In der Führung der Sozialistischen Jugend (SJ) Wien erfreut sich der französische Philosoph Louis Althusser einer außergewöhnlichen Beliebtheit. Seine Theorien werden als „Weiterentwicklung des Marxismus“ im Gegensatz zur angeblich plumpen Staatstheorie von Marx und Lenin (diese wird als „instrumentell“ verunglimpft) und den Ideen der Funke-Strömung dargestellt. Das Ziel dieses Textes ist es, den „Althusserismus“ näher zu beleuchten, d.h. seiner Methode und deren Konsequenzen auf die Spur zu kommen. Von Vera Kis.
Diese Debatte mag auf den ersten Blick als theoretische Spitzfindigkeit und unnötige Auseinandersetzung erscheinen, kann aber für die Zukunft der SJ durchaus von Bedeutung sein.
Im Interview mit Louis Althusser zitiert dieser selbst aus Lenins Schrift Was tun?:
„Man muss kurzsichtig sein, um die Fraktionsdiskussionen und die strenge Begrenzung von Nuancen als inopportun oder überflüssig zu betrachten. Von der Festigung dieser oder jener ‚Nuance’ kann die Zukunft der russischen Sozialdemokratie für lange, sehr lange Jahre abhängen.“
Hier stimmen wir zu, und das gleiche gilt ebenso für die SJ Wien. Daher liefern wir mit diesem Text einen Beitrag zur Diskussion. Dies ist, um mit Althusser höchstpersönlich zu sprechen, notwendig, da sich „Die marxistische Theorie … der Geschichte gegenüber verspäten und auch sich selbst gegenüber verspäten [kann], wenn sie jemals glaubt, angekommen zu sein.“ (aus: Louis Althusser: Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?)
Frei nach diesem Zitat versucht der vorliegende Text im ersten Teil die Grundlagen marxistischer Philosophie auszuarbeiten und im zweiten Teil sie mit Althussers Denkweise zu vergleichen und die praktischen Folgen beider Ansätze deutlich zu machen, zum Beispiel in Bezug auf die Revolutions- und Staatstheorie.
Teil 1: Dialektik
Dialektik und marxistische Philosophie…
Die Welt (Natur und Gesellschaft) um uns herum verändert sich ständig. Bewegung ist eine Eigenschaft der Materie. Die Dialektik ist eine Denkweise, die diese Bewegung, Entwicklung und Veränderung nachvollziehen will. Dabei geht sie davon aus, dass der Widerspruch die Triebfeder der Entwicklung ist. Man könnte auch sagen, dass Dialektik die „Logik der Entwicklung“ ist.
Dadurch unterscheidet sie sich von den verschiedensten Arten der „formalen Logik“, die auf Aristoteles zurückgehen und einen unbeweglichen Zustand voraussetzen. Ein Beispiel dafür ist der aristotelische Satz vom Widerspruch, der besagt, dass ein Ding nicht gleichzeitig es selbst und ein anderes sein kann, beziehungsweise entweder es ist – oder es ist nicht. Oder formal aufgeschrieben: A ist ungleich Nicht-A. Dieser Satz aber sieht – wie alle anderen formalen Logiken nach ihm – von der Bewegung ab. Er negiert die Veränderung. Zum Beispiel sagte schon Heraklit, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, da dieser ja fließt, d.h. sich verändert. In manchen Fällen ist die Abstraktion der formalen Logik berechtigt. Zum Beispiel ist es einer Limonadenfirma egal, dass nicht einmal zwei der Flaschen, die sie verwendet, ganz gleich sind. Solange die Unterschiede eine bestimmte Toleranzgrenze nicht überschreiten, kann man sie außer Acht lassen. Das heißt, innerhalb enger Grenzen ist die formale Logik gültig.
Will ich aber die Entwicklung eines Prozesses (zum Beispiel der Geschichte) verstehen, reicht die formale Logik nicht mehr aus. Entwicklung nämlich bedeutet Veränderung. Das heißt, A ist nicht mehr gleich A, sondern entwickelt sich beispielsweise von A zu B. Das bedeutet, dass im Laufe dieses Prozesses ein Zustand eintritt, wo A nicht mehr A, aber noch nicht B, oder anders gesagt, wo es sowohl A als auch B, bzw. A und Nicht-A zugleich ist. Trotzki schrieb, dass die Dialektik im gleichen Verhältnis zur formalen Logik steht, wie ein Film zu einem Foto: Worum es den DialektikerInnen geht, ist also nicht nur die Momentaufnahme der Fotos A und B, sondern der Prozess, der zwischen den Fotos steht, zum Beispiel welche Kräfte oder Widersprüche in A angelegt sind, die schließlich zu B führen
Eine weitere Besonderheit der Dialektik – im Unterschied zu allen Formen der formalen Logik – ist die Idee der Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, in Hegelschen Worten, zwischen dem Vermittelten und dem Unmittelbaren. Das bedeutet, dass das an der Oberfläche Sichtbare Ausdruck von darunter liegenden Tendenzen ist. Diese Tendenzen können lange unter der Oberfläche liegen, bis sie an einem gewissen Punkt offen zu Tage treten. Ein konkretes Beispiel dafür ist die kapitalistische Gesellschaft: Ihre Produktionsverhältnisse bringen zwei verfeindete Hauptklassen, das Bürgertum und die Arbeiterklasse, hervor. Die längste Zeit in der Geschichte ist das aber an der Oberfläche nicht sichtbar. Die Mehrheit der Menschen lebt und arbeitet, ärgert sich vielleicht über den Chef, aber kommt in Normalzeiten nicht auf die Idee, dass es der Kapitalismus ist, der ihr ganzes Leben, und direkt oder indirekt alles, was in der Gesellschaft vor sich geht, bestimmt. Das heißt, dass in ruhigen Zeiten der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit unter der Oberfläche liegt, nicht sichtbar ist. Das kann sich aber ziemlich schnell ändern. Durch einen äußeren Schock, z.B. einen Krieg, kann sich das Bewusstsein der Massen sprunghaft verändern. Die Gesellschaft polarisiert sich und es wird deutlich, dass es der tieferliegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist, der das Leben der Menschen im Kapitalismus bestimmt. Unter den Bedingungen einer Revolution kommen die meistens nicht sichtbaren Zusammenhänge ans Licht, die den Kapitalismus ausmachen und werden zum bestimmenden Faktor der Situation. In Normalzeiten aber sind sie nicht offensichtlich.
Im Gegensatz zur Dialektik erkennt die formale Logik keine sich wandelnden, sondern höchstens mechanischen Zusammenhänge an, z.B. ich schlage mit einem Hammer auf ein Glas und es zerbricht. Das bedeutet, sie akzeptiert nur sichtbare Zusammenhänge. Da sie die Dinge in ihrem Stillstand und nicht in ihrem Wandel sieht, erkennt sie in Hegelscher Sprache nur die Phänomene an, aber nicht das Wesen. Das Ziel der MarxistInnen ist der Sturz des Kapitalismus, der Sturz aller Verhältnisse in denen „der Mensch ein geknechtetes Wesen“ ist. Es ist aber nur möglich die Welt zu verändern, wenn man sie erkennen kann. Die marxistische Philosophie geht also davon aus, dass der Mensch grundsätzlich fähig ist, die Gesetze der Natur und der Gesellschaft zu erkennen und das mögliche Wissen der Menschheit durch nichts beschränkt ist. Die Erkenntnis entsteht in der Wechselbeziehung von menschlichem Geist (menschlicher Wahrnehmung) und dem Rest der Natur. Dadurch ist es möglich, immer mehr von der Wahrheit/Wirklichkeit zu erkennen.
Essentiell für den Marxismus ist die Beziehung der Theorie zur Praxis. In der Praxis bestätigt sich – früher oder später – die Richtigkeit oder Nicht-Richtigkeit einer Theorie.
Denn: „die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.“ [und] „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (Karl Marx: Thesen über Feuerbach, S. 533, 535.)
Auch hier wird die Notwendigkeit der Praxis deutlich.
…und Strukturalismus
Die StrukturalistInnen suchen nach den inneren Zusammenhängen von „Systemen“, die aus vielen Einzelteilen bestehen, dabei kann es sich um Gesellschaftsordnungen, die Mikrobiologie oder die Linguistik handeln. Das verbindet sie mit MarxistInnen, allerdings geht der Strukturalismus mit einer unbeweglichen Betrachtungsweise an die Dinge heran. Die Zusammenhänge, die er sucht, müssen sichtbar sein und identifiziert werden können. Sie versuchen, das Wesen eines Ganzen aus seinen „Strukturen“, das heißt, aus dessen Teilen und deren Zusammenhängen zu erklären. Das verbindet Strukturalismus mit der formalen Logik.
Hier liegt – abgesehen von der statischen Betrachtungsweise – ein weiterer wichtiger Unterschied zum dialektischen Denken: DialektikerInnen und MarxistInnen gehen davon aus, dass ein Ganzes, ein komplexes System, das aus vielen Einzelteilen besteht, Eigenschaften hervorbringt, die weder aus den Eigenschaften der Einzelteile, noch aus den sichtbaren Zusammenhängen zwischen einzelnen dieser Teile erklärt werden können. Die Eigenschaften, die dazu führen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, entstehen durch die Wechselwirkung aller Systemteile mit allen anderen Systemteilen. Die Eigenschaften des Systemganzen sind oft unter der Oberfläche versteckt, werden jedoch unter bestimmten Bedingungen zum alles bestimmenden Moment des Systems. Hegel und Marx nennen diese Art von Tendenzen unter der Oberfläche auch „Wesen“ im Gegensatz zur „Erscheinung“. Diese Auffassung vom Wesen wurde von AntimarxistInnen immer wieder als Mystizismus oder Metaphysik bezeichnet, da das Wesen unter der Oberfläche nicht greifbar und nachweisbar sei. Schon für Hegel war wichtig, dass das Wesen nicht einfach behauptet werden kann, sondern nachgewiesen werden muss, wie es sich an der Oberfläche widerspiegelt und wie es immer wieder bereits tatsächlich zum alles bestimmenden Moment des Ganzen geworden ist. Marx entwickelt diese Auffassung weiter, indem er verlangte, dass die wesentlichen Zusammenhänge anhand der tatsächlichen Bewegung der Natur und der Geschichte materialistisch nachgewiesen werden müssten.
Während die formalen Logik und der Strukturalismus das Ganze aus der Summe seiner Teile, Strukturen und Oberflächenzusammenhängen verstehen möchten, versuchen DialektikerInnen die Teile, Strukturen und Oberflächenzusammenhänge aus den Eigenschaften des Systemganzen, also aus dem Wesen des Ganzen, zu erklären. Da also die „Strukturen“ aus dem Wesen des Ganzen erklärt werden müssen, können strukturalistische ForscherInnen, die den umgekehrten Weg zu gehen versuchen, das Wesen der untersuchten Phänomene oft nicht erkennen. Wenn die StrukturalistInnen davon sprechen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dann meinen sie, dass das Ganze eigentlich die Summe seiner Strukturen und „koexistentieller Gesetze“, also der offensichtlichen Zusammenhänge zwischen den Strukturen, ist. Dieses Verständnis vom Ganzen unterscheidet sich von der formalen Logik in Wirklichkeit nicht. Wie wir bereits gesehen haben, kann das Systemganze durch keine Aufsummierung von Teilaspekten verstanden werden, egal, wie diese benannt werden. Eigenschaften des Systemganzen, die ihrerseits die Eigenschaften der Teile, der Strukturen und der einfachen Zusammenhänge bestimmen, können durch die strukturalistische Logik nicht erfasst werden. Das bedeutet, dass weder die Kausalität, noch die Dynamik oder die inneren Bewegungstendenzen des Systems verstanden werden können.
In diesem Zusammenhang ist es auch nicht verwunderlich, dass die StrukturalistInnen von der Bewegung abstrahieren, die Zeit auf 0 setzen (t = 0), damit gibt es keine Bewegung. Der Strukturalismus ist an den Gesetzen, die den Zusammenhalt und Aufbau der erforschten Strukturen bedingen, interessiert, nicht an Kausalitäten oder Dynamik. Man sucht den „anatomischen Querschnitt“[1] des erforschten Objekts.
Der Strukturalismus wurde im Frankreich der 1960iger Jahre – nachdem der zur unmittelbaren Nachkriegszeit passende Existenzialismus an Anziehungskraft zu verlieren begann – eine Art intellektueller Mode. Nicht nur in der Philosophie, sondern für ForscherInnen aus fast allen Gebieten (Linguistik, Anthropologie) war diese Denkweise attraktiv. Für die StrukturalistInnen haben „Sprachspiele“ besondere Bedeutung; also die Ähnlichkeit oder der Gleichklang ganz verschiedener Wörter. Die Grenzen des Strukturalismus liegen in seinem Fokus auf der Form, wobei eben von ihrem konkreten Inhalt abstrahiert und die Bedingungen seiner Entwicklung (z.B. historische Bedingungen) ignoriert werden. Es wird also hauptsächlich Wert auf die Form („Struktur“) gelegt und dabei ihre Beziehung zum Inhalt ignoriert. Das kann aber zu ganz falschen Ergebnissen führen.
Das Problem mit komplexen Systemen ist ja eben, dass man sie nicht unabhängig von der Zeit und damit von der Bewegung erklären kann. Sobald man die Zeit in einem komplexen System laufen lässt, kommt es zu Ergebnissen, die nicht aus den Einzelteilen erklärt werden können, da sich immer wieder plötzlich wesentliche Zusammenhänge Bahn brechen. Oder anders formuliert: Ein System von gleichen interagierenden Bestandteilen führt zum Beispiel zu Katastrophen, die nicht aus den Eigenschaften der Einzelteile erklärt werden können. Ein berühmtes Beispiel für diese Dialektik ist ein Sandhaufen, der dadurch vergrößert wird, dass man einzelne Sandkörner auf seine Spitze fallen lässt. Von außen ist nicht sichtbar, wie lange der Sandhaufen noch wächst, beziehungsweise, wann der Wendepunkt kommt, an dem der Haufen in sich zusammenfällt beziehungsweise zerstört wird, indem sich Lawinen lösen. Dieser Punkt ist nur aus der Geschichte des Sandhaufens erklärbar.
Moderne WissenschaftlerInnen versuchen, das Sandhaufenproblem auf recht dialektische Weise darzustellen. Diese wird durch folgende Computersimulation klar gemacht: Wir haben einen Sandhaufen. Die stabil liegenden Körner sind grün. Mit der Zeit und dem Wachstum unseres Sandhaufens aber kommen rote, instabile Körner hinzu und werden immer mehr. Durch den grün markierten Haufen laufen immer größer werdende „fingers of instability“, die schließlich den gesamten Sandhaufen durchziehen. Man kann anschaulich sehen, wie mit einem zusätzlichen Sandkorn das „Kräfteverhältnis“ zwischen roten und grünen Körnern kippt und ein einzelnes zusätzliches Korn eine Lawine auslöst, die nur aus der Geschichte des Haufens und den „fingers of instability“, aber überhaupt nicht durch das einzelne zusätzliche Korn zu erklären sind. Das Beispiel stammt aus dem Buch Ubiquity von Mark Buchanan, in dem versucht wird, die Entstehung von Naturkatastrophen wie Erdbeben zu erklären. Das ist ohne dialektisches Denken unmöglich.
Der Fehler des Strukturalismus ist aus marxistischer Sicht, dass er von der Bewegung und Veränderung abstrahiert. Dies ist aus unserer Sicht keineswegs ein kleiner Fehler, denn als AnhängerInnen der dialektischen Methode sind wir gerade an den Dingen interessiert, die der Strukturalismus ausblendet. Louis Althusser versuchte, den Marxismus mit strukturalistischen Lehren zu mischen und so einen neuen – von allen aus seiner Sicht „unwissenschaftlichen Elementen“ gereinigten – Marxismus zu schaffen. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs war er an den stalinistischen Dogmatismus gewöhnt und ihm erschien vermutlich die strukturalistische Philosophie als etwas erfrischend Neues.
„Die sogenannten Umstände, die ich im Vorwort zu „Für Marx“ anführe, das, was vom 20. Parteitag mit einem Wort ohne Begriff ‚Personenkult‘ genannt wurde, sowie die rechtsopportunistischen Interpretationen, die damals über den Marxismus hinwegfegten, … – all das stürzte mich ins Getümmel.“
Dialektik und Kapital
Anhand von Marxens Hauptwerk, dem Kapital, kann man besonders deutlich sehen, warum für ein Verständnis der Realität eine dialektische Herangehensweise notwendig ist. Bei jedem Gegenstand, der im Kapital behandelt wird – es folgen sogleich einige anschauliche Beispiele – ist die Darstellungsmethode darauf ausgerichtet, die historischen und logischen Voraussetzungen seiner Entstehung zu erklären und aufzuzeigen, welcher zentrale Konflikt bzw. Widerspruch seine Entwicklung vorantreibt. Hinter dem ökonomischen Zusammenwirken von Millionen Menschen, deren jeder seine eigenen, subjektiven, zufälligen Motive verfolgt, enthüllt Marx, dass in diesem Zusammenwirken Gesetzmäßigkeiten entstehen, Notwendigkeiten, die für den Entwicklungsverlauf des gesamten Systems letztlich entscheidend sind und weit über den Willen oder das Interesse der einzelnen Individuen hinausgehen. Hinter den persönlichen „Revenuen“ der Menschen, also dem, was man heute „Einkommen“ nennt und dem man nicht ansieht, wo es entstanden ist (schon im alten Rom stellte man fest: „Geld stinkt nicht!“), enthüllt Marx, dass materieller Reichtum in der kapitalistischen Produktionsweise nicht ohne Ausbeutung und Unterdrückung zustande kommen kann.
Marx geht es also darum, aufzuzeigen, was hinter den ökonomischen Erscheinungen unseres Alltags steckt: Dinge wie Preise, Löhne, Kauf und Verkauf, die Konkurrenz der arbeitenden Menschen um Arbeitsplätze, Wohnungen und dergleichen ebenso wie die Konkurrenz der Bürgerlichen um Marktsegmente und eben all die Themen, die im Wirtschaftsteil jeder Zeitung behandelt werden. Er führt diese Erscheinungen zurück auf tiefere Prozesse und Mechanismen, die deren Wesen ausmachen: Ware, Wert und Wertgesetz, Mehrwert, Ausbeutung, Kapital, Zirkulationsprozess und so weiter. Nach diesen Begriffen in einer bürgerlichen Zeitung zu suchen, wäre völlig vergebens.
Den einzelnen KapitalIstinnen reicht es nämlich ebenso sehr wie einem Strukturalisten, sich in normalen Zeiten mit dem praktischen, einfachen, formallogischen Zusammenwirken der Alltagserscheinungen zu beschäftigen: Diese Kapitalanlage bringt 5% Rendite. Ich habe 1000 Euro Kapital. Also kann ich 50 Euro dazuverdienen: Ein einfacher, formallogischer Schluss. Mehr braucht er/sie nicht zu wissen, zumindest in ruhigen Zeiten.
Aber irgendwann bricht – nach einer eisernen Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus, gegen die die KapitalistInnen nichts tun können – die Krise aus. Sie ist unvermeidlich. Sie gehört zur kapitalistischen Produktionsweise wie der Regen zur Wolke. Und jedes Mal sind die Bürgerlichen, ebenso wie ihre ÖkonomInnen, in ihrem Angesicht teilweise überrascht, aber immer hilflos.
Ihre Erklärungen sind immer oberflächlich, wie Marx schon 1863 erkannte:
„Und so haben alle späteren Ökonomen jedesmal als einzig möglichen Grund der Krisen das zugegeben, was der handgreiflichste Anlaß der jedesmaligen Krise war.“ (Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd 3, MEW 26/3, S. 119.)
Die kapitalistische Produktionsweise bedeutet im Kern, dass die KapitalistInnen einen Teil des Arbeitsproduktes der ArbeiterInnen nicht als Lohn auszahlen, und mit diesem Mehrwert ihren Profit generieren. Das Profitstreben des einzelnen Kapitalisten, aber insbesondere die Konkurrenz führt dazu, dass die KapitalistInnen die ArbeiterInnen bei Strafe ihres Unterganges immer weiter auspressen, Löhne drücken, sie arm halten, sie herausschmeißen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Dabei müssen sie auch ständig die Produktion selbst revolutionieren, es muss schneller, billiger und damit produktiver produziert, letztendlich mehr Waren mit weniger ArbeiterInnen hergestellt werden. Der Kapitalismus produziert somit in seiner Funktionsweise einen unauflösbaren Widerspruch, der notwendigerweise Krisen produziert, wie Marx im dritten Band des Kapitals anschaulich darstellt:
„Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band. MEW 25, S. 501.)
Lauter Waren stehen herum und können nicht verkauft werden. Die Kapitalisten, die darauf gewettet haben („das Investitionsrisiko eingegangen sind“), dass sie verkauft werden, „müssen sich insolvent erklären oder verkaufen zu jedem Preis, um [ihre eigenen Rechnungen] zu zahlen.“ (Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. MEW 24, S. 80.)
Es ist klar, dass Veränderungen an der Oberfläche (etwa indem man eben am „Einkommen“ der Leute herumschraubt, über Sozialleistungen, Kredite, staatliche Investitionsprogramme und so weiter) an dieser tiefen Gesetzmäßigkeit nichts ändern können.
„Nach mir die Sintflut“ ist nicht allein eine Denkweise besonders rücksichtsloser Menschen, sondern die alternativlose Funktionsweise eines jeden kapitalistischen Unternehmens. Aber für jeden, der die dialektische Denkweise ablehnt und sich weigert, nach den wesentlichen Gesetzmäßigkeiten hinter den Erscheinungen zu suchen, ist das ein Buch mit sieben Siegeln und folglich bricht in der bürgerlichen Gesellschaft bei jeder Krise erneut die nackte Panik aus. Auch nichtmarxistische Linke scheitern am Verständnis dieser Tatsache und bringen immer wieder dieselben keynesianistischen Lösungsvorschläge, die auf Oberflächenlametta beschränkt sind.
Wie geht die bürgerliche Ökonomie an die Krise heran? Sie versucht Einzelaspekte aufzusummieren. Sie sucht nach der „Struktur“, in der man alle Oberflächenerscheinungen unterbringen kann. Solang das System halbwegs statisch ist – solang es also nur darum geht, auf „wissenschaftliche“ Weise sein Unternehmen zu führen, langfristige Geldanlagen zu erwerben, die Veränderung von Preisen durch Angebot und Nachfrage nachzuvollziehen, Empfehlungen für die Geld- oder Steuerpolitik auszusprechen – macht sie ihr Geschäft (aus Sicht der Bürgerlichen) hervorragend.
Sobald aber nicht mehr alles den gewohnten Gang geht – sobald sozusagen das letzte „Sandkorn“ auf den „Haufen“ gefallen ist und die „Lawinen“ in Gang gesetzt werden, wenn also die Krise losbricht – werden all ihre „Erkenntnisse“ (eher: Beobachtungen) nutzlos. Dann gehen die schwächsten Unternehmen bankrott, auch wenn ihre Führung aus Genies besteht. Dann verwandeln sich Geldanlagen in ihr Gegenteil und anstatt ihrem Besitzer Geld einzubringen, reißen sie ihn mit in den Abgrund.
Aber keiner der einzelnen Marktteilnehmer, ob KapitalistIn oder ArbeiterIn, hat hier individuell irgendetwas „falsch“ gemacht. Die Krise ist weder auf die „Struktur“-Elemente noch auf deren oberflächlichen Zusammenhang, also die (rein empirische) Art und Weise, wie man sie „strukturiert“, zurückführbar. Sie ist nur aus dem Ganzen erklärbar.
Andere Beispiele für das plötzliche Erscheinen wesentlicher Merkmale an der Oberfläche sind unter anderem der Ausbruch imperialistische Kriege und die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Wir wollen uns das zweite Beispiel näher ansehen: In Normalzeiten ist, wie schon gesagt, der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit für die meisten Menschen nicht offensichtlich. Man könnte sagen, das Bewusstsein der Massen steht weit hinter der Realität. Durch bestimmte Schocks kann es aber fast von heute auf morgen aufholen. Durch den Ausbruch eines Krieges kann zum Beispiel auf einmal vielen Menschen klar werden, dass der Kapitalismus kein lebenswertes Leben bietet, da der Zwang zur Profitmaximierung zu unglaublichen Brutalitäten führt. Es kann zu einer Revolution kommen in der die ausgebeutete Mehrheit versucht ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihre Geschicke selbst zu bestimmen. Die geschichtliche Ausnahmesituation namens Revolution ist nur aus dem im Kapitalismus immer vorhandenen Widerspruch zu erklären. Das ist ein Beispiel wie ein wesentlicher Zusammenhang an die Oberfläche tritt und unter gewissen Bedingungen zum alles bestimmenden Faktor aller Systemteile wird.
Der Marxschen Methode wird oft von ihren GegnerInnen eine gewisse Willkür in der Analyse und ungerechtfertigte Abstraktion vorgeworfen. Das Konkrete und das Abstrakte lassen sich methodisch jedoch nicht getrennt voneinander betrachten. Abstrakte Gesetze werden aus konkreten Beobachtungen/Erfahrungen abgeleitet und müssen immer wieder anhand des Konkreten überprüft werden. Es gibt nichts Konkretes ohne Abstraktion und keine Abstraktion ohne Konkretes. Trotzki macht sich in seinem Buch In Verteidigung des Marxismus über diese Kritik kleinbürgerlicher Intellektueller am Marxismus lustig, indem er zeigt, dass ihr Verlangen nach „Konkretem“ und „Fakten“ schlussendlich jede Wissenschaft überhaupt ad absurdum führt:
„Da die Eigentumsformen die Politik eines Staates nicht unmittelbar bestimmen, kann man also bei der Bestimmung der ‚konkreten politischen Aufgaben‘ die marxistische Soziologie im Allgemeinen über Bord werfen.
Aber warum hier aufhören? Da das Gesetz des Werts der Arbeitskraft nicht ‚direkt‘ und ‚unmittelbar‘ den Preis bestimmt, da die Gesetze der natürlichen Auslese nicht ‚direkt‘ und ‚unmittelbar‘ die Geburt des Ferkels bestimmen, da die Gesetze der Schwerkraft den Sturz eines betrunkenen Polizisten eine Treppe hinunter nicht ‚direkt‘ und ‚unmittelbar‘ bestimmen, deshalb … deshalb lassen wir Marx, Darwin und Newten und die anderen Liebhaber von ‚Abstraktionen‘ in den Regalen verstauben. Das ist nichts weniger als das feierliche Begräbnis der Wissenschaft, denn schließlich schreitet die gesamte Entwicklung der Wissenschaft von ‚direkten‘ und ‚unmittelbaren‘ Ursachen fort zu den entfernteren und tiefer liegenden, von vielfältiger Verschiedenheit und bunt wechselnden Ereignisen zur Einheit der treibenden Kräfte.
Das Gesetz des Arbeitswertes bestimmt die Preise nicht ‚unmittelbar‘, aber dennoch bestimmt es sie. Solche ‚konkreten‘ Erscheinungen wie der Bankrott des New Deal finden ihre Erklärung letzten Endes im ‚abstrakten‘ Wertgesetz. […] Nicht unmittelbar, aber durch eine ganze Reihe von Zwischenfaktoren und ihre gegenseitigen Wechselwirkungen bestimmen die Eigentumsformen nicht nur die Politik, sondern auch die Moral. Ein proletarischer Politiker, der versucht, den Klassencharakter des Staates zu ignorieren, würde ausnahmslos so enden wie der Polizist, der die Gesetze der Schwerkraft nicht beachtet, das heißt sich eine blutige Nase holen. […] Das Konkrete ist eine relative Vorstellung, keine absolute: Was im einen Fall konkret ist, kann im anderen abstrakt sein, das bedeutet, unzureichend definiert für einen bestimmten Zweck. Um ein Konzept zu erhalten, das für eine bestimmte Anforderung konkret genug ist, muss man mehrere Abstraktionen, die zueinander in Beziehung stehen, zu einer einzigen zusammenfassen – genauso wie man eine Anzahl unbewegter Bilder miteinander kombinieren muss, wenn man einen Abschnitt des Lebens auf der Kinoleinwand reproduzieren will, denn dabei handelt es sich um ein Bild in Bewegung. Das Konkrete ist eine Kombination von Abstraktionen – keine willkürliche oder subjektive Kombination, sondern eine, die den Gesetzen der Bewegung einer bestimmten Erscheinung entspricht.“ (Leo Trotzki: Von einem Kratzer – zur Gefahr von Wundbrand, S. 138-139.)
Dialektik und Staat
Da der Staat in Althussers Schriften eine wichtige Rolle einnimmt – die Theorie der ideologischen Staatsapparate ist wahrscheinlich seine bekannteste – wollen wir uns noch den Staat in seiner Entstehung und Geschichte anschauen, bevor wir zur eigentlichen Kritik an Althusser kommen.
Den Staat hat es nicht immer gegeben. Er ist ein Produkt der Klassengesellschaft. Die Klassengegensätze, Konflikte und die Konkurrenz haben ihn hervorgebracht. Ohne Staat müssten die kämpfenden Klassen sich in einer ständigen Situation des Bürgerkriegs befinden. Der Staat ist als eine Institution entstanden, die die Konflikte dämpft. Gleichzeitig war und ist er in jeder Gesellschaft eine Unterdrückungsmaschinerie, die die Möglichkeit schafft, den Reichtum der herrschenden Klasse notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Die meiste Zeit aber tritt der Staat nicht offen als Instrument der Klassenherrschaft zu Tage. Sein eigentlicher Zweck tritt hinter die Aufgabe der Entschärfung von Konflikten zurück. Heute ist der Staat der Staat der Bourgeoisie und sein Zweck ist es, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu schützen, sprich den Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Durch die Überdeckung gesellschaftlicher Widersprüche ermöglicht er es, dass in Normalzeiten durch verschiedenste Institutionen (Schule, Kirche, Zivilgesellschaft, reformistische Massenparteien…) kleinbürgerliche Ideologien in die Masse der Lohnabhängigen getragen werden. Deswegen ist es in Normalzeiten auch nicht notwendig, dass der Staat sein wahres Gesicht als Unterdrückungsmaschine zeigt. Kommt es aber zu Bewegungen der Arbeiterklasse, zeigt sich, auf wessen Seite der Staat steht.
Die hohen Offiziere, Polizeichefs, etc. kommen oft aus der herrschenden Klasse. Sie wurden nie von irgendjemandem gewählt und sind mit bürgerlich-reaktionärer Ideologie vollgeimpft. Falls das kapitalistische System bedroht ist, ist klar auf wessen Seite sie stehen werden. Sie werden nicht zögern – und haben das auch niemals getan – Bewegungen in Blut zu ertränken und auf die schlimmste Repression zu setzen. Dann wird der Zweck des Staates offensichtlich.
Diesen Zweck, d.h. das Wesen des Staates zu verkennen, kann zu schlimmsten Konsequenzen führen. Das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Der Hund liegt hier wieder einmal im Wesen begraben und nicht in der Erscheinung. Denn der Schein kann trügen. So war zum Beispiel das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Blütezeit und die Sozialdemokratie in Mitteleuropa wuchs ständig. Die Herausbildung des Imperialismus ermöglichte die Einbindung der sozialdemokratischen Führung in den Staat und die Möglichkeit, dass sich eine materiell besser als ihre Basis gestellte Bürokratie bilden konnte. Die Einbindung in den Staat führte schließlich auf ideologischer Ebene zu einer reinen Orientierung aufs Parlament und zur Verfälschung des Marxismus in Richtung Reformismus. Man warf die „alte, überholte“ Staatstheorie über Bord, da ja oberflächlich betrachtet die parlamentarische Demokratie die Möglichkeit, einfach zu sozialistischen Regierungen zu kommen, in sich trug. Man entwickelte Theorien, die den wesentlichen Charakter des Staates als Instrument der herrschenden Klasse vergaßen, beziehungsweise besagten, dass man den bürgerlichen Staat für sich nutzen solle. Die Situation aber blieb nicht immer so. Der Erste Weltkrieg führte de facto in ganz Europa zu revolutionären Bewegungen, die das System gefährdeten. In der Zwischenkriegszeit zögerte die Bourgeoisie, da sie direkt bedroht war, keine Millisekunde, Polizei und Militär gegen die Massen einzusetzen. Ein trauriger Höhepunkt des undialektischen Denkens ist somit unter anderem die Idee der AustromarxistInnen, die Dollfußsche Machtübernahme 1933 vor dem Verfassungsgerichtshof zu klagen, anstatt rechtzeitig die Revolution zum Sieg zu führen und den bürgerlichen Staat zu zerschlagen, als dies aufgrund des Kräfteverhältnisses so gut wie unblutig möglich gewesen wäre.
Teil 2: Althusser contra Marx
Des Pudels Kern ODER die Frage der Methode
Im Text Widerspruch und Überdeterminierung gibt uns Althusser etwas mehr Einblick in seine Methode. Den theoretischen Konsequenzen werden wir weiter unten noch in seiner Staatstheorie und in seinem „Antihistorizismus“ begegnen.
Aber beginnen wir gleich mit des Pudels Kern: Althussers Hauptthese in Widerspruch und Überdeterminierung ist, dass der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen, der sich im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ausdrückt, von sich aus nicht zur Revolution führen kann.
Das heißt, für den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus ist laut Althusser eine „Einheit des Bruchs“ von Nöten. So sagt er zum Beispiel:
„Wie sollte man also diese praktischen Erprobungen und ihren theoretischen Kommentar anders zusammenfassen als in der Feststellung, daß die ganze revolutionäre marxistische Erfahrung beweist, daß, wenn der Widerspruch im allgemeinen (aber er ist schon spezifiziert: der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, der im Wesentlichen im Widerspruch zwischen zwei antagonistischen Klassen verkörpert ist) ausreicht, um eine Situation zu definieren, in der die Revolution ‘auf der Tagesordnung’ steht, er jedoch nicht durch seine direkte, einfache Kraft eine ‘revolutionäre Situation’ und mit noch weniger Wahrscheinlichkeit eine Situation des revolutionären Bruchs und den Triumph der Revolution auslösen kann. Damit dieser Widerspruch ‘aktiv’ werden kann im starken Sinn, Prinzip des Bruchs, bedarf es einer derartigen Anhäufung von ‘Umständen’ und ‘Strömungen’, daß diese, welchen Ursprungs und welcher Richtung sie auch sein mögen […], zu einer Einheit des Bruchs ‘zusammenfließen’.” (Louis Althusser: Widerspruch und Überdetermination, S. 118f.)
Etwas weiter unten im Text zieht er folgende Schlussfolgerungen:
„Wenn dann in dieser Situation eine gewaltige Anhäufung von ‚Widersprüchen’ ins Spiel kommt, und zwar in das gleiche Spiel, von denen einige radikal heterogen sind, die als weder den gleichen Ursprung, noch die gleiche Bedeutung, noch auch das gleiche Niveau und den gleichen Ort ihrer Anwendung haben – und die dennoch zu einer Einheit des Bruchs ‚verschmelzen’, dann ist es nicht mehr möglich, allein von der schlichten und einfachen Kraft des allgemeinen ‚Widerspruchs’ zu sprechen.“ (ebd., S. 120.)
Und etwas später:
„[…] dass der ‚Widerspruch’ von der Struktur des gesamten sozialen Körpers untrennbar ist, in dem er sich auswirkt, untrennbar von seinen formellen Existenzbedingungen und den Instanzen, die er steuert – dass er also selbst, in seinem Kern hinein, von ihnen betroffen ist, in ein und derselben Bewegung sie determinierend, aber auch von ihnen determiniert, und zwar determiniert durch die verschiedenen Ebenen und die verschiedenen Instanzen der gesamten Gesellschaftsformation, die er belebt: wir können ihn demnach in seinem Prinzip überdeterminiert nennen.“ (ebd., S. 121.)
Zwar würden diese „Umstände und Strömungen“, die laut Althusser in irgendeiner Form von den Produktionsverhältnissen abhängen, die er als deren Existenzbedingungen bezeichnet, „aber auch von den Überbauten, Instanzen, die sich davon ableiten, aber ihre eigene Konsistenz und Wirksamkeit haben; von der internationalen historischen Lage als solcher, die wiederum auf ihre spezifische Weise ihre spezifische Rolle als bestimmendes Moment übernimmt.“
Althusser geht also davon aus, dass der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit von spezifischen Umständen eines Landes, (nationale Traditionen usw.) beziehungsweise Tendenzen des Überbaus (Kultur, Religion, Gesetze usw.), „überdeterminiert“ wird. Das bedeutet, dass selbst, wenn der Klassenkampf zum revolutionären Bruch führen würde, es sein kann, dass eine Revolution nicht stattfindet, da sie durch eine Überdetermination durch Phänomene des Überbaus verhindert wird.
Marx und Hegel – und Althusser
Von der von ihm geschaffenen Definition der „Überdetermination“ ausgehend, zieht Althusser gegen die Hegelsche Dialektik ins Feld, die in „einfachen Widersprüchen“ denkt und nicht „überdeterminiert“ ist. Den Grund für Hegels Art, den Widerspruch zu verstehen, sieht Althusser in dessen idealistischer Weltsicht:
“Es genügt dann sich zu fragen, warum Hegel diese Phänomene der historischen Verwandlung in diesem einfachen Begriff des Widerspruchs denkt, um genau die wesentliche Frage zu stellen. Die Einfachheit des Hegelschen Widerspruchs ist in der Tat nur durch die Einfachheit des inneren Prinzips möglich, welches das Wesen jeder historischen Periode bildet. […]
Diese Reduktion als solche […], die Reduktion aller Elemente, die das konkrete Leben einer historischen Welt ausmachen (ökonomische, soziale, politische, juristische Institutionen, Sitten, Moral, Kunst, Religion, Philosophie, bis hin zu den historischen Ereignissen: Kriege, Schlachten, Niederlagen, etc.), auf ein Prinzip der inneren Einheit, diese Reduktion ist nur unter der absoluten Bedingung möglich, daß das gesamte konkrete Leben eines Volkes für die Entäußerung–Entfremdung eines inneren geistigen Prinzips gehalten wird, das letztlich niemals etwas anderes ist als die abstrakte Form des Selbstbewußtseins dieser Welt: ihr religiöses oder philosophisches Bewusstsein, das heißt ihre eigene Ideologie.“ (ebd., S. 124f.)
Wir sehen also, dass Althusser die Form der Dialektik auf Hegels Idealismus zurückführt. In Wirklichkeit hat nicht der Idealist Hegel das dialektische Denken erfunden, sondern schon antike Philosophen wie Heraklit hatten eine dialektische Denkweise. Für Hegel war die Dialektik ein abstraktes Denkmuster, das er der Wirklichkeit überstülpte. Das war ja für einen Idealisten, der sowieso davon ausgeht, dass das Denken der bestimmende Faktor ist, ohne größere Schwierigkeiten möglich. Bei Marx wird im Gegensatz dazu die Dialektik konkret aus der Entwicklung von Natur und Geschichte hergeleitet, und trotzdem ist es Dialektik – aber dazu später.
Das Entscheidende ist, dass Althusser fälschlicherweise davon ausgeht, dass die Dialektik alle Elemente einer Epoche auf ein einziges inneres Prinzip reduzieren würde. Im Gegensatz zu den frühen französischen Materialisten und Ludwig Feuerbach geht die materialistische Dialektik eben nicht von direkten und mechanischen Bestimmung des (kulturellen, ideellen) Überbaus durch die (materielle, ökonomische) Basis aus, sondern davon, dass der Überbau lediglich die Basis widerspiegelt. Der Überbau hat seine eigene Dynamik und seine eigenen Gesetze, die nur dann gesprengt werden, wenn sie in einen unversöhnlichen Widerspruch zur Basis geraten.
Das heißt, dass die relative Unabhängigkeit des Überbaus keine absolute ist. Religionen können im Geiste der Menschen lange über ihre unmittelbare Entstehungsepoche hinaus erhalten werden, was aber nicht bedeutet, dass man sich ihre Entstehung nicht materialistisch erklären könnte.
Oder man schlägt Engels Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums, und des Staats auf und man wird sofort erklären können, wieso eine Urgesellschaft, die kein Privateigentum und damit keine Monogamie kennt, kein Eigentums- oder Eherecht braucht. Das lässt sich sehr wohl aus der geringen Produktivkraftentwicklung dieser Gesellschaften erklären, die noch gar keinen regelmäßigen Überschuss erwirtschaften konnten und es folglich dort auch kein Eigentum geben konnte. Ähnliche Erklärungen lassen sich für alle anderen von Althusser angeführten Gebiete genauso finden. So ergeben zum Beispiel religiöse Moralvorstellungen, wie „Du sollst nicht töten, nicht stehlen“, etc. auch nicht in allen Gesellschaften Sinn. Das Gebot gegen Diebstahl wird die Mitglieder von Gesellschaften ohne Privateigentum wohl nur zum Lachen bringen. Genauso verkehrt sich „Du sollst nicht töten!“ in einem imperialistischen Krieg in sein Gegenteil. Das Ziel wird unterstützt, durch die modernste Technik möglichst viele „Feinde“ umzubringen. Nun fällt ein imperialistischer Krieg allerdings nicht vom Himmel, sein Grund ist darin zu suchen, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte (!) nicht mehr gemäß der Möglichkeiten entwickeln kann, d.h. dass Privateigentum und Nationalstaat zu einem Wachstumshindernis werden. Die Einschränkung durch die Grenzen des Nationalstaates versucht die imperialistische Macht durch den Krieg zu lösen.
Wir haben nun am Beispiel von Moral und Recht deren Verbindung mit der materiellen Basis aufgezeigt. Das soll natürlich nicht heißen, dass nur die ökonomische Basis bestimmt, sondern nur, dass sie die Grundlage für Entwicklungen des Überbaus gibt. Der Verfall einer Gesellschaftsordnung, also wenn sie nicht mehr fähig ist, die Produktivkräfte in Einklang mit den bestehenden Möglichkeiten zu entwickeln, sich also historisch überlebt hat, spiegelt sich beispielsweise in der Kunst wider; man denke nur an Hieronymus Bosch im Spätmittelalter oder die Motive der Metal- oder Emoszene heute. Der dialektische Materialismus bietet das Werkzeug und die philosophische Grundlage, derer sich spezifische Wissenschaften (wie die z.B. Kunstgeschichte) bedienen können. Trotzki formulierte es folgendermaßen:
„Die Dialektik ist kein magischer Schlüssel für alle Fragen. Sie ersetzt nicht die konkrete wissenschaftliche Analyse. Aber sie weist dieser Analyse den richtigen Weg und schützt sie vor fruchtlosem Umherirren in der Wüste des Subjektivismus und der Scholastik.“(Leo Trotzki: Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party, S. 63.)
Wie in dem letzten Zitat Althussers schon zu ahnen war, behauptet dieser, dass sich Marx‘ Vorstellung vom Widerspruch grundlegend von der Hegelschen unterscheiden würde. Marx hätte also die Dialektik nicht nur „vom Kopf auf die Füße gestellt“, sondern ihre Struktur verändert.
Wenn Marx sagt, er habe „Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt“, so bedeutet das, dass die marxistische Philosophie materialistisch ist und nicht idealistisch, wie die von Hegel. Marx leitet die Dialektik des Denkens aus der Dialektik der Natur ab, während Hegel die Anschauung vertritt, dass die Realität nur durch die „Idee“ existiert beziehungsweise ihr Ausdruck ist. Für Hegel ist das dialektische Denken (die Bewegungen des ‚Weltgeistes‘ oder der ‚absoluten Idee‘) der Ursprung der Dialektik der Natur. Bei Marx ist es genau umgekehrt. Außerdem widersprach Hegel in letzter Instanz der eigenen dialektischen Ansicht, indem er die Dialektik als geschlossenes System betrachtete, das vollendet werden könnte, wenn die ‚absolute Idee‘ ihren perfekten Ausdruck gefunden hat – durch Hegel selbst![2]
Es gibt eine ewige Entwicklungsspirale, wo jedoch nie zum selben Ausgangspunkt zurückgekehrt wird, sondern man durch die Negation der Negation auf einer höheren Ebene landet. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Entstehung der Klassengesellschaft aus der klassenlosen Urgesellschaft und eine lange Entwicklung von Klassenkämpfen, die den Kapitalismus hervorbringt, der durch seine ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte den Kommunismus möglich und notwendig macht. Die klassenlose Urgesellschaft, in der die Menschen in ihrer allgemeinen Armut und im Mangel „gleich“ und der ständigen Bedrohung durch Naturgewalten ausgesetzt waren, wurde durch die Entstehung von Klassen negiert. Eine weitere Negation, also die Negation der Negation, wäre wieder eine klassenlose Gesellschaft, aber auf einer höheren Ebene mit ganz anderen Voraussetzungen. Sie wäre keine Mangelgesellschaft, sondern eine Überflussgesellschaft.
Das sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Marx und Hegel, NICHT, dass Marx eine gänzlich andere Form der Dialektik vertreten hätte.
Aber zurück zu Althusser: Dieser behauptet, dass Marx im Rahmen seines „epistemologischen [= erkenntnistheoretischen] Bruchs“ Mitte der 1840iger die Dialektik nicht einfach nur „vom Kopf auf die Füße gestellt“, sondern sie grundlegend geändert hätte. Er behauptet, dass sich der marxistische Widerspruch grundlegend vom Hegelschen unterscheide. Nun macht sich Althusser ausgehend von einzelnen Marxzitaten als edler Ritter der „theoretischen Praxis“ auf den Weg, die gesamte marxistische Denkweise umzustürzen. Er identifiziert die Hegelsche Dialektik mit „Mystizismus“ und vertritt die Ansicht, dass der „reife“ Marx einen fundamentalen Bruch mit dem romantischen Humanismus des „jungen“ Marx vollzogen hätte:
„Um jedes Missverständnis zu vermeiden weisen wir darauf hin, dass es durchaus jene Hegelsche Dialektik ist, die, dazu noch in außerordentlicher Reinheit und Unerbittlichkeit, ruhmreich über die Manuskripte von 1844 von Marx herrscht. Um den Beweis zu vollenden, fügen wir hinzu, dass die Hegelsche Dialektik dort rigoros ‚umgekehrt‘ wird. Deshalb ist die Strenge dieses rigorosen Textes nicht marxistisch.“ (Louis Althusser: Über die materialistische Dialektik, S. 143, Fußnote.)
Marx hätte die Hegelschen Kategorien im Kapital nur deshalb verwendet, weil er „der philosophischen Dummheit seiner Zeitgenossen eine Lektion erteilen wollte, indem er im 1. Buch des ‚Kapitals‘ mit der Terminologie Hegels kokettierte. Sollten wir die Lektion noch verdienen?“ (Über die materialistische Dialektik, S. 142, Fußnote.)
Althusser sieht daher die ersten Kapitel des Kapital nicht als entscheidend an und empfiehlt allen Marx-LeserInnen, erst mit dem zweiten Teil des Buches zu lesen zu beginnen. Die Idee Hegel „vom Kopf auf die Füße zu stellen“ missfällt ihm.
Die Dialektik könnte nicht einfach aus ihrer idealistischen Hegelschen Schale gezogen werden um marxistisch zu werden. Er macht sich über den Inhalt der Hegelschen Dialektik lustig und meint:
„man muß ein für alle Mal begreifen, dass alle diese diese Willkürlichkeiten […] nicht etwa wundersamerweise auf Hegels „Weltanschauung“, auf sein ‚System’ beschränkt, sondern dass sie sich in der Tat in der gesamten Struktur, in den einzelnen Strukturen seiner Dialektik und besonders in diesem ‚Widerspruch’ reflektieren, der keine anderen Funktion hat, als die konkreten Inhalte dieser historischen Welt magisch auf ihr ideologisches ENDZIEL hinzubewegenen.“ (Althusser: Widerspruch und Überdetermination, S. 125f.)
Hier haben wir erstens die Ablehnung einer Dialektik, das heißt einer Logik, die Entwicklung und Veränderung zu fassen versucht, da diese ja von ihrer Form und Art her nur für den Hegelschen Idealismus, und die zielgerichtete Wanderung des Weltgeistes von Nutzen sei. Die Tatsache, dass Marx die Hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße“, d.h. auf eine materialistische Grundlage gestellt hat, bedeutet noch lange nicht, dass Marx in „überdeterminierten Widersprüchen“ gedacht hätte, die eine reine Erfindung Althussers sind.
Für Althusser ist also die Hegelsche Form der Dialektik von dessen idealistischen philosophischen Inhalten „verschmutzt“ und kann folglich nicht als „reiner Kern“ aus der „Hegelschen Hülle“ gezogen werden, sondern muss gänzlich verworfen werden. Zu diesem Zwecke behauptet Althusser ganz einfach, dass der reife Marx genau die gleiche Denkweise wie die von Althusser erfundene „Überdetermination“ benutzt hätte.
Wenn Marx schreibt, dass er der „mystifizierenden Form“ der Hegelschen Dialektik die „rationale Gestalt“ seiner eigenen Dialektik entgegengestellt habe, dann meint er damit eigentlich nur, dass seine philosophische Anschauung der Materialismus und nicht der Idealismus ist; aber sicher nicht, dass er eine neue Dialektik erfunden hätte. Bei Althusser sieht das wieder ganz anders aus:
„Deswegen ist die marxistische ‚Umkehrung’ der Hegelschen Dialektik etwas völlig anderes als eine schlichte und einfache Extraktion. Erfasst man nämlich in der Tat auf klare Weise das enge innere Verhältnis, welches die Hegelsche Struktur der Dialektik mit der ‚Weltanschauung’ Hegels unterhält, das heißt mit seiner spekulativen Philosophie, dann wird es ganz unmöglich, sich diese ‚Weltanschauung` wirklich auf den Müll zu werfen, ohne zwangsläufig die Strukturen dieser Dialektik als solcher grundlegend zu verändern.” (ebd.,S. 126.)
Die Dialektik im Kapital
Laut Althusser unterscheiden sich Hegelsche und Marxsche Dialektik eben darin, dass der Widerspruch bei Marx „überdeterminiert“ wäre und bei Hegel nicht. (Dazu später.)
Laut Althusser wäre Hegel für Marx nicht notwendig, sogar hinderlich für das Verständnis. Die Reihe der Zitate in denen er die Hegelsche Dialektik mit Mystizismus identifiziert ließe sich fast beliebig lange fortsetzen. Ein Zitat ist aber ob seiner Falschheit doch bemerkenswert:
„So haben in den tatsächlich konstituierten Praxis-Arten die Hegelschen Kategorien seit langem geschwiegen. Sie sind dort ‚unauffindbare‘ Kategorien. Deshalb auch sammeln gewisse Leute mit unendlicher Sorgfalt und Devotion, die man den einzigen Reliquien der vergangenen Zeit schuldet, die zwei einzigen Sätze, die man im ganzen ‚Kapital‘, d.h. auf rund 2500 Seiten findet, um sie allen zu zeigen; deshalb verstärken sie diese zwei Sätze durch einen anderen Satz, durch ein Wort, genauer gesagt, einen Ausruf Lenins, der uns sehr rätselhaft versichert, dass er ein halbes Jahrhundert nichts von Marx verstanden habe, da er Hegel nicht gelesen habe.“(Althusser: Über die materialistische Dialektik, S. 145.)
Zu dieser Aussage sieht sich Althusser genötigt, da das Kapital als Spätwerk sicher nicht mehr in die Zeit vor Mitte der 1840iger Jahre fällt, d.h. eindeutig nach dem „erkenntnistheoretischen Bruch“ verfasst wurde, den er Marx unterstellt. Mit den „zwei einzigen Sätzen“ in denen Marx über die Dialektik spreche meint Althusser einen über die Negation der Negation und einen über Quantität und Qualität. Dass die (Hegelsche) Dialektik nur in diesen zwei Sätzen des Kapital vorkomme aber ist ein tragischer Irrtum oder eine bewusste Verdrehung der Tatsachen, wie wir bereits vorhin gezeigt haben. Wenn Althusser das Kapital als Gesamtwerk betrachten würde, oder versuchen würde, Lenins Schriften zu verstehen, wäre ihm das aufgefallen. So sagt zum Beispiel Lenin:
„Wenn Marx auch keine ‚Logik’ […] hinterlassen hat, so hat er doch die Logik des ‚Kapitals‘ hinterlassen, und dies sollte für die vorliegende Frage im höchsten Maße ausgenützt werden. Im „Kapital“ werden auf eine Wissenschaft Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie [man braucht keine drei Worte: das ist ein und dasselbe] des Materialismus angewendet, der alles Wertvolle von Hegel übernommen und dieses Wertvolle weiterentwickelt hat.“ (Lenin: Plan der Dialektik (Logik) Hegels, S. 249.)
Die Dialektik des Kapital ergibt sich dadurch, dass Marx die wirtschaftlichen Prozesse des Kapitalismus in ihrer Widersprüchlichkeit und aus ihrer historischen Entwicklung heraus erklärt. Marx muss also gar keine „Hegelschen Schemata“ von außen auf den Prozess aufdrücken: Krisen und Revolutionen können ohne Dialektik gar nicht verstanden werden. Die Gesetze der Natur sind auch hier wirksam.
Zusammenfassend muss man die Unterscheidung zwischen Phänomen (bzw. Erscheinung) und Wesen als den Kernpunkt der Dialektik sowohl von Marx, als auch von Hegel bezeichnen. Bringt man die Marxsche Auffassung vom kapitalistischen System in Althussersche Worte, so heißt das nichts anderes, als dass die Überbauphänomene den Grundwiderspruch über lange Zeit „überdeterminieren“ können, dass die „Überdetermination“ selbst aber unter gewissen Bedingungen – den Bedingungen einer Revolution – „überdeterminiert“ wird. Das heißt (in Hegelscher Sprache), dass das Wesen zum alles bestimmenden Faktor wird. Genau diese Sichtweise aber ist nicht bloß die Hegelsche Form der Dialektik, sondern ihr eigentliches Wesen. Wer das – das Denken in Wesen und Phänomen – ablehnt, lehnt nicht nur eine Art der Dialektik ab, sondern ist AntidialektikerIn; hat mit der Dialektik überhaupt gebrochen.
Die Form der Dialektik
Man muss Althusser zugestehen, dass es sehr wohl einen Unterschied in der Form der Dialektik von Hegel und Marx gibt; es ist aber nicht der, den er konstruiert und durch seine Ablehnung des dialektischen Denkens sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausschüttet. Der wirkliche Unterschied in der Form liegt darin, dass Hegel Idealist war. Für ihn ist das Sein und die Materie nur ein Reflex des Denkens, durch das diese bestimmt wird. Entscheidend ist für den großen deutschen Idealisten das Denken, der Weltgeist, der Natur und Geschichte schafft. Als Folge ist bei Hegel die Dialektik ein starres Bewegungsmuster (Denkmuster), das der Natur und der Geschichte künstlich aufgepfropft wird.
Marx (und Engels) weisen im Gegensatz dazu die wesentlichen dialektischen Zusammenhänge anhand von konkreten Beispielen aus Natur und Geschichte nach. Man denke nur an Engels Werk Die Dialektik der Natur, in dem er die dialektischen Gesetze am Beispiel der damaligen Entdeckungen in verschiedenen Wissensgebieten (Chemie, Physik, …) erklärt. Für Marx und Engels geht es nicht um die „ewige Wanderung der Idee“, sondern die Dialektik, also die Bewegung durch innere Widersprüche, ist für sie eine Eigenschaft der Materie und der Gesellschaft selbst, die durch das menschliche Denken entdeckt werden muss, aber nicht der Realität aufgepfropft werden darf.
Bei Marx und Engels muss die Dialektik in der Natur und in der Gesellschaft jedes Mal aufs Neue und konkret nachgewiesen werden. Marx und Engels übernehmen zwar von Hegel die dialektischen Bewegungsmuster bzw. Gesetze. Diese Bewegungsmuster und Gesetze existieren aber bei Hegel, so wie der Weltgeist, schon vor der materiellen Welt.
Für MarxistInnen produziert die Bewegung von Materie und Gesellschaft dialektische Muster, während bei Hegel das dialektische Muster als reines Denken und metaphysisches Prinzip die Bewegung der Materie und der Gesellschaft produziert.
Die „Überdeterminierung“ am Werk
Mit Überdeterminierung meint Althusser, dass der „Hauptwiderspruch“[3] – oder wie MarxistInnen es ausdrücken würden – die wesentlichen Prozesse, die Entwicklungen vorantreiben, von „Nebenwidersprüchen“ und/oder Überbauphänomenen überdeterminiert werden können. Das bedeutet, dass die Wirkung der Überbauphänomene die Wirkung des Wesens oder des Hauptwiderspruchs neutralisieren kann. MarxistInnen erkennen an, dass Überbauphänomene auch über lange Zeitperioden die grundlegenden Widersprüche der Gesellschaft verdecken – jedoch nicht neutralisieren – können.
Der vollständige Bruch von Althusser mit dem Marxismus und vor allem mit der marxistischen Dialektik kommt aber deshalb, weil Althusser der Meinung ist, dass die Überdetermination des Wesens durch die „Nebenwidersprüche“ chronisch und permanent bleibt und sogar dann aufrechterhalten bleibt, wenn der „Hauptwiderspruch“ an die Oberfläche tritt und die gesamte Gesellschaft in seinen Bann zieht. Für MarxistInnen sind die „Nebenwidersprüche“, die sich an der Oberfläche bilden ein Ausdruck des allumfassenden Hervortretens des „Hauptwiderspruchs“ in allen Überbaufacetten der Gesellschaft. Die starre Einteilung der wesentlichen Prozesse und Überbauphänomene in komplett getrennte Haupt- und Nebenwidersprüche, die er seinem strukturalistischen Denken gemäß auch nicht als Prozesse beschreibt, sondern als unbewegliche und streng getrennte „Strukturen“, ist ein Ausdruck des rigiden Denkens Althussers. Das Wesen ist bei Althusser ähnlich wie seine „letzte Instanz“ ein sich nie an der Oberfläche zeigendes Kantianisches „Ding an sich“, das ähnlich wie die Götter der Griechen im Olymp hockt und bei aller Leidenschaftlichkeit keinen Einfluss auf die Angelegenheiten der Menschen nimmt.
Das konkrete Beispiel, das Althusser in Widerspruch und Überdeterminierung für seine Theorie vorbringt, ist ein Vergleich zwischen der russischen Revolution 1917 und der deutschen Revolution 1918.
Althusser ist der Meinung, dass die Russische Revolution durch eine Ansammlung vieler verschiedener Widersprüche, die sich für ihn nicht aus dem „Grundwiderspruch“ (zwischen Kapital und Arbeit) herleiten, ermöglicht wurde. Woher diese Widersprüche aber dann kamen, erklärt er nicht. Als Feind des Historismus braucht es ihn auch nicht zu interessieren. Im strukturalistischen Denken ist es sogar unzulässig, nach der Entwicklung, nach der Geschichte eines Phänomens zu fragen.
In Russland gab es also laut Althusser nicht nur den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern noch zusätzlich eine Reihe anderer Faktoren (Landfrage, Monarchie…), die den Grundwiderspruch so „überdeterminierten“, dass eine erfolgreiche Revolution möglich war. Das bedeutet, dass schlussendlich nach Althusser die „Struktur“ des Überbaus über Sieg oder Niederlage einer Revolution entscheiden würde.
Zum Unglück von Althusser hängen alle Faktoren, die er anführt, mit dem „Hauptwiderspruch“ Klassenkampf zusammen: Er führt zum Beispiel die Spaltung der herrschenden Klasse in Russland als einen der Gründe für den Sieg der Revolution an. Nur überlegt er sich wieder einmal nicht, woher diese Spaltung kam. Geschichtlich betrachtet kann man sagen, dass eine Spaltung der herrschenden Klasse eigentlich jeder Revolution voranging. Diese ist aber kein reines Produkt des Überbaus, sondern wird durch eine generelle Unruhe im Land erzeugt, durch ein Ansteigen des Klassenkampfes. Die Herrschenden spüren, dass ihre Zeit zu Ende geht und die Differenzen unter ihnen brechen auf. Ein Teil der Herrschenden will zum Beispiel auf Diktatur und blanke Gewalt zur Unterdrückung von Bewegungen setzen, ein anderer wiederum glaubt, Massenaktivitäten nur durch einige pro-forma-Zugeständnisse verhindern zu können. Es bildet sich ein Teil der herrschenden Klasse, der nur der regierenden Fraktion ihrer Klasse die Schuld an der ausweglosen Lage ihres Systems gibt. Genau das ist in Russland vor der Revolution passiert: Ein Teil der Oligarchie wollte durch eine Palastrevolution den Zaren stürzen, da es einen „fähigeren Mann“ brauche. Aber all das ist durch den ansteigenden Klassenkampf zu erklären und nicht durch eine besondere Eigenart des Überbaus in Russland, so wie das Althusser versucht.
Genauso lassen sich die anderen Faktoren erklären: Als erstes kann man sagen, dass ein wesentlicher Grund für das Zarenreich, trotz seiner Schwäche in den ersten Weltkrieg einzusteigen, der war, den um das Jahr 1912 zunehmenden Klassenkampf der ArbeiterInnen durch die Existenz eines „äußeren Feindes“ abzudrehen, was in den ersten Kriegsjahren auch funktioniert hat.
Die Landfrage wurde auch erst durch ein generelles Ansteigen des Klassenkampfes explosiv. Nicht nur 1917, sondern auch schon in der Revolution von 1905 waren die Kämpfe der armen Bauernschaft extrem angestiegen. Nachdem die Bourgeoisie in Russland den Kampf um die Landreform aus Angst vor der Revolution nicht führte, war es 1917 klar, dass die einzige Perspektive für die Bauern und Bäuerinnen die Führung durch die Arbeiterklasse und deren Organisationen war. Erst im Sommer 1917 gab es entschiedene Bewegungen auf dem Land (Landbesetzungen, Vertreibung von GroßgrundbesitzerInnen, Brandlegungen…). Also zu einer Zeit, in der die Sowjets der ArbeiterInnen und Soldaten sich schon übers ganze Land ausgebreitet hatten.
Wir fassen Althussers Meinung noch einmal zusammen: Der wirtschaftliche Grundwiderspruch wird immer von Elementen des Überbaus „überdeterminiert“, d.h. zum Beispiel der Unterschied der Staatsform und andere Faktoren haben in Russland die Revolution ermöglicht, aber in Deutschland verhindert (siehe auch Teil zu ideologischen Staatsapparaten). Denkt man diese Position weiter, hinge der Verlauf der Geschichte ausschließlich von Überbauphänomenen ab, die bei Althusser eine komplett unabhängige Macht bekommen. Dabei übersieht er, dass sich der Grundwiderspruch plötzlich durch die Überbauphänomene Bahn brechen kann. Dass in Normalzeiten kapitalistische Ideologien vorherrschend sind, bedeutet (wie schon oben beschrieben) nicht, dass die bürgerliche Ideologie auf ewig eine Revolution verhindern könnte.
In Deutschland lag für Althusser die Lage 1918 vollkommen anders als in Russland. Er gibt zwar auch hier zu, dass der Sturm des „Hauptwiderspruches“ Klassenkampf die gesamte Gesellschaft erfasste. Aber für Althusser wiesen im Gegensatz zu Russland verschiedene „Nebenwidersprüche“ in eine Grundlegend andere Richtung, insbesondere die Stärke der Sozialdemokratie und die „neuen Mittelschichten“ der Arbeiteraristokratie. Diese beiden „Nebenwidersprüche“ hätten selbst während der gesamten revolutionären Phase 1918–1923 den „Hauptwiderspruch“ überdeterminiert.
Man könnte auf dieser Grundlage die Ansicht in folgende Gleichungen anschreiben:
Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit = kein revolutionärer Bruch, da dieser von Phänomenen des Überbaus überdeterminiert ist. Also: Klassenwiderspruch + Sozialdemokratie + ArbeiterInnenaristokratie = kein revolutionärer Bruch.
Hingegen: Klassenwiderspruch + Zarismus (Spaltung der herrschenden Klasse) + Landfrage + Erster Weltkrieg + Bolschewiki = revolutionärer Bruch.
In diesen Gleichungen haben laut Althussers Ansicht alle Faktoren, außer dem Klassenwiderspruch selbst, nichts mit diesem zu tun. Sie sind bei ihm die Elemente der „Überdetermination“ und Charakteristika des Überbaus. Noch einmal zum Beweis, was für eine entscheidende Rolle in Althussers Ansicht die Überbauten spielen:
Er sagt, „dass der Widerspruch Kapital- Arbeit niemals einfach ist, sondern […] immer durch die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, in denen er sich auswirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus (der Staat, die herrschende Ideologie, die Religion, die organisierten politischen Bewegungen etc.); spezifiziert durch die äußere und innere historische Situation, die ihn ihrerseits als Funktion der nationalen Vergangenheit […] determiniert und andererseits als Funktion des jeweiligen globalen Zusammenhangs“. (Althusser: Widerspruch und Überdetermination, S. 128f.)
Deswegen ist nach Althusser jeder Widerspruch „überdeterminiert“, entweder „im Sinn einer historischen Hemmung, einer echten Sperrung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder im Sinn eines revolutionären Bruchs (das Russland von 1917)“
Wir hingegen haben gezeigt, dass all diese Widersprüche die zum Erfolg der Revolution in Russland geführt haben, keinesfalls unabhängig vom Klassenwiderspruch entstehen konnten.
Auch in Deutschland hatte der Klassenkampf nach dem ersten Weltkrieg ein ungeheuer hohes Niveau erlangt. Der Klassenkampf zog auch in Deutschland den gesamten Überbau und alle „Nebenwidersprüche“ in seinen Sog. Auch in Deutschland konnte die Sozialdemokratie nur die Macht erhalten, indem sie sich an die Spitze der revolutionären Rätebewegung stellte und sich „revolutionär“ gebärdete. Die Arbeiteraristokratie war durch den Krieg verarmt. Eine riesenhafte Massenströmung, die Unabhängige Sozialdemokratie Deutschlands spaltete sich von dieser ab und wandte sich in Richtung Russische Revolution. Das war also nicht das Problem. Der entscheidende Unterschied, der über Sieg und Niederlage entschied, wird von Althusser gar nicht erklärt.
In diesen zwei Fällen lag der entscheidende Unterschied wirklich im subjektiven Faktor, darin, dass es in Russland 1917 Bolschewiki gab, die Massenverankerung erlangten und in Deutschland 1918 nicht. Der entscheidende Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg der Revolution lag hier nicht in einer unterschiedlichen Struktur des Kapitalismus oder des Überbaus in den beiden Ländern, sondern allein in dem Fehler der MarxistInnen in Deutschland (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg…), die reformistischen Abweichungen in der Sozialdemokratie zwar erkannt zu haben, aber nicht rechtzeitig eine marxistische Strömung in ihrer Partei aufgebaut zu haben. Das hat dazu geführt, dass nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die ungeheure Erfahrung der beiden für die entstehende KP verloren ging.
1922 und 1923 kam es im Zuge der Hyperinflation zu einem völligen Einbruch der Sozialdemokratie und der reformistischen Gewerkschaften. Alle Besserstellungen der Mittelschicht und der Arbeiteraristokratie wurden durch die Inflation weggerafft. Die Masse der deutschen Bevölkerung strömte in Richtung Kommunistischer Partei, die inzwischen zu einer riesigen Massenpartei geworden war. 1923 war es für die KPD möglich, die Macht zu übernehmen, das war die allgemeine Einschätzung der Führung der Kommunistischen Internationale. Die Führung verabsäumte es jedoch die rechtskommunistische Führung der KPD unter Brandler, zum Generalstreik aufzurufen und die ArbeiterInnen zu bewaffnen. Die revolutionäre Chance zog vorbei. Die Überdetermination der Revolution in Deutschland erfolgte also nicht durch starre „objektive Strukturen“, sondern durch subjektive Fehler der revolutionären Führung.
MarxistInnen haben im Gegensatz zu Althusser keine mechanistische, deterministische Vorstellung, in der die Menschen bloße Werkzeuge objektiver Determinanten sind, ob diese nun objektive Strukturen und „Nebenwidersprüche“ sind oder der „Hauptwiderspruch“ des Klassenkampfes. Die Geschichte wird letztlich von Menschen gemacht und in den entscheidenden Wendepunkten der Geschichte kommt dem Individuum und der Führung der revolutionären Kräfte eine entscheidende Bedeutung zu. Das war immer die Haltung, die Marx gegen Deterministen wie Feuerbach vertreten hat.
Nun muss man allerdings sagen, dass die Notwendigkeit einer revolutionären Partei sich aus dem Grundwiderspruch ergibt. Die revolutionäre Partei ist Ausdruck des allgemeinen Widerspruchs und durchaus nicht unabhängig von ihrer Umgebung. Der allgemeine Widerspruch zeigte sich zum Beispiel 1917 auch in einer Krise der Bolschewiki, in deren Führung reformistische Tendenzen an Anhang gewannen. Die siegreiche Revolution war erst möglich, nachdem sich in der Partei selbst die RevolutionärInnen durchgesetzt hatten. Genau dies gelang 1922/23 in Deutschland nicht.
Das heißt, nicht Überbauphänomene überdeterminieren den Klassenwiderspruch, sondern dieser führt selbst zu Überbauphänomenen (marxistische Theorie, subjektiver Faktor…), der allgemeine Widerspruch drückt sich so in relativ autonomen Überbauphänomenen aus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Bruch mit der alten Ordnung, zur Überwindung des alten Überbaus (Zerstörung des alten Staats…) führen.
Hier zeigt sich auch schon das größte Problem, der wesentliche Unterschied zwischen Althusserscher Überdetermination und der Dialektik von Hegel und Marx: Ersterer betrachtet das Verhältnis zwischen Basis und Überbau – im Gegensatz zu Hegel und Marx – nicht in ihrer Bewegung und Veränderung, sondern sieht sie als getrennte Sphären und scheint von einer einseitigen mechanischen Determination der Basis bei Marx auszugehen, gegen die er polemisiert. Aber selbst gesteht er gleichzeitig den Überbauphänomenen einen enormen Einfluss über die ökonomische Basis zu (siehe „Überdetermination“, Rolle der Ideologien, usw.), wodurch er den Bogen in die andere Richtung überspannt und in den Idealismus abgleitet.
Im Unterscheid dazu geht der Marxismus davon aus, dass im Laufe der Geschichte der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit lange Zeit unter der Oberfläche liegen kann, das heißt, dass es keine großen offenen Klassenkämpfe gibt, aber sich mit jeder Konterreform und Einsparung auf Kosten der Arbeiterklasse mehr und mehr Unmut unter der Oberfläche ansammelt. Dieser muss sich früher oder später offen Bahn brechen. Das passiert in revolutionären Bewegungen. Revolutionen sind allerdings Ausnahmen in der Geschichte und nicht mit den Maßstäben für Normalzeiten zu messen, in denen bürgerliche Ideologien in die Arbeiterklasse eindringen oder, anders gesagt, die „ideologischen Staatsapparate“, in Althussers Worten, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit „überdeterminieren“ können.
Das Verhältnis verkehrt sich in einer Revolution in sein Gegenteil. In dem Moment, in dem die Massen nicht mehr gewillt sind, sich länger beherrschen und regieren zu lassen und auf die Straße gehen, um ihr eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen, nützt dem alten Regime die beste bürgerliche Ideologie nichts mehr. Es kommt in der Revolution zu einer qualitativen Veränderung im Bewusstsein der Massen. Ein Beispiel dafür ist die Bewegung gegen den Wahlbetrug in Mexiko im Sommer 2006. Dabei kam es zu Ausschimpfungen konterrevolutionärer Priester in vielen Kirchen. Plötzlich fanden sich einfache Leute, die den Pfarrern den Mund verboten und selbst eine Predigt zur Verteidigung ihres Kandidaten Lopez Obrador hielten. Und das alles in einem erzkatholischen Land! Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass, sobald es zu einer revolutionären oder vorrevolutionären Situation kommt, die alten auf den Erhalt der bürgerlichen Herrschaft gerichteten Ideologien plötzlich aufhören zu greifen.
Zusammenfassend: Alle Oberflächentendenzen sind letztendlich Produkt der Produktionsweise und ihrer Widersprüche. Sie können über lange Zeit die Widersprüche der Produktionsweise überlagern (oder „überdeterminieren“, wie Althusser sagen würde). Aber ab einem bestimmten Punkt bricht der allgemeine Widerspruch an die Oberfläche und zieht alles in seinen revolutionären Strudel und bringt damit alte, verkrustete Verhältnisse „zum Tanzen“. Am Beispiel der Russischen Revolution heißt dies, dass die Rückständigkeit Russlands (Landfrage, circa 80% Bauern…) nicht „von Vorteil“ für die sozialistischen Revolution waren. Der Zarismus, der Großgrundbesitz, etc. bedeuteten noch 1880 Stabilität. Die Situation blieb aber nicht ewig gleich, sondern durch den Weltmarkt kam Unruhe ins System und immer wieder führten große Schocks zu plötzlichen und sprunghaften Veränderungen des Bewusstseins der Massen.
Der Kapitalismus kam zunächst in Form von ausländischem Handelskapital und später als Industrie- und Finanzkapital nach Russland, ehe sich ein starkes nationales Unternehmertum hätte entwickeln können. Durch den Kapitalexport aus den imperialistischen Zentren kam es in einigen Regionen Russlands zu einer extremen Konzentration des neu entstandenen Proletariats, gleichzeitig aber wurde damit die Rückständigkeit Russlands einzementiert. Schließlich kamen Zarismus und Feudalismus in die Krise und Russland wurde durch die Weltwirtschaft und die eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen der russischen Adeligen und Bürgerlichen in den imperialistischen ersten Weltkrieg gerissen. Damit erst bekam die Rückständigkeit revolutionäre Sprengkraft. Die Revolution siegte durch die zusätzliche Existenz einer revolutionären Partei, der Bolschewiki. Abschließend: Der Widerspruch wurde nicht durch Überbauphänomene zu einer „Einheit des Bruchs“ ergänzt, sondern schwemmte die Phänomene des alten Systems in einer revolutionären Welle fort.
Nun zum anderen Beispiel von Deutschland 1918: Hier war die SPD bereits zu einem Träger der Stabilität geworden, der Reformismus der Ausdruck der Ablehnung der Arbeiteraristokratie gegenüber der Revolution. Allerdings wurde deren Autorität über die Arbeiterklasse durch Krieg und Inflation geschwächt. Es bildeten sich Räte, die de facto das Land beherrschten. Der bürgerliche Staat war handlungsunfähig, da sich die Armee in Hand von Soldatenräten befand. Die Führung der Sozialdemokratie wurde zur letzten Stütze des Kapitalismus. Doch im Hungerjahr 1923 gewann die junge KPD die Mehrheit in der Arbeiterklasse, zögert jedoch im entscheidenden Moment, blies den Generalstreik ab und rief den Aufstand nicht aus (im Unterschied zu den Bolschewiki 1917). Mit dem Versagen des subjektiven Faktors brach die „Einheit des Bruchs“ in sich zusammen. Die Möglichkeit einer siegreichen Revolution wurde nur durch das Versagen der jungen KPD vereitelt; prinzipiell aber bestand sie. Im Gegensatz dazu sah Althusser aufgrund der „Überdetermination“ keine Möglichkeit einer Revolution.
Teil 3: Althussers Staatstheorie und sein Reformismus
…Die ideologischen Staatsapparate, oder: Hilfe! Wir sind „überdeterminiert“
Althusser erklärt, dass das Basis-Überbaumodell nicht ausreicht, um die Funktionsweise der Überbauten zu verstehen und setzt sich das Ziel, dieses Konzept zu überwinden oder in seiner Ausdrucksweise, es „weiterzuentwickeln“. Was dabei am Schluss überbleibt, sind verschiedene „Strukturen“ des Überbaus, verschiedene Teile, die nicht mehr in einen Zusammenhang zum Ganzen gesetzt werden, beziehungsweise, wie wir schon vorher gesehen haben, die Basis von Überbauphänomenen „überdeterminiert“ wird.
Althussers Betrachtung der ideologischen Staatsapparate ist statisch, was die Konsequenz seiner Überdeterminationstheorie ist, die den Überbau statisch und nicht in seiner Entwicklung und Veränderung sieht. Es ist klar, dass Institutionen des Überbaus wie Kirche, Schule, bürgerliche Medien, etc. eine ideologische Funktion haben. Die verschiedenen Institutionen des Überbaus sichern die Macht des Kapitals ab. RichterInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, Pfaffen,… stehen im Dienst der herrschenden Klasse. Von Geburt an wird einem über die „ideologischen Staatsapparate“ eingetrichtert, dass die Gesellschaft gut so ist, wie sie ist und alle Veränderungen nur ins Desaster führen. Es ist klar, dass der Kampf gegen die Bürgerlichen auch auf der Ebene von Philosophie und Ideologie geführt werden muss. Bei Althusser aber gewinnt die Ideologie eine unabhängige Macht. Er übersieht, dass die Macht der bürgerlichen Ideologie und der Kampf gegen sie außerdem einen begrenzten Charakter hat: Einerseits kann innerhalb des Kapitalismus der Kampf gegen Idealismus und bürgerliche Vorstellungen nicht gewonnen werden. Solange der Kapitalismus existiert, wird die Mehrheit der Ideologen immer – bewusst oder unbewusst – die Hand, die sie füttert, auf ideologischem Gebiet verteidigen. Andererseits ist trotz der ideologischen Staatsapparate eine siegreiche Revolution möglich. Die russische Revolution von 1917 siegte beispielsweise trotz der Macht der orthodoxen Kirche.
In Althussers Text Ideologie und Ideologische Staatsapparate, den er schrieb, um die Niederlage der revolutionären Bewegung im Mai 1968 in Frankreich zu rechtfertigen – wir werden später darauf zurückkommen – geht es hauptsächlich um die Reproduktion des Kapitalismus, die klarerweise auch auf der Ebene der Ideologie funktioniert. Soweit, so gut! Nun aber kommt wieder „des Pudels Kern“, wie Goethe so schön sagte[4]. Althusser gibt uns in der Schrift über die ideologischen Staatsapparate wieder einmal Einblick in sein mechanisches Verständnis von Basis und Überbau:
„Wir haben gesagt, […] daß Marx die Struktur jeder Gesellschaft begreift als konstituiert durch die verschiedenen „Ebenen“ oder „Instanzen“, die durch eine spezifische Determination einender zugeordnet (articulé) sind: die ökonomische Basis … und der Überbau, der selbst zwei „Ebenen“ oder „Instanzen“ umfasst: das Juristisch- Politische (das Recht und der Staat) und die Ideologie …“ (Althusser: Ideologie und Ideologische Staatsapparate, S.113.)
Man sieht hier schön Althussers fehlendes Dialektikverständnis: Es gibt mehrere „Ebenen“, „Instanzen“, die zusammen quasi eine „Struktur“ bilden. Dies hat nichts mehr mit einer marxistischen Auffassung von Basis und Überbau zu tun, in der alle Phänomene des Überbaus schlussendlich die Basis widerspiegeln. Die Sphäre der Ideologie hat ihre eigene, innere, widersprüchliche Dynamik, aber keine Ideologie kommt aus dem Nichts, in letzter Instanz ist die Ideologie das Produkt gewisser gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt beispielsweise zwar heute noch ideologische Relikte aus früheren Klassengesellschaften in den Köpfen der Menschen (wie Religionen), jedoch hat deren Überleben über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus einen bestimmten Grund; den, dass der Kapitalismus die Menschen von sich selbst entfremdet. In einer Gesellschaft, in der dem Arbeiter die eigenen Produkte auf dem Markt als fremde Macht gegenübertreten, ist es nicht besonders verwunderlich, dass manche Menschen an eine höhere Macht glauben. In einer sozialistischen Gesellschaft wird Religion keine Notwendigkeit mehr haben, auch wenn viele Menschen kurzfristig weiterhin gläubig bleiben mögen. Früher oder später muss sich die Basis im Überbau durchsetzten. Und man könnte schon meinen, Althusser sehe das – trotz seiner eigenartig statischen Betrachtungsweise in „Instanzen“, usw. – auch so, wenn er eine Seite später schreibt:
„Die Metapher des Gebäudes hat also zum Ziel, vor allem die ‚Determination in letzter Instanz‘ durch die ökonomische Basis zu zeigen.“
Allerdings befriedigt uns dieses Bekenntnis nicht mehr, da wir mit Althussers „letzter Instanz“ bisher keine guten Erfahrungen gemacht haben. Wenn wir sie gebraucht haben, war sie leider nie da, da der „long run“ der „letzten Instanz“ bei Althusser auf Grund der „Überdetermination“ nie eintritt.
Nun kommen wir zu den ideologischen Staatsapparaten (Kirche, Schule, Medien, etc.). Althusser bemerkt richtig, dass „keine Klasse dauerhaft die Staatsmacht innehaben [kann], ohne gleichzeitig ihre Hegemonie über und in den ideologischen Staatsapparaten auszuüben.“
Nun erfahren wir weiter, „warum die ideologischen Staatsapparate nicht nur der Einsatz, sondern auch der Ort des Klassenkampfes und oft äußerst harter Formen des Klassenkampfes sind.“ … „weil der Widerstand der ausgebeuteten Klassen dort die Mittel und die Gelegenheit finden kann, sich Gehör zu verschaffen, entweder indem sie die dort existierenden Widersprüche nutzen oder indem sie sich Kampfpositionen erobern.“
Was das allerdings genau bedeutet, lässt Althusser offen, ebenso, wie es gelingen soll, innerhalb des Kapitalismus der herrschenden Klasse ihre Hegemonie in ihren Medien (diese sind entweder in Händen des bürgerlichen Staates und nur ausgesuchte Individuen schreiben dort, oder sie sind im Privatbesitz kapitalistischer Monopole), in der Schule, und anderswo zu nehmen. Laut Althussers Sicht ist die „beschreibende“ marxistische Staatstheorie in Bezug auf die repressiven Staatsapparate richtig. Die ideologischen Staatsapparate aber funktionieren hauptsächlich auf Grundlage der „Ideologie“, in ihnen ist es offensichtlich möglich, den bürgerlichen Staat quasi zu „unterwandern“ und zu einem Werkzeug der Ausgebeuteten zu machen. Nun ist hier das Problem erstens wieder eine von Veränderungen absehende Betrachtung von Basis und Überbau (siehe „Überdetermination“), und zweitens eine nur auf einem Lippenbekenntnis basierende Anerkennung der marxistischen Staatstheorie. Wir werden im Folgenden einzeln auf die Punkte eingehen.
Die marxistische Staatstheorie impliziert nicht nur, dass die Herrschenden niemals zögern werden, Gewalt einzusetzen, wenn ihr System gefährdet ist, sondern auch, dass der bürgerliche Staat, solange er intakt ist, zu allen Zeiten zu Gunsten der Ausbeuterklasse funktioniert.
Althusser führt die Trennung in ideologische und repressive Staatsapparate ein. Fakt ist aber, dass in Normalzeiten, in denen der Kapitalismus nicht direkt gefährdet ist, auch die repressiven Staatsapparate hauptsächlich durch Ideologie funktionieren. Wer denkt schon in nicht-revolutionären Zeiten daran, dass Polizei und Militär brutal gegen Demos und Streiks eingesetzt werden können. Diese repressiven Apparate werden ja erst geduldet, weil das Bild der Polizei als „Freund und Helfer“, der alten Leuten über die Straße hilft und den Verkehr regelt und des Militärs als Retter in Naturkatastrophen vermittelt wird. Und natürlich gibt es einige „böse“ Menschen, die Verbrechen begehen, aber zum Glück von der Polizei verhaftet werden. Um dieses Bild zu vermitteln sind die „ideologischen Staatsapparate“ da. Ihre Hauptaufgabe ist, bürgerliche ideologische Hegemonie in der Gesellschaft herzustellen. Die Mehrheit der Bevölkerung muss für die Interessen von Kapital und Staat gewonnen werden und bürgerliche Interessen werden durch kleinbürgerliche Ideologen in die Arbeiterklasse hineingetragen.
Beispiele für das was Althusser „ideologische Staatsapparate“ nennt sind Medien, Kirchen, Intellektuelle und Experten, Uni, Bildungssystem, und politische Parteien beziehungsweise der damit verbundene Parlamentarismus generell. Das Hineintragen kleinbürgerlichen Bewusstseins in die Arbeiterklasse funktioniert besonders gut durch ihre kleinbürgerlichen, reformistischen Führungen. Die „ideologischen Staatsapparate“ geben vor, die gesamte Bevölkerung zu vertreten und neutral zu sein. Das ist ihr ureigenster Sinn und Zweck. Nur dadurch, dass sie neutral scheinen, können sie die Interessen einer kleinen Minderheit zu den vorherrschenden machen. Aufgrund der scheinbaren Neutralität der „ideologischen Staatsapparate“ geht Althusser davon aus, dass revolutionäre Kräfte in diesem Bereich eine Hegemonie gewinnen könnten. Althusser verwechselt hier den Schein der Neutralität mit wirklicher Neutralität und sieht die „ideologischen Staatsapparate“ als neutrales, umkämpftes Terrain.
Das ist aber ein Trugschluss mit schlimmsten Konsequenzen für die Taktik: Denn in letzter Instanz hat das Kapital auch in den „ideologischen Staatsapparaten“ immer die Zügel in der Hand. Man denke nur zum Beispiel an die Rolle des Kartellverbands auf den Unis und die Besetzung akademischer Posten von oben nach unten. Das hat zur Folge, dass nicht-bürgerliche AufsteigerInnen im Universitätssystem integriert und aufgesogen werden.
Dasselbe gilt für Journalisten und freie Intellektuelle. Diese können nur das veröffentlichen, was von Verlagen und Medien erlaubt wird. Verlage und Medien aber sind in privater Hand. Außerdem gibt es den Mechanismus, einzelne kritische AufsteigerInnen ins System zu integrieren.
Die „ideologischen Staatsapparate“ sind ebenso uneinnehmbar und unwandelbar wie die „repressiven Staatsapparate“. Es gibt keine Möglichkeit, revolutionäre MarxistInnen an die Spitze der Kirche, der Medien, und der NGOs zu bringen. Die Besetzung der autoritären Strukturen von oben nach unten, die Einbindung und Kontrolle durch das Kapital, können das verhindern. Selbst Künstler und Schriftsteller sind dem kapitalistischen Kunstmarkt und dem Verlagswesen unterworfen. Im staatlichen Bereich untersteht man einem Beamtenapparat, der im Bildungswesen, Kulturbetrieb und Wissenschaftsbetrieb im Wesentlichen nicht weniger hierarchisch ist als das Kriegsministerium, das Innenministerium und das Außenamt. Die Leinen werden etwas lockerer in der Hand gehalten, sie befinden sich aber letztlich auch unter der Kontrolle nicht wählbarer Organe.
Der bürgerliche Staat und das Kapital haben im Laufe ihrer Geschichte genügend Mechanismen entwickelt, die verhindern, dass revolutionäre MarxistInnen die „ideologischen Staatsapparate“ besetzen könnten: Ein autoritäres Medienmonopol, eine hierarchische Uni, etc. Die „ideologischen Staatsapparate“ verändern sich höchstens als Nebenprodukt entschiedener Klassenkämpfe, dann ist das Entscheidende aber der reale Klassenkampf, nicht, dass durch ihn einigen Linken eine Karriere im bürgerlichen Staat ermöglicht wird, was eher Nebenprodukt als Motor der Entwicklung ist. Wenn Linke in die ideologischen Staatsapparate eindringen, dann müssen sie im Sinne des „akademischen Kodex“ ihre revolutionäre Perspektive aufgeben. Sie haben in der Realität dann oft eine Feigenblattfunktion, die dem jeweiligen Apparat dazu dient, den Schein der Neutralität und der Objektivität zu wahren.
Die „ideologischen Staatsapparate“ funktionieren völlig undemokratisch. Zwischen Lehrerbeamtenapparat und Armeebeamtenapparat ist so gesehen überhaupt kein Unterschied. Beide sind hierarchisch und eine demokratisch gewählte Regierung kann ihre Spitzen nicht austauschen. Es ist unmöglich, diese undemokratischen Apparate überhaupt der unterdrückten Klasse dienstbar zu machen. Der sozialistische Staat, den wir anstreben, ist ein demokratischer Rätestaat und kein hierarchischer Apparat wie der kapitalistische Staat. Nur durch eine Wählbarkeit aller Funktionen von unten nach oben kann es ein wahrhaft neutrales, „umkämpftes Terrain“ geben, in dem der Bessere sich durchsetzten kann.
Der Teil der „ideologischen Staatsapparate“, der durch die Arbeiterklasse verändert und erobert werden kann sind die Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften und reformistischen Parteien. Aber auch diese lassen sich nicht von EinzelkämpferInnen verändern, denn diese werden früher oder später, anstatt die Apparate zu verändern, selbst verändert werden, in der Alltagsarbeit dieser Apparate untergehen und ihr revolutionäres Bewusstsein verlieren. Meist ist das individuelle Eindringen in den Apparat dieser Organisationen nur durch eine Preisgabe der revolutionären Perspektive und der unabhängigen Politik möglich.
Der Apparat der reformistischen Massenorganisationen wird sich nur als Folge einer starken und organisierten linken Strömung in Kombination mit einem Linksruck in der Basis dieser Organisationen wirklich verändern lassen. Man muss eine organisierte Linke schaffen, die ArbeiterInnen und Jugendliche im Klassenkampf organisieren kann. Ausgehend von einer solchen starken Klassenkampforganisation können dann Positionen im Apparat besetzt werden, die aber unter der kompletten demokratischen Kontrolle der Basis stehen müssen. Was auch im Apparat der Massenparteien unmöglich ist, ist eine individuelle „Unterwanderung“, oder eine Unterwanderung ohne einhergehende Demokratisierung, denn in diesem Fall werden „linke“ AufsteigerInnen gnadenlos integriert und dem Apparat dienstbar gemacht.
Die Rückeroberung der Apparate der Arbeiterorganisationen durch die Basis kann also nicht in einer personellen Veränderung funktionieren, sondern muss mit einer Revolutionierung, einer radikalen Demokratisierung des Apparats einhergehen. Die „ideologischen Staatsapparate“ sind im Kern genauso unwandelbar wie die „repressiven“. Der ganze bürgerliche Staatsapparat funktioniert unabhängig von und neben der Regierung. Die übergroße Mehrheit aller Menschen, die in die höchsten Schichten des Staates eingebunden sind, wird man NIE für den Sozialismus gewinnen können. Ebenso wenig ihre Posten mit SozialistInnen besetzen. Kurzum: Solange der Kapitalismus fest im Sattel sitzt, kann man die „ideologische Hegemonie“ nicht gewinnen.
Hier kommen wir zum zweiten Punkt: In dem Fall, dass der Kapitalismus ernsthaft in Gefahr ist, greifen die „ideologischen Staatsapparate“ nicht mehr, sie können, wenn sich das Bewusstsein der Massen ändert, fast von heute auf morgen ihre Macht verlieren. Dann allerdings ist die Repression die letzte Stütze der Bürgerlichen. Genau das, was Althusser der marxistischen Konzeption vom Staat vorwirft, tut er selbst. Er ist beschreibend und bleibt an der Oberfläche, an den Phänomenen, hängen. Er verwechselt die empirisch oft beobachtbare scheinbare Unabhängigkeit der „ideologischen Staatsapparate“ vom Kapital mit ihrer wirklichen Unabhängigkeit. Er billigt zwar der marxistischen Theorie des Staates in gewissen Fällen die („beschreibende“) Richtigkeit zu, aber das wäre dasselbe, als ob man der marxistischen Kapitalismusanalyse nur in Krisenzeiten oder Revolutionen eine („beschreibende“) Richtigkeit eingestehen würde. Durch Althussers Weigerung, die Dialektik von Basis und Überbau in ihrer Entwicklung zu sehen, bleibt er beim Phänomen der „ideologischen Staatsapparate“ hängen und geht damit rein empirisch vor, obwohl er in dutzenden Schriften brav hinunter betet, dass der Marxismus Anti-Empirismus ist.
Als Beispiel dafür, dass die „ideologischen Staatsapparate“ „vielfältig, unterschieden“, „relativ autonom“ und in der Lage sind, ein „objektives Feld für Widersprüche zu liefern, in denen sich in mal begrenzten, mal extremen Formen die Auswirkungen der Zusammenstöße zwischen dem kapitalistischen Klassenkampf und dem proletarischen Klassenkampf sowie ihrer untergeordneten Formen ausdrücken.“ (ebd., S 123.) sprich, dass man um sie beziehungsweise in ihnen kämpfen kann, führt Althusser das Beispiel der „Ereignisse des Mai 1968“ an, die „in Form der Revolte einen unmittelbaren Klassenkampf in den ideologischen Staatsapparaten deutlich gemacht haben“. Nur dumm, dass es sich bei den „Ereignisse des Mai 1968“ um eine waschechte revolutionäre Situation handelte, in der nur eine bolschewistische Strömung mit Massenwirksamkeit fehlte, um zu einer siegreichen Revolution zu werden.
Wir sehen uns das Beispiel genauer an: Wie alles in der Welt unterliegt auch die Entwicklung des Bewusstseins der Massen einer dialektischen Entwicklung. In Normalzeiten greift die Arbeiterklasse nicht aktiv in die Geschichte ein. Revolutionen sind Ausnahmen in der Geschichte. Das Bewusstsein hinkt im Normalfall der Realität hinterher. Durch große Schocks (Bsp. Kriege oder Krisen) kann es aber von heute auf morgen aufholen und sich der Realität anpassen. Der Unmut, der sich davor unter der Oberfläche angesammelt hat, kann plötzlich zum Ausbruch kommen. So wie beim Erhitzen von Wasser bis zu knapp unter 100°C nicht viel passiert. Erreicht das Wasser aber dann die 100°C hört es auf, flüssig zu sein und verdampft. Viele quantitative Veränderungen (der Temperatur) führen zu einer qualitativen (Wasser hört auf flüssig zu sein).
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Franzose Althusser seine Theorie der „ideologischen Staatsapparate“ etwa zeitgleich zum Mai 1968 entwickelte und sie als Erklärung sah, warum es nicht zu einem revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus kam. Tatsächlich zeigt Althusser dadurch nur sein Unverständnis dessen, wie schnell sich in revolutionären Situationen das Bewusstsein der Massen verändern kann und die herrschende Ideologie ihre Macht über die Massen verliert; trotz aller ausgefeilten „ideologischen Staatsapparate“. Der Mai 1968 in Frankreich hat nämlich gezeigt, dass eine Revolution in einer hoch entwickelten Industriegesellschaft, in der die Bourgeoisie ihre „ideologischen Staatsapparate“ bis zur Perfektion entwickelt hat, möglich ist. Im Mai 1968 besetzten Millionen ArbeiterInnen die Betriebe und ließen damit die Grundfesten des kapitalistischen Systems erzittern. Ohne die Führung einer revolutionären Partei reichte allein das Selbstbewusstsein der Klasse, um die Herrschaft der Bourgeoisie in Frage zu stellen. An vielen verschiedenen Orten entstanden während des Generalstreiks lokale Komitees, die den Kampf organisierten.
SchauspielerInnen besetzten Theater, OpernsängerInnen verlangten mehr Mitsprache bei der Zusammenstellung ihres Programms. Die Angestellten vieler Medien streikten ebenfalls. Zum Beispiel durften die wichtigsten Zeitungen nur erscheinen, wenn ihre Berichterstattung den JournalistInnen und DruckerInnen zusagte. Präsident De Gaulle konnte von seinem Staatsbesuch in Deutschland aus nicht nach Frankreich telefonieren, da ihm von den Streikenden die Telefonverbindung verweigert wurde. Und König Hussein von Jordanien konnte in ganz Paris kein Hotelzimmer finden. Man sieht, dass durch die Macht der Arbeiterklasse die „ideologischen Staatsapparate“ lahmgelegt und große Teile der Mittelschichten (KünstlerInnen, JournalistInnen, TechnikerInnen, StatistikerInnen) von der Bewegung mitgerissen wurden.
Althusser übergeht diese Erfahrung geflissentlich. Als führender Theoretiker der Kommunistischen Partei hätte er sich mit allem anderen auch schwergetan, hat doch seine Partei die Bewegung verraten. Zusammenfassend lässt sich Althussers Staatstheorie als ein Versuch, einen neuen Reformismus zu schaffen, bewerten. Die Leninsche Staatstheorie wird zwar nicht explizit abgelehnt, da ja die marxistische Theorie als „beschreibende“ Theorie für die „repressiven Staatsapparate“ richtig sei, dies gelte aber nicht für die „ideologischen Staatsapparate“, die eine Art „umkämpftes Terrain“ seien und in denen die Arbeiterbewegung ihren Einfluss immer mehr ausbauen müsse. In Bezug auf die Taktik heißt das Folgendes: Die „repressiven Staatsapparate“ kann man nicht „unterwandern“, gegen sie ist die bolschewistische Taktik korrekt. Gleichzeitig gibt es aber die „ideologischen Staatsapparate“, für die eine reformistische Taktik, d.h. ein schrittweises Einflussgewinnen, passend ist. Da man mit einem nicht-dialektischen Zugang zu dem Schluss kommen muss, dass die ideologischen Staatsapparate in ihrer jetzigen, modernen Form den kapitalistischen Grundwiderspruch „überdeterminieren“, werden diese das Hauptschlachtfeld und somit eine reformistische Herangehensweise gerechtfertigt.
Wie genau die Arbeit in den „ideologischen Staatsapparaten“ jedoch aussehen soll, lässt Althusser offen. Einer seiner ideologischen Nachfolger, der Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas, findet da hingegen eine deutliche Sprache:
Der Staat darf laut ihm „nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden […], sondern […] als ein Verhältnis, genauer gesagt, als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ (zitiert im „Faktor“ 04/06.)
Der Staat wird als „umkämpftes Terrain“ betrachtet. Immer größere Bereiche des bürgerlichen Staates sollen von der Arbeiterbewegung vereinnahmt und benutzt, der bürgerliche Staat zu einem sozialistischen transformiert werden. Poulantzas verwirft die marxistische Staatstheorie, indem er sich gegen die Forderung der Zerschlagung des bürgerlichen Staates in der Revolution richtet. Er argumentiert, dass durch die „Zerschlagung“ ja auch Sozialstaat, demokratische Rechte, etc. zerstört würden. Das ist allerdings mehr als weit hergeholt, da eine Zerschlagung des bürgerlichen Staates nur möglich ist, wenn sich schon eine parallele Staatlichkeit, etwa in Form von (Arbeiter-)Räten herausgebildet hat. In einer sozialistischen, demokratischen Planwirtschaft wird produziert, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und nicht mehr für die Profite einer kleinen Minderheit von KapitalbesitzerInnen. Daher braucht es keinen „Sozialstaat“ mehr, der die schlimmsten Auswüchse der kapitalistischen Profitmacherei abfedert, sondern die gesamte Wirtschaft wird nach sozialen Kriterien und durch die direkte Teilhabe der arbeitenden Menschen gestaltet.
Außerdem haben wir bereits gesehen, dass im Moment der Revolution der alte Staat keineswegs eine positive Rolle spielt. Sofern es das Kräfteverhältnis erlaubt, wird die Bourgeoisie die Revolution in Blut ertränken und die „demokratischen Einrichtungen“ des bürgerlichen Staates sind nicht mehr einen Pfifferling wert. In einer revolutionären Situation würden die Theorien von Althusser und Poulantzas ihren wahren, reformistischen Charakter sofort zeigen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Führung kommender Revolutionen nicht in die Hände von AnhängerInnen von Althusser und Poulantzas fällt. Sie würden die Bewegung ins Desaster führen, so wie alle reformistischen sozialdemokratischen Führungen vor ihnen.
„Antihistorizismus“?…
Die Untersuchung der Geschichte und der dialektischen Widersprüche in der Geschichte ist ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus. Dabei erkennt der Marxismus an, dass die materiellen, ökonomischen Bedingungen die in letzter Instanz entscheidenden Triebkräfte der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sind. Bürgerliche konstruieren aus dieser Ansicht gerne den Vorwurf eines „ökonomischen Determinismus“ oder „Historizismus.“
Hören wir mal Althusser zu, wie er mit diesem Vorwurf umgeht:
„Ich möchte vorausschicken, dass der Marxismus theoretisch gesehen weder ein Historizismus, noch ein Humanismus ist […], dass der Marxismus aber kraft seines einzigartigen wissenschaftstheoretischen Bruchs theoretisch gesprochen ein Antihumanismus und Antihistorizismus ist.“ (Althusser: „Das Kapital lesen“, Bd. 2, S. 242, zitiert nach: Adam Schaff: Strukturalismus und Marxismus, S. 161.)
„Der grundlegende Vorwurf, den Marx – vom ‚Elend der Philosophie‘ bis hin zum ‚Kapital‘ – der gesamten klassischen Ökonomie macht, besteht darin, dass die klassische Ökonomie von den ökonomischen Kategorien des Kapitalismus eine ahistorische, fixe und abstrakte Konzeption habe […] Diese Kritik ist – wie wir sehen werden- noch nicht das letzte Wort der wirklichen Kritik, die Marx an der klassischen Ökonomie übt. Sie bleibt hier oberflächlich und ungenau, seine wirkliche Kritik ist unendlich tiefgehender. Aber es ist zweifellos kein Zufall, wenn Marx mit seiner ausdrücklichen Kritik oft auf halbem Wege seiner wirklichen Kritik stehen geblieben ist und seine Differenzen zur klassischen Ökonomie allein auf die Ungeschichtlichkeit ihrer Kategorien bezieht […] Wir befinden uns hier an einem der strategisch wichtigen Punkte des Marxistischen Denkens, ich würde sogar sagen am strategischen Punkt Nr.1, da wo die Unabgeschlossenheit der theoretischen Selbsteinschätzung von Marx zu schweren Missverständnissen geführt hat […] vor allem bei seinen Anhängern. Man kann alle Missverständnisse um dieses eine zentrale Missverständnis herum gruppieren, das die theoretische Beziehung des Marxismus zur Geschichte, den angeblich radikalen Historizismus des Marxismus betrifft.“ (Althusser: Für Marx, S. 176.)
Althusser, anstatt das eigentliche Geschichtsverständnis des Marxismus zu verteidigen, lässt sich auf die Angriffe der Bürgerlichen, Marxismus sei „Historizismus“ (implizit: deterministisch) ein – und indem er diesen Vorwurf ablehnt, wirft er aber gleichzeitig das Geschichtsverständnis und den Materialismus insgesamt beiseite.
Laut Althusser hat offenbar Marx sein eigenes Werk nicht durchschaut und deswegen den Historizismus in seiner „Oberflächlichkeit“ bejaht. Nun war diese Betonung der Geschichtlichkeit (nicht Historizismus!) kein vorübergehender Ausrutscher der Klassiker, sondern sie zieht sich durch das gesamte Werk von Marx, Engels und allen MarxistInnen nach ihnen, wie ja Althusser selbst in seiner auf einem absurden Widerspruch aufbauenden (er widerspricht sich ganz einfach selbst!) Ausführung auch zugibt. Worauf beruht aber das Problem? Wieso kann man die Vergänglichkeit des Bestehenden und damit auch die beschränkte Gültigkeit gesellschaftswissenschaftlicher Begriffe nicht akzeptieren? Wenn man als DialektikerIn von Bewegung als Grundeigenschaft jeder Materie ausgeht, wird das doch kein Problem darstellen. Es ist wohl überflüssig, Zitate zur Untermauerung des historischen Charakters der Kategorien des Marxismus anzuführen, man braucht nur ein X-beliebiges Werk der Klassiker aufzuschlagen und ein paar Seiten zu lesen und man wird sich selbst ein Bild machen können. Ein Zitat, dass sicher auch Althusser kennt, kann sich die Autorin aber nicht verkneifen, da es schön den Zusammenhang zwischen der Dialektik der Natur und der Dialektik des Denkens zeigt:
„Herr Proudhon, der Ökonom, hat ganz gut begriffen, daß die Menschen Tuch, Leinwand, Seidenstoffe unter bestimmten Produktionsverhältnissen anfertigen. Aber was er nicht begriffen hat, ist, daß diese bestimmten sozialen Verhältnisse ebensogut Produkte der Menschen sind wie Tuch, Leinen etc. […D]ieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktivität gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebensowenig ewig wie die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.“ (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, S. 130.)
Dass die Begründer des Marxismus die Geschichte nicht verleugnen, ist klar; dass Althusser ausgesprochen empfänglich für die Angriffe und Meinungen der Bürgerlichen ist, auch. Was aber aus der Lektüre Althussers deutlich wird, ist, dass die bei ihm immer vorhandene Tendenz, eine platte Form des Strukturalismus, die die Bewegung ignoriert, auch in seinen „Antihistorizismus“ hineinspielt.
Was also will Althusser damit bezwecken? Unserer Meinung nach will er sich unbemerkt – wie schon oben gesehen – von der Dialektik, von der Bewegung und damit von der Geschichte verabschieden. Er stellt wie die schlimmsten StrukturalistInnen Struktur vor Dynamik:
„[W]ir begreifen, dass man die Reihenfolge der Reflexionen umkehren und zuerst die spezifische Struktur der Totalität selbst denken muß, um sowohl die Form der Koexistenz ihrer Glieder und konstitutiven Beziehungen als auch die Struktur der Geschichte selbst erfassen zu können.“ (Althusser: Der Gegenstand des ‚Kapital‘, Bd. 1, S.128, zitiert nach Adam Schaff.)
Nicht die sozialen Strukturen werden aus der geschichtlichen Entwicklung erklärt wie bei Marx, sondern die Geschichte wird als Summe der Strukturen aufgefasst, die in Wirklichkeit keinen inneren geschichtlichen Entwicklungszusammenhang aufweisen. Darin besteht der die Ablehnung des Historizismus von Althusser, der nicht nur mit einem Antihegelianismus, sondern auch einem Antimarxismus einhergeht, also.
Hier haben wir wieder einmal einen deutlichen Beweis, dass Althusser mit der marxistischen Denkweise nichts am Hut hat, obwohl er, wie immer, die oben beschriebene strukturalistische Position Marx zuschreibt. Für Althussers Denkweise ist genau das Denken in Strukturen, die sich gegenseitig beeinflussen, charakteristisch. Das gleiche Problem stellt sich immer wieder. In der Staatstheorie zum Beispiel verdreht er die Vorstellung von Basis und Überbau in ein fixes System von sich gegenseitig beeinflussenden Instanzen, anstatt ihr Verhältnis in Bewegung und Veränderung zu betrachten. Oft ist aber sogar die „sich gegenseitige Beeinflussung der Instanzen“ ein Lippenbekenntnis, da zum Beispiel bei Althusser die „ideologischen Staatsapparate“ völlig losgelöst vom Verhältnis Kapital-Staat verstanden werden.
Diese Denkweise kann man nur als einen kompletten Bruch mit dem Marxismus werten, als den Versuch, Marx eine antimarxistische Denkweise unterzuschieben und sich auf diesem Weg der „lästigen“ Dialektik zu entledigen. Das ist der Zweck von Althussers „Anti-Historizismus“ genauso wie es der Zweck seiner „Überdetermination“ ist.
Wir wollen noch ein Zitat zum Abschluss bringen, dass wir aus vollstem Herzen unterstützen. Ohne glühende AnhängerInnen Sartres zu sein, dessen Theorien Althusser zum Teil zu Recht kritisiert, müssen wir sagen, dass dieser das Problem mit dem Strukturalismus in dessen „Ablehnung der Geschichte“ richtig identifiziert hat:
„Der Verzicht auf den Marxismus wäre nichts anderes als der Verzicht auf das Verständnis des Übergangs. Nun denke ich aber, dass wir uns fortwährend in einem Zustand des Übergangs befinden, […] ich kann also nicht verstehen, dass man bei Strukturen stehen bleibt, das ist für mich ein logischer Skandal […] unter dem Deckmantel der Geschichte zielt dieser Angriff selbstverständlich gegen den Marxismus. Es geht darum eine neue Ideologie zu konstituieren, das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann. … Indem man darauf verzichtet, die Übergänge zu begründen, stellt man der Geschichte, der Domäne der Unsicherheit, die Analyse der Strukturen entgegen, die einzig und allein die wahre wissenschaftliche Forschung ermöglichen soll.“ (zitiert nach Adam Schaff: Strukturalismus und Marxismus, S. 171.)
Eine neue Philosophie?…
Louis Althusser gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter des Strukturalismus, den er mit der Marxistischen Philosophie zu vereinigen versuchte. Er konstruiert einen komplett ahistorischen Marxismus, frei von wirklicher Dialektik und der lästigen Aufgabe der Theorie, sich in der Praxis zu bestätigen. Stattdessen will er eine „Wissenschaft“, die sich in der „theoretischen Praxis“ (mehrfach in: L.A: Über die materialistische Dialektik) bestätigt. Er verneint ausgehend von Marx’ Kritik am Empirismus den positiven Gehalt empirischen Wissens vollständig, da ja die „Essenz“ der Dinge nicht in ihrer Erscheinung, sondern eben in der „theoretischen Praxis“ zu finden sei.
Eine Kritik des „Ökonomismus“ vorschiebend, die er mit massenweise Leninzitaten untermauert, bekommt bei ihm schließlich der Überbau eine extreme Macht, unabhängig von der Basis, bzw. – wie schon oben gesehen – in einem verkehrten Verhältnis zu ihr stehend, d.h. der Überbau bestimmt bei ihm die Basis und nicht – wie bei Marx – die Basis den Überbau. Damit ihm aber niemand einen Bruch mit dem Marxismus vorwerfen kann, beeilt er sich, immer wieder zu wiederholen, dass „in letzter Instanz die Ökonomie“ entscheidend sei. Er lässt diese Erkenntnis leider nicht in seine Theorie einfließen! Dass es sich bei der „Determination in letzter Instanz“ nur um ein Lippenbekenntnis handelt, gesteht er an mehreren Stellen sogar selbst ein. So schreibt er etwa in Widerspruch und Überdetermination:
„Man muß dann bis zum Ende gehen und sagen, dass die Überdeterminierung […] universal ist, dass die ökonomische Dialektik nie im reinen Zustand sich geltend macht, dass man in der Geschichte nie sieht, dass die Instanzen, die Überbauten etc. sich respektvoll zurückziehen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben oder sich auflösen wie ihre reine Erscheinung, um auf dem königlichen Weg der Dialektik ihre Majestät die Ökonomie voranschreiten zu lassen, weil die Zeit gekommen wäre. Die einsame Stunde der „letzten Instanz“ schlägt nie, weder im ersten, noch im letzten Augenblick.“ (Althusser: Widerspruch und Überdetermination, S. 139.)
Also waren alle Versprechen, dass die ökonomische Basis „in letzter Instanz bestimmend“ sei, nur ein Lippenbekenntnis und Althusser hat sich eigentlich bereits von dieser Ansicht verabschiedet, die er so verspottet!
Er konstruiert einen „Marxismus“ der unbefleckten „theoretischen Praxis“. Dies sieht man sogar in einer Spätschrift (Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein?), die generell etwas reumütig anmutet. Er meint, seine früheren Positionen etwas überspitzt formuliert zu haben, was aber in Opposition gegen andere Theorien nötig gewesen wäre:
„Ich habe zum Beispiel vertreten und geschrieben, dass ‚die Theorie eine Praxis` ist und die Kategorie der theoretischen Praxis hervorgebracht hat, was manchen Leuten äußerst skandalös erschien. Dabei muss man die These, so wie jede These, in ihren Abgrenzungseffekten betrachten, d.h. als Position in der Opposition. Sie hat zunächst zur Folge, dass […] die These von der relativen Autonomie der Praxis ermöglicht wurde, also das Recht für die marxistische Theorie, nicht mehr als Mädchen-für-alles der politischen Tagesentscheidungen behandelt zu werden, sondern sich zu entwickeln.“ (Althusser: Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein?, S. 55.)
Wie alle Neo-„Marxisten“ hat Althusser die Tendenz der Ideologie und anderen Elementen des Überbaus eine überaus große Rolle beizumessen, während der reale Klassenkampf der ArbeiterInnen für die Neo-„Marxisten“ kaum eine Rolle spielt. Das ergibt sich logisch aus der Position kleinbürgerlicher Intellektueller in der Gesellschaft. Für diese linken Uniprofessoren blieb das marxistische Verständnis des Verhältnisses von Basis und Überbau immer ein Buch mit sieben Siegeln. Als akademische Linke maßen sie der Ideologiekritik eine große Rolle bei und versuchten die Ideologie abstrakt und isoliert zu betrachten. Damit rechtfertigen sie in Wahrheit ihre eigene Position als Universitätsprofessoren, die Theorie entwickeln und einen ideologischen Kampf (in „relativer Autonomie von der Praxis“, d.h. vom realen Klassenkampf und dem Leben der arbeitenden Menschen unabhängig) führen, ohne jedoch irgendeine Verantwortung für die reale Bewegung der Arbeiterklasse zu übernehmen.
Das macht den Reiz dieser Theorien für akademische Linke und BürokratInnen in der Arbeiterbewegung aus: Man ist Teil des Systems geworden, behält sich aber eine intellektuelle Kritik vor (die die Herrschaft des Kapitals in keinster Weise gefährdet, da sie wenig bis keinen Bezug zum realen Klassenkampf hat!). Hier gibt es viele Parallelen zwischen dem Denken von Lukács und Althusser. Beide sehen die Dialektik nur als Denkwerkzeug (leugnen aber den Ursprung der Dialektik in der Natur). Althusser unternimmt nicht den Versuch, seine „Überdetermination“ aus der Natur herzuleiten. (Ist der Mensch, und folglich sein Denken, nicht auch Teil der Natur?) Althusser argumentiert als Intellektueller im sprichwörtlichen Elfenbeinturm und nützt seine Autorität, um den Marxismus zu entstellen, ihn reformistisch und harmlos zu machen.
Zu diesem Zwecke gibt er (zeitweise) die Gültigkeit einzelner Gesetze der Dialektik zu, jedoch sind sie für ihn eigentlich nur für die Theorie – als Gesetze des Denkens – von Interesse. Er greift einzelne Teile des Marxismus und einzelne Zitate von marxistischen Klassikern heraus, ohne sie in ihrem Gesamtzusammenhang zu betrachten.
So schreibt er beispielsweise in derselben Spätschrift :
„Ich meine in der Tat, dass die Frage der marxistischen Dialektik nur gestellt werden kann unter der Bedingung, dass man die Dialektik dem Primat des Materialismus unterwirft und untersucht, welche Formen sie annehmen muß, um die Dialektik dieses Materialismus zu sein.“
Also auch hier wird – wenn auch die marxistische Dialektik weit weniger aggressiv angegriffen wird als in Widerspruch und Überdeterminierung – kein Abstand von der These genommen, dass eine „marxistische“ Dialektik eine grundlegend andere Form als die Hegelsche hätte, d.h. „überdeterminiert“ ist.
Laut Althusser könnte einem nur „symptomatisches Lesen“ der Marxschen Werke zu einem Verständnis des Marxismus verhelfen. Hier offenbart sich wieder einmal, dass es ihm nicht darum geht, das Marxsche Werk als gesamtes verständlich zu machen und, dass seine „Weiterentwicklung des Marxismus“ eine komplette Revision ist, die sich nur im „marxistischen“ Kleid versteckt. Es ist immer notwendig, die Teile eines Ganzen nicht nur als Teile (einzelne „Strukturen“) zu betrachten, sondern im Verhältnis zum Ganzen zu erforschen. Es reicht nicht, einfach einzelne Teile zusammenzuzählen um ein Ganzes zu bekommen, denn „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Das Betrachten von Einzelteilen – Besonderheiten – macht nur im Zusammenhang mit dem Ganzen – dem Allgemeinen – Sinn. Daher ist eine „symptomatische Leseart“ des Marxismus, die seitenlang über die Bedeutung einzelner Wörter oder Sätze von Marx sinniert, gänzlich unbrauchbar.
Der historische Hintergrund
Revisionismus (eine Abänderung des Marxismus) muss immer an etwas anknüpfen. Selbst Bernstein hat an Marx angeknüpft. Althusser profitiert von der Verdrehung und Kastrierung des Marxismus durch die Bürokratien der stalinistischen Länder und Parteien, die das dialektische Denken zu einer starren Struktur, einem ewig gültigen Dogma erhoben haben, um jeden Schwenk der sowjetischen oder chinesischen Bürokratie zu rechtfertigen.
Im Frankreich der Nachkriegszeit war es für linke Intellektuelle quasi ein Muss, in der Kommunistischen Partei zu sein oder in einem Naheverhältnis zu ihr zu stehen. Und so begann Althusser seine Revision des Marxismus – wie viele andere – von innerhalb der KP.
Die Funktion, die eine Theorie in der (Ideen-) Geschichte hat, muss nicht in der Intention des Theoretikers oder der Theoretikerin von dem/der sie stammt, liegen. Sie muss ihnen nicht einmal bewusst sein! Es mag also sein, dass Althusser ein ehrlicher Kommunist gewesen ist (dagegen spricht allerdings seine absolute Ignoranz für die revolutionäre Situation, die sich 1968 direkt vor seinen Augen entwickelte). Fakt ist, dass seine Lehre eine ganz und gar nicht fortschrittliche Rolle gespielt hat. Mit seiner Betonung der Wichtigkeit der „Strukturen“ in der Entwicklung der Gesellschaft hat er viel Spielraum für Argumentationen gegen die marxistische Ansicht, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zentral für die soziale und politische Entwicklung ist, gelassen. Mit seinen Angriffen auf den „Hegelschen Mystizismus“ greift er hinterrücks und ohne es zuzugeben das Herz des Marxismus an, nämlich die materialistische Dialektik. Damit hat er zumindest einer Generation von StudentInnen das Hirn zermartert und den Kopf verdreht. Er persönlich suchte gegen Ende seines Lebens um eine Audienz beim Papst an, die er 1979 auch bekam. So weit kann nämlich eine Ablehnung des „Hegelschen Einflusses“ auf Marx führen. Mit seinem Konstrukt aus fixen Strukturen und einer starren und fix vorgegeben Art des Widerspruches (Haupt- und Nebenwiderspruch, eine Determinante…) hat er den Geist der Dialektik abgelehnt. Wenn man im folgenden Zitat aus Trotzkis Werk In Verteidigung des Marxismus das Wort „Syllogismus“ durch „starres ‚Dialektik’-Konzept“ (oder „Überdetermination“) ersetzt, erhält man den Kern des Problems:
„Wenn Sie meinen, dass der Syllogismus unveränderlich ist, d.h. weder Ursprung noch Entwicklung hat, dann bedeutet das, dass er für Sie ein Produkt der göttlichen Offenbarung ist.“ (Leo Trotzki, In Verteidigung des Marxismus, S. 85-86.)
Seine NachfolgerInnen vertraten an seine Ideen anknüpfend und diese weitertreibend Theorien, die sich „post-strukturalistisch“ nannten und auf philosophischem Gebiet den Boden für die Postmoderne fruchtbar machten. Althussers ideengeschichtliche Funktion war es also, die sich selbst diskreditierenden Ideen des Strukturalismus, die alleine wahrscheinlich dazu nicht fähig gewesen wären, in einer unglücklichen Zwangsheirat mit marxistischen Ideen (oder besser gesagt einzelnen Zitaten) einem breiten akademischen Publikum einzuimpfen.
Wer sind seine ideologischen Erben?
Althussers Schüler Michel Foucault übernimmt die Ablehnung der Dialektik von seinem Meister. Neu hinzu kommt bei ihm die Verneinung der Existenz einer objektiven Wahrheit, und einer erkennbaren Welt. Damit bildet sein poststrukturalistisches Denken gute Anknüpfungspunkte für die PostmodernistInnen. So sagt Foucault:
„Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. […Es gibt] im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte … Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, … Widerstände die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.“ (Foucault: Sexualität und Wahrheit, S. 1100.)
Hiermit wird jede fortschrittliche Gesellschaftswissenschaft unmöglich und die Arbeiterklasse verschwindet als revolutionäres Subjekt. In der Philosophie vertreten die PostmodernistInnen die freie Kombination bisheriger Erkenntnismodelle, also ein pluralistisches Selbstverständnis. Das ist von einer generellen Beliebigkeit begleitet. Im Grunde richtet sich die Postmoderne gegen die Tradition der Aufklärung, die für sie Faschismus und Stalinismus verschuldet hat, gegen alle Konzepte von Fortschritt, gegen die Möglichkeit der Erkenntnis,… Sie propagieren stattdessen einen Pluralismus an Ideologien. Also: Alles ist erlaubt.
In Deutschland kann man übrigens eine ähnliche Entwicklung sehen: Hier wird der Boden der Postmoderne durch die „Frankfurter Schule“ gedüngt. Gezeichnet von Emigration, Verfolgung, Faschismus und Stalinismus beginnen die Theoretiker der „Frankfurter Schule“, sich immer weiter von Marx zu entfernen und fortschrittsfeindliches Denken aufzugreifen. In der „Dialektik der Aufklärung“ ist der Zweifel Horkheimers und Adornos an dem Konzept der Aufklärung und des Fortschrittes deutlich zu spüren. Horkheimer zum Beispiel sagte 1969 in einem Interview, dass er zu der Schlussfolgerung gekommen sei, „dass Nietzsche vielleicht ein größerer Denker ist als Marx“.
Was die Postmodernen durch ihre extreme Feindschaft gegen den „totalitären“ Marxismus, nicht verstehen können, ist einerseits natürlich der Charakter des Stalinismus und andererseits, dass nicht der „Fortschritt“ den Faschismus und die Kriege des 20. Jahrhundert verschuldet hat, sondern, dass sie Produkte des Kapitalismus sind, der keinen fortschrittlichen Charakter mehr hat. Historisch gesehen war der Kapitalismus ein Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, hat zu einem extremen Anstieg der Produktivität geführt und damit die Grundlage für Erfolge und Entdeckungen in Wissenschaft, Technik usw. gelegt. Heute aber ist das Gegenteil der Fall: Ein Fünftel der Weltbevölkerung ist arbeitslos oder unterbeschäftigt, denn im Kapitalismus wird nur produziert, wo und solange es Profit bringt. Dasselbe trifft auf Forschung und Wissenschaft zu. Dadurch aber beschränkt der Kapitalismus (konkret das Privateigentum und der Nationalstaat) die Entwicklung der Menschheit. Er steckt in einer Sackgasse und ruft Formen der Barbarei hervor. EinE DialektikerIn wird den noch ungelösten Widerspruch zwischen dem enormen Potential der Menschheit und seiner Einschränkung durch Privateigentum und Nationalstaat sofort bemerken.
Fußnoten:
[1] Vgl. Adam Schaff: Strukturalismus und Marxismus. Adam Schaff (1913-2006) war ein kommunistischer polnischer Philosoph. Er studierte in Paris und Moskau und besetzte nach dem zweiten Weltkrieg verschiedene Universitätslehrstühle in Polen. Er war regimetreues Mitglied der stalinistischen KP. Die Autorin teilt nicht seine Positionen, nicht einmal seine gesamte in diesem Buch dargestellte Kritik an Althusser, hält aber manche Ansätze für interessant und brauchbar. Daher wird das Buch zitiert.
[2] Wendet man die dialektische Methode konsequent an, gibt es keinen „Endpunkt“ der Entwicklung. „Der dialektische Materialismus ist selbstverständlich keine ewige und unveränderliche Philosophie. Etwas anderes anzunehmen, hieße dem Geist der Dialektik zu widersprechen. Die weitere Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens wird ohne Zweifel ein umfassenderes Gedankengebäude schaffen, in das der dialektische Materialismus nur als Baumaterial eingehen wird. Es gibt jedoch keinen Grund zu erwarten, dass diese philosophische Revolution unter dem verfaulenden bürgerlichen Regime stattfindet […]“ Leo Trotzki: In Verteidigung des Marxismus, S. 90.
[3] Das Konzept von Haupt- und Nebenwidersprüchen stammt nicht von Marx und hat auch nichts mit der Denkweise der Autorin zu tun. Mao Tse-Tung verwendet diese Begrifflichkeiten und die Idee wird in der stalinistischen Literatur vielfach wiederholt. Diese Idee (eines „Hauptwiderspruchs“ und vieler davon unabhängiger „Nebenwidersprüche“) wurde oft dazu herangezogen, zu behaupten, dass wenn nur der „Hauptwiderspruch“ zwischen Kapital und Arbeit durch die sozialistische Revolution aufgehoben würde, sich alle anderen „Nebenwidersprüche“ (wie etwa die Unterdrückung der Frau) automatisch ebenfalls auflösen würden. Althusser benutzt diese Begrifflichkeiten immer wieder und sie scheinen sein Verständnis der Marxschen Dialektik zu prägen. An manchen Stellen (vor allem in seiner Schrift Über die materialistische Dialektik ist diese Begrifflichkeit oft anzutreffen) und seine Kritik an der „mystischen Hegel‘schen Form“ der Dialektik scheint mir oft eine Kritik des Konzepts von Haupt- und Nebenwiderspruch zu sein.
[4] Eine kleine Ironie der Geschichte – die ich nur am Rande bemerken will – ist, dass Goethes Faust ein tausendmal besseres Dialektikverständnis vermittelt als die philosophischen Schriften des werten Herrn Althusser.
Literatur
- Althusser, Louis (1968): Für Marx. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Althusser, Louis (1968): Über die materialistische Dialektik, in: Für Marx. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Althusser, Louis (1968/2011): Widerspruch und Überdetermination, in: Für Marx. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. VSA, Hamburg/Westberlin.
- Althusser, Louis (1977): Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein?, in: Ideologie und Ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. VSA, Hamburg/Westberlin.
- Buchanan, Mark (2000): Ubiquity: The science of history … or why the world is simpler than we think. Weidenfeld & Nicolson, London.
- Foucault, Michel (1976/2008): Sexualität und Wahrheit, in: Michel Foucault: Die Hauptwerke. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Lenin (1915): Plan der Dialektik (Logik) Hegels, in: Lenin Werke Bd. 38. Dietz Verlag, Berlin.
- Marx, Karl (1888): Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3. Dietz Verlag, Berlin.
- Marx, Karl (1846/47): Das Elend der Philosophie, in: MEW Bd. 4. Dietz Verlag, Berlin.
- Marx, Karl (1863): Theorien über den Mehrwert, in: MEW Bd. 26/3. Dietz Verlag, Berlin.
- Foucault, Michel (1976/2008): Sexualität und Wahrheit, in: Michael Foucault: Die Hauptwerke. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
- Schaff, Adam (1974): Strukturalismus und Marxismus. Europaverlag, Wien.
- Trotzki, Leo (1939/2006): Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party, in: Verteidigung des Marxismus. Arbeiterpresse Verlag, Essen.
- Trotzki, Leo (1940/2006): Offener Brief an Genosse Burnham, in: Verteidigung des Marxismus. Arbeiterpresse Verlag, Essen.
- Trotzki, Leo (1940/2006): Von einem Kratzer – zur Gefahr von Wundbrand, in: Verteidigung des Marxismus. Arbeiterpresse Verlag, Essen.