anzustreben.“ Weiters plädiert er für eine Internationalisierung der ArbeiterInnenbewegung. Von antimonopolistischen Bündnissen ist nun plötzlich kein Wort mehr zu finden. Die in diesem Buch angelegten Widersprüche wird die Stamokap-Strömung in den zukünftigen Klassenkämpfen aber auflösen müssen.
Wir hoffen, dass aus der Polemik zu diesem Buch die Diskussion über eine Vertiefung des Verständnisses marxistischer Theorie in der deutschsprachigen Linken weiter belebt wird und dies zur Herausbildung einer starken marxistischen Strömung in der ArbeiterInnenbewegung beitragen kann.
1.10.2005