Es ist eine bekannte Tatsache, dass Zufälle sowohl in der Geschichte als auch im Leben des Individuums eine große Rolle spielen können. Im Laufe meines Lebens habe ich viele außergewöhnliche Zufälle beobachtet. Aber ich habe niemals eine solch einzigartige und unvorhersehbare Verkettung an Umständen erlebt, von welcher ich hier berichten werde.
Alles beruht auf dem Schicksal eines einzigen außergewöhnlichen Briefes, welcher von Leo Trotzki 1938 geschrieben wurde und an die Workers’ International League in Großbritannien adressiert war, die die direkte Vorgängerin der heutigen International Marxist Tendency (Internationale Marxistische Strömung, IMT) ist. Dieser Brief war acht Jahrzehnte vom Erdboden verschluckt. Wir hatten alle gedacht, dass er verloren wäre, und zu einem gewissen Teil war diese Annahme auch korrekt.
Nun jedoch, nach einer außergewöhnlichen Wende der Ereignisse, ist der fehlende Brief zu seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgekehrt. Wie dies zustande kam, wird hier berichtet. Es hat etwas von einer eher unglaubwürdigen Folge einer der Krimiserien, welche so häufig im Fernsehen gezeigt werden. Und wie alle guten Krimis endet auch dieser damit, mit dem ausgestreckten Finger auf jene zu zeigen, die des Verbrechens überführt wurden: dem Verbrechen des Versuchs der Geschichtsfälschung!
Wie alles begann
Die Geschichte beginnt am Montag, den 21 Mai 2018. Genossin Ana Muñoz arbeitet täglich daran, den Schriftverkehr zu unserer Webseite In Defence of Marxism zu betreuen. Normalerweise ist das eine ziemlich routinemäßige Arbeit. Manchmal gibt es interessante Zuschriften aus Ländern, zu denen wir nicht viel Kontakt haben. Sehr oft jedoch führen die Nachrichten zu nichts, einige sind in der Tat einfach Schwindeleien.
Als Ana nun eine E-Mail von einer Person bekam, welche fragte, ob wir an Briefen von Trotzki interessiert wären, welche in einer Schachtel auf dem Dachboden der kürzlich verstorbenen Mutter aufgetaucht waren, war sie daher sowohl verblüfft als auch skeptisch. Der Text der Nachricht lautete wie folgt:
„Ich habe Briefe von Leo Trotzki auf dem Dachboden gefunden. Möchten sie diese haben oder soll ich sie wegwerfen?“
Die Zuschrift war sehr knapp gehalten und etwas seltsam. Sie war mit „MT“ signiert. Aber es gab keinen Hinweis darauf, woher sie kam oder ob der Absender ein Mann oder eine Frau war. Wer war diese mysteriöse Person? Und was waren das für Briefe? Existierten sie überhaupt? All diese Zweifel kamen gingen ihr durch den Kopf, aber sie entschied sich zu antworten, dass wir natürlich an den Briefen interessiert seien. Sie schrieb zurück:
„Sehr geehrte/r MT,
vielen Dank für Ihr Angebot über einige Briefe von Leo Trotzki. Wir wären definitiv an ihnen interessiert, wenn Sie es nicht sind. Wir haben sogar sehr bald einen Vertreter von uns in New York. Wäre es möglich, dass er sie kontaktiert und eventuell mit ihnen über das Thema Absprachen machen kann? Bitte teilen Sie uns das mit.
Mit besten Grüßen,
Ana Muñoz für IDOM”
Ana hatte nach etwas Recherche herausgefunden, dass die Nachricht von einer IP-Adresse aus New York stammt. Die betroffene Person war eine Frau, welche zur Bestätigung eine weiter kryptische Nachricht sendete:
„Ich verlasse New York. Gibt es eine Adresse, an die ich sie schicken kann? MT“
Ana schrieb zurück, dass sie in Kontakt mit einem Genossen der US-Sektion treten sollte, welche ihren Hauptsitz in New York haben. Dieser Kontakt wurde schließlich hergestellt. Sie schrieb wieder:
„Sehr geehrte MT, hiermit bestätige ich, dass Ihre E-Mail Adresse an unsere Repräsentanten in New York weitergegeben wurde. Sie sollten Ihnen nun schon geschrieben haben. Ich möchte Ihnen außerdem noch dafür danken, dass sie so freundlich sind, diese Briefe an uns zu spenden.
Mit besten Grüßen,
Muñoz“
Für die Internationale übernahm Genosse Antonio Balmer den Kontakt und vereinbarte die Zusendung der Briefe.
Die Briefe kommen an
Dann warteten wir. Eine Woche verging, dann noch eine und noch eine. Der Verdacht wurde größer, dass wir die Briefe niemals sehen würden. Unter all dem Druck der täglichen Arbeit vergaßen wir sie fast. Dann, eines schönen Tages kam ein Anruf eines aufgeregten Genossen in New York: Die Briefe waren angekommen!
Wir waren natürlich sehr erfreut, diese Neuigkeiten zu hören, aber zu diesem Zeitpunkt konnten wir noch nicht begreifen, als wie bedeutend dieses Ereignis sich herausstellen würde. Wir hatten keine Ahnung, was in den Briefen stand und vermuteten etwas von sekundärer Wichtigkeit – vielleicht von organisatorischem oder administrativem Charakter. Wir hätten uns nicht stärker irren können.
Bevor wir die tatsächlichen Briefe bekamen, wurde uns eine E-Mail mit angehängten Kopien geschickt. Da ich unter einer schweren Bindehautentzündung litt, war es sehr schwierig für mich, sie zu lesen. Also bat ich Ana, mir die Briefe vorzulesen. Sie antwortete, dass es drei Briefe wären, zwei längere und ein etwas kürzerer. Ich bat sie den kürzeren zu lesen.
Sie begann damit, vorzulesen, und ich war sofort fasziniert von dem, was ich hörte. Ungläubig sagte ich: „Kannst du das nochmal vorlesen?“ Sie tat es und mein Erstaunen wuchs von Minute zu Minute. Ich rief aus: „Mein Gott! Das ist erstaunlich. Du weißt nicht, was du da in deinen Händen hältst!“
Ich überprüfte den Brief und konnte feststellen, dass er tatsächlich echt ist. Hier war Trotzkis eigene Unterschrift, für alle sichtbar. Das war der fehlende Brief, den wir alle in den letzten acht Jahrzehnten für verloren hielten!
Ich wagte immer noch nicht meinem eigenen Urteilsvermögen zu vertrauen, deshalb rief ich Rob Sewell an, der einige Jahre zuvor an die Harvard University gegangen war, um nach dem fehlenden Brief in den Trotzki-Archiven zu suchen, die dort aufbewahrt werden. Er fand den Brief nicht, wenn er auch zufällig über Kisten mit unveröffentlichtem Material aus Trotzkis Biographie über Stalin stolperte, die wir später zum ersten Mal veröffentlichten.
Ich sagte: „Rob, du wirst es nicht glauben, aber es sieht so aus, als ob der Brief, nach dem du gesucht hast, jetzt in meinen Händen liegt. Jedenfalls ist es eine Bestätigung, dass der Brief existiert hat, aber er sieht für mich aus, als ob er echt wäre.“ Nachdem ich ihm den Brief vorgelesen hatte, sagte er sofort: „Das ist der Brief!“
Aber was für ein Brief?
Während seines Lebens hielt Ted Grant Vorträge über die britische trotzkistische Bewegung in den 1930er Jahren, in der er aktiv war. Er sprach häufig über eine Begebenheit, über einen Brief, den Trotzki uns über die Einleitung in Trotzkis Artikel The Lessons of Spain – The Last Warning im Frühjahr 1938 geschickt hatte.
Er behauptete immer, dass Trotzki ein Exemplar geschickt wurde und er damit antwortete, dass er die Produktion begrüßte und die Einleitung lobte. Er sagte, dass Trotzki auch die Initiative der Genossen, eine eigene Druckerei zu etablieren, herzlich begrüßt habe.
Das Problem war, dass er nie eine Kopie dieses Briefes hatte und dieser auch nicht in den Gesammelten Werke Trotzkis vorkam. Wo war der Brief? Das war ein Rätsel, von dem wir dachten, dass es nicht gelöst werden könnte. Aber jetzt ist es gelöst. Lassen Sie uns das Mysterium Punkt für Punkt aufklären.
Drei Briefe
Hier sind die drei vollständigen Briefe:
Avenida Londres 127
Coyoacan, D.F.
Mexico.
21. Mai, 1937
Lieber Genosse Sumner,
Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihren freundlichen und sehr informativen Brief. Ich kann die Hindernisse, die ihr überwinden müsst, sehr gut verstehen, aber es steht außer Zweifel, dass sich die Situation mit jedem neuen Monat zu euren Gunsten ändern wird. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, mit der Untersuchung zu beginnen; jetzt wird sich die Wahrheit fast so selbstständig offenbaren wie eine Naturkraft. All diese Damen und Herren, einschließlich so politische alte Weiber wie Brailsford und Fenner Brockway, werden bald feststellen, dass der Boden unter ihnen heiß wird, und sie werden versuchen, sich dem Lager der Wahrheit anzuschließen, um nicht vollständig kompromittiert zu werden. Wir können offen und mit voller Sicherheit unseren Sieg über die Meister des Komplotts und ihrer Agenten der ersten und zweiten Reihe voraussagen. Die Veränderung, die jetzt in den Vereinigten Staaten stattfindet, wird Ihre Situation in England zweifellos positiv beeinflussen.
Bitte überbringen Sie meine respektvollen Grüße an Ihre Mutter und meine besten Wünsche an alle unsere Freunde in England.
Mit brüderlichem Gruß,
Leo Trotzki
LT/BW
15. April, 1938
Lieber Genosse Sumner,
Ich habe dir schon lange nicht mehr geschrieben, aber du verstehst ja die Gründe dafür. Wir haben dein Telegramm und deinen Brief erhalten und sowohl Natalja als auch ich schätzen deine freundschaftlichen Gefühle sehr…
Ich weiß nicht, ob Sie über die Reise von Genosse Cannon nach Europa und in erster Linie nach London informiert wurden. Es ist möglich, dass Genosse Shachtman auch mit Cannon mitkommt. Ich messe dieser Reise große Bedeutung bei, vor allem für die Dinge in England. Cannon und Shachtman sind unsere besten Genossen in den Staaten, mit großer Weitsicht und mit solider Erfahrung in organisatorischen Dingen. Eine ihrer Aufgaben ist es, alle englischen Gruppen zu treffen, die zur Vierten Internationale gehören oder gehören wollen, und zu versuchen, die Situation zwischen diesen Gruppen zu normalisieren, um die Herauskristallisierung einer echten britischen Sektion der Vierten Internationale zu unterstützen. Ich hoffe, dass Sie und Ihre Gruppe mit Cannon und Shachtman bei ihrer Aufgabe vollkommen kooperieren werden.
Ich bezweifle, dass sie länger als eine Woche in London bleiben können, möglicherweise auch kürzer. Es ist unbedingt notwendig, diese Zeit so gut wie möglich zu nutzen. Das beste Verfahren wäre, so scheint es mir, jetzt in Verbindung mit den anderen Gruppen zu treten und sogar ein technisches Komitee einzurichten, um das Treffen der amerikanischen Freunde mit jeder der britischen Gruppen getrennt und dann mit allen gemeinsam zu organisieren. Sie werden sicherlich rechtzeitig eine Mitteilung mit dem genauen Tag der Ankunft der amerikanischen Freunde in London erhalten. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir einen Hinweis über die Vorbereitung der Gespräche mit C und S und später auch über die Ergebnisse dieser Gespräche geben würden.
Ich habe Ihre Publikationen erhalten. Danke. Aber ich schreibe heute nur über die „C-S“-Reise.
Viele Grüße von Natalja und mir an dich und alle Freunde.
Mit brüderlichem Gruß,
Trotzki
Coyoacan, D.F.
LT: joe 61-18
P.S. – Ich habe einen Brief von Frank Maitland im Namen der „Revolutionären Sozialistischen Partei“ erhalten. Er wollte meinen Artikel über Spanien als Broschüre veröffentlichen und ist bereit, dies in Zusammenarbeit mit einer unserer britischen Gruppen zu tun. Die Entwicklung seiner Partei, schreibt er mir, geht völlig in die Richtung der Vierten Internationale. Stehst du in Verbindung mit ihnen? Ich schreibe heute an Maitland.
Frank Maitland war ein schottischer Trotzkist, der, wie ich glaube, später für kurze Zeit der RSL beitrat. Aber die vorgeschlagene Broschüre von Trotzkis Schriften über Spanien ist nicht erschienen. Wahrscheinlich wurde sie nie veröffentlicht. Im Gegensatz dazu veröffentlichten die Genossen der WILL (Workers International League) eine Broschüre von Trotzkis Artikel The Lessons of Spain mit einem Vorwort, das von Ted Grant in Zusammenarbeit mit Ralph Lee geschrieben wurde. Es ist dieses Vorwort, das Trotzki im folgenden Brief lobte:
29. Juni 1938
Lieber Genosse Sumner,
Ich habe eure Ausgabe meiner Spanien-Broschüre mit eurer exzellenten Einleitung erhalten. Es war wirklich eine gute revolutionäre Idee, eine eigene Druckerei zu etablieren.
Wir haben Leons Brief an Sie erhalten, der sich als sein letzter Brief entpuppte. Ich erinnere mich nicht, ob ich Ihnen damals darauf antwortete. Natalia war sehr gerührt von Ihrer Anteilnahme.
Ich schrieb Ihnen bezüglich Cannons und Shachtmans Reise nach Europa, vor allem nach England, und der damit verbundenen Pläne. Haben Sie diesen Brief erhalten? Sie haben mir bezüglich dieser Angelegenheit nie geantwortet.
Herzlichste Grüße an Sie und Ihre Freunde.
Ihr Leo Trotzki
Coyoacan, D.F.
LT: joe 71.2
Wer war Charles Sumner?
Charles Sumner (auch bekannt als A. Boyd) war Parteiname von Hilary Sumner-Boyd. Er war eigentlich Amerikaner, geboren in Boston, Massachusetts im Januar 1913, und starb im Alter von 63 Jahren im September 1976 in Istanbul. Der Sohn von Matthew Frederick Boyd und Anne Porter Boyd kam offensichtlich aus einer wohlhabenden Familie, da er eine private Schulbildung erhielt.
Später studierte er an der Christ Church in Oxford. Aber es scheint bestimmte radikale Einflüsse in der Familie gegeben zu haben. Sein Vater hatte John Reed gekannt, und Trotzki scheint mit seiner Mutter vertraut gewesen zu sein. Er war ein begabter Intellektueller, der Griechisch, Deutsch, Französisch, Türkisch und Latein sprach.
Zur für uns relevanten Zeit war er Sekretär der „British Revolutionary Socialist League“, Geschäftsführer der „Red Flag“ und seine Wohnung in der Edgware Road 238 diente als Zentrum für Aktivitäten der Liga. Er spielte eine aktive Rolle in der Kampagne zur Aufdeckung der verlogenen Natur der Moskauer Prozesse. Er war auch Mitglied des Internationalen Sekretariats und nahm an der Gründungskonferenz der Vierten Internationale teil.
Aber, wie die Genossen der WIL gewarnt hatten, war die 1938 stattfindende sogenannte „Einheitskonferenz“ in Großbritannien von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die künstliche „Einheit“, die von Cannon und Shachtman ausgehandelt wurde, begann sofort zusammenzubrechen. [Die Gründe werden im Folgenden erläutert]. Die neue Organisation zersplitterte sehr schnell. Das muss sich zutiefst negativ auf seine Moral ausgewirkt haben.
Was auch immer der Grund dafür war, Sumner verlies später Großbritannien in Richtung Türkei, wo er sich aus der aktiven Politik zurückzog und in der akademischen Welt aufging, in der er sich einen ziemlichen Namen machte. Er war der Autor eines sehr bekannten Buches für Touristen: „Istanbul: Ein Führer“. Hilary war auch maßgeblich an den Entwicklungen des modernen türkischen Theaters beteiligt, wobei eine Reihe seiner Schüler eine bemerkenswerte Karriere als Schauspieler, Regisseure und Dramatiker absolvierten.
Aber obwohl er sich aus der trotzkistischen Bewegung zurückgezogen hatte, scheint es, dass er nie ganz mit diesen Ideen gebrochen hatte. Der britische Philosoph A.J. Ayer erinnerte sich an das Treffen mit „…einem Amerikaner namens Hilary Sumner-Boyd, der Sekretär war, und nach allem was ich feststellen konnte, das einzige Mitglied der trotzkistischen Partei Oxfords (!). Seine extrem sanfte Art und Weise verleugnete die Schärfe seiner Ideen.“
Dies wird in einem Brief bestätigt, der von seinem Anwalt nach seinem Tod geschrieben wurde. Es bezieht sich auf die Trotzki-Briefe, die er all die Jahre sicher in seinem Besitz aufbewahrt hatte. Der Anwalt schreibt:
“Taşkonak
Meydan Mahallesi Nr. 18
Rumeli Hisarı
Istanbul
19. März, 1977
An MW:
Als Treuhänder und Vollstrecker des Nachlasses des verstorbenen Prof. Hilary Sumner-Boyd habe ich das Vergnügen, Ihnen vollständig und bedingungslos die beigefügten Briefe zu vermachen, die Leo Trotzki am 15. April, 29. Juni, 38 und 21. Mai 1937 an Hilary geschrieben hatte.
Diese Briefe können nach eigenem Ermessen von Ihnen benutzt oder über sie verfügt werden.
Ich weiß, dass Hilary sehr glücklich gewesen wäre, zu wissen, dass diese Briefe sich in Ihrem Besitz befinden. Sie sind nicht von großem historischem Wert, aber es ist schon etwas, einen Teil der Geschichte berühren zu können. Es war Hilarys Wunsch, dass sein Besitz denen übergeben werden sollte, die ihn um ihrer selbst willen benutzen und zu schätzen wissen würde, und nicht um seiner Willen. Es entspricht diesem Wunsch, dass Ihnen diese Briefe anvertraut werden.
Michael J.L. Austin”
Offensichtlich war der Anwalt mit seinem Mandanten ausreichend vertraut, um sich seiner politischen Neigungen bewusst zu sein, und er betont, dass es sein ausdrücklicher Wunsch war, dass diese Briefe an jemanden weitergegeben werden sollten, „die ihn um ihrer selbst willen benutzen und zu schätzen wissen würde, und nicht um seiner Willen“.
Daraus ergibt sich, dass der Mann, der als Genosse Sumner bekannt war, zwar längst keine aktive Rolle mehr in der revolutionären trotzkistischen Bewegung gespielt hatte, aber er diese Briefe sein ganzes Leben lang aufbewahrt und geschätzt hatte und sich ausreichend um ihre Zukunft sorgte, um in seinem letzten Willen darauf zu bestehen, dass sie denen übergeben werden, die den Wert schätzten und sie angemessen nutzen werden.
Aus diesem Grund hat sich der Anwalt in Istanbul die Mühe gemacht, Kontakt mit jemandem aufzunehmen, der damals aktives Mitglied der amerikanischen SWP (Socialist Workers Party) war. Wir wissen nicht, wie die Verbindung hergestellt wurde. Was wir wissen, ist, dass der Empfänger der Briefe, MW, sie später der Person gegeben hat, die sie nun an die Menschen übergeben hat, für die Trotzki sie ursprünglich bestimmt hatte.
Als wir MT für ihr großzügiges Geschenk dankten, erklärten wir auch einige der Hintergründe dieser Briefe und warum sie uns so viel bedeuteten. Als sie auf unsere Nachricht antwortete, gab sie einige weitere Details darüber preis, wie die Briefe ans Licht kamen:
„Hallo,
Ich bin froh, dass die Briefe das richtige Zuhause gefunden haben.
Was ihre Herkunft betrifft, so habe ich vor vielen Jahren die Schule mit MW besucht. Als MW seinen Abschluss machte, übergab er eine Mappe für die „Tufts Student Coalition Against Racism”, die ich im nächsten Jahr leitete. Er gab die Briefe damals an mich weiter weil er dachte, ich würde mich für sie interessieren. Ich fand sie wieder, als ich den Dachboden meiner Mutter ausräumte, nachdem sie gestorben war. Sie befanden sich in einer alten Kiste mit „wertvollen“ High-School-Briefen und -Papieren.
Ich konnte die aktuellen Kontaktinformationen von MW nicht über das Absolventen-Büro der Taft beziehen, also machte ich eine Online-Suche und fand ihre Organisation.
Es tut mir leid, dass sie so lange verschollen waren, aber ich bin froh, dass sie Euch gefunden haben und dass sie einige Lücken schließen. Danke, dass Sie ihre Wichtigkeit mit mir teilen! Ohne Zusammenhang hatte ich sie etwas verwirrend gefunden, und jetzt habe ich ein neues Verständnis für ihre Geschichte und Bedeutung.
Mit freundlichen Grüßen
MT“
Auf solchen Umwegen bewegt sich die Geschichte!
Weitere Informationen zu diesen Fragen lieferte Genosse Steve Iverson, Mitglied der amerikanischen Sektion der IMT aus Boston, der viele Jahre lang ein aktives Mitglied der SWP war. Als Kommentar zu einer Rede, die ich letzten Sommer auf dem IMT-Weltkongress in Italien gehalten hatte, in der ich Trotzkis Brief als „unsere Geburtsurkunde“ bezeichnete, schrieb er folgendes:
„Die Delegierten des IMT-Weltkongresses 2018 waren begeistert von der Geschichte, wie wir die ‚Geburtsurkunde‘ unserer Tendenz in unsere Hände bekommen haben, den Brief von Trotzki an die britischen Genossen, in welchem er ihnen zur Veröffentlichung der Broschüre über die Spanische Revolution gratuliert.
Wie die Geschichte sich darstellte, enthielt sie immer noch ein Geheimnis über die Herkunft des Dokuments selbst: Das heißt, wie gestaltete sich die Kette der Aufbewahrung, sodass es schlussendlich an sein rechtmäßiges Platz gelangte.
Ana berichtete, dass die Amerikanerin, die uns mit dem Angebot der drei ursprünglichen Trotzki-Briefe kontaktierte, uns später ein wenig über die Umstände erzählte, die sie in ihr rechtmäßiges Zuhause führten.
Zufällig bin ich in der Lage, einige Lücken in dieser Geschichte zu schließen.
Unsere Spenderin erzählte uns, dass sie Mitte der 70er Jahre eine Studentin an der Tufts University in Somerville, Massachusetts, war. Während ihres Studiums trat sie einer Hochschulgruppe der ‚National Student Coalition Against Racism‘, NSCAR, bei. Ich war während ihrer kurzen Existenz auch Mitglied dieser Organisation. Und obwohl ich jetzt zwei Blocks von dieser Universität entfernt wohne, lebte ich damals am anderen Ende des Kontinents, in Kalifornien.
NSCAR wurde im Januar 1975 auf Initiative der amerikanischen Socialist Workers Party und ihrer damaligen Jugendorganisation, der Young Socialist Alliance, auf einer Konferenz an der Boston University gegründet. Sie war ein Werkzeug zur Ausweitung und Festigung von Mobilisierungen, die die schwarze Gemeinschaft Bostons in ihrem Kampf gegen rassistische Kräfte unterstützen sollte, welche die Aufhebung der Rassentrennung an den Bostoner Schulen aktiv verhinderten.
Diese Frau erklärte uns, dass der Vorsitzende der SCAR Gruppe an der Tufts ihr die drei Dokumente anbot, als er sich darauf vorbereitete, Boston zu verlassen um in eine andere Stadt zu ziehen. Er hatte die Briefe als Erbe von einem Professor erhalten, der in den frühen 1970er Jahren gestorben war.
Die Verbindung zwischen diesem Professor und dem Studenten bleibt ein Rätsel, aber der erbende Student, MW, ist jemand, den ich einmal kannte.
Er ist, soweit ich weiß, nicht mehr politisch aktiv. Aber viele Jahre lang war MW Mitglied der Socialist Workers Party. Im Laufe der Jahre war er als Ortsgruppenorganisator in verschiedenen Städten tätig und kandidierte 1985 sogar als SWP-Kandidat für das Bürgermeisteramt von Pittsburgh, Pennsylvania.
Eine merkwürdige Sache an MWs Übergabe der drei Dokumente im Jahr 1977 ist, warum er dies zu einer Zeit tun würde, in der die Trotzki- Archive endlich der Öffentlichkeit an der Harvard University zugänglich gemacht worden waren und mehrere SWP-Mitglieder mit der Recherche in den Unterlagen beauftragt wurden, um den Umfang der Reihe von Pathfinder Press von Trotzkis Schriften während seines letzten Exils zu erweitern. Warum hat er sie nicht stattdessen der Partei übergeben, der er angehörte?“
Wie sich herausstellt, wurden Kopien von zwei der drei Briefe im Archiv gefunden und in Druck gegeben. Aber der dritte, der uns am meisten interessierte, blieb verschwunden…
Warum der Brief unterschlagen wurde
Die ersten beiden Briefe wurden von der SWP im Rahmen von Trotzkis Werken veröffentlicht. Der dritte wurde es nicht. Er verschwand einfach, als ob er nie existiert hätte. Die zu stellende Frage ist: Warum wurde dieser Brief – und nur dieser Brief – jahrzehntelang unterschlagen?
Wie dieser Brief für unsere Strömung von größter Bedeutung war, war seine bewusste Unterschlagung eindeutig von ebenso großer Bedeutung für unsere politischen Feinde. Und es besteht kein Zweifel daran, dass dieser Brief tatsächlich von den Führern der SWP, insbesondere von James Cannon, bewusst unterschlagen wurde.
Welchen Beweis haben wir für diese Behauptung? Wir haben bereits erklärt, dass es sich um drei Briefe handelte. Zwei davon wurden in Trotzkis Schriften von der amerikanischen SWP veröffentlicht. Nur einer wurde weggelassen, das ist der berühmte fehlende Brief. Hatte die SWP keine Kopie dieses Briefes? Das ist völlig undenkbar. Joseph Hansen, der einer von Trotzkis Sekretären war, hatte Kopien aller Korrespondenz von Trotzki. Und er hatte sicher eine Kopie dieses Schreibens, wie die Tatsache zeigt, dass am Ende des Schreibens ein Aktenzeichen steht: „Joe 71.2“ (d.h.: Kopie an Joe Hansen).
Doch im Harvard-Archiv existiert keine Kopie dieses Briefes. Wie bereits erwähnt, ging Genosse Rob Sewell 2003 an die Harvard University in Boston, um nach dem fehlenden Brief im Trotzki-Archiv zu suchen. Er fand absolut keine Spur davon. Dabei fand er jedoch – wie wir oben erklärten – mehrere Kisten mit unveröffentlichtem Material, die in Trotzkis Biographie von Stalin weggelassen worden waren. Dies war der Beginn eines wichtigen Projekts der IMT, eine neue und erweiterte Version dieser wichtigen Arbeit zu veröffentlichen. Aber was den fehlenden Brief betrifft, so blieb er verschwunden.
Um die Gründe für dieses Geheimnis zu klären, müssten wir bis zu den Ursprüngen unserer Strömung in der Zeit zurückgehen, vor Trotzkis Versuch, die Vierte Internationale vor 80 Jahren im Jahr 1938 zu gründen. Dies ist nicht der Ort, um die Umstände, unter denen dies geschah, oder die anschließende katastrophale Entwicklung, die zum Zusammenbruch der Vierten Internationale führte, im Detail zu behandeln. Diese Fragen wurden in anderen Werken behandelt, insbesondere in Ted Grants History of British Trotskyism und The Programme of the International.
Der Umfang des vorliegenden Artikels ist weitaus begrenzter, wirft aber dennoch ein deutliches Licht auf die falschen Methoden und organisatorischen Schikanen, die zusammen mit falschen politischen Positionen und Analysen ein wichtiges Element in der Degeneration und dem Zusammenbruch der Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg waren.
Obwohl wir dieses Thema nicht im Detail behandeln können, ist es notwendig, zumindest einen Überblick über bestimmte Ereignisse zu geben, damit sich der Leser ein Bild davon machen kann, was hinter diesem Fall des fehlenden Briefes steckt.
Die Ursprünge der IMT
Die Geschichte unserer Tendenz kann direkt auf die herausragende Arbeit von Leon Trotzkis Linker Opposition in den 1920ern, zurückverfolgt werden. Tatsächlich reicht sie noch weiter in die Zeit der Dritten Internationalen Lenins und Trotzkis zurück. Die Isolation der Russischen Revolution unter der Bedingung schrecklicher Rückständigkeit, erlaubte den Aufstieg einer riesigen Bürokratie, die begierig darauf war, die Früchte des Sieges zu genießen.
Die Opposition der Bürokratie zur Weltrevolution hatte eine materielle Grundlage. Die emporkommende Schicht konservativer Beamten wollte ein ruhiges Leben, ohne den Sturm und den Stress der Revolution und frei von der Kontrolle durch die Massen führen. Mit jedem Rückschlag den die Arbeiterklasse erlitt sammelte diese privilegierte Kaste, die aus Millionen von Beamten – viele davon ehemalige zaristische Bürokraten – bestand, mehr Macht in ihre Hände, während sie die erschöpfte Arbeiterklasse mit den Ellbogen beiseiteschob.
Nach Lenins letzter Krankheit, nahm Trotzki den Widerstand gegen Stalin und die wachsende bürokratische Bedrohung auf seine Schultern und kämpfte für das leninistische Programm des proletarischen Internationalismus und der Arbeiterdemokratie. Er lancierte Ende 1923, nach dem Scheitern der deutschen Revolution, die Linke Opposition in einem Versuch die elementaren Ideen Lenins, die systematisch revidiert und verworfen wurden zu verteidigen.
Der Ausbruch dieses Kampfes innerhalb Russlands zwischen der Opposition und dem Triumvirat Stalins, Sinowjews und Kamenews beschränkte sich zu Beginn auf das Innere der Führung der Kommunistischen Partei Russlands. Die Auseinandersetzung bekam allerdings eine starke Eigendynamik und die Kampagne Trotzki als Lenins Nachfolger zu diskreditieren, wurde bald nach Lenins Tod auch in die Reihen der Kommunistischen Internationalen getragen.
So wie innerhalb des Apparates der russischen Partei, wo Stalin seine Position genutzt hatte, um ein treu ergebenes Personal auszuwählen, selektionierte auch Sinowjew in der Kommunistischen Internationale Führer in die einzelnen nationalen Sektionen, die sich Moskau gegenüber als gefügig erwiesen. Trotzdem war die Führung in den jungen Tagen der kommunistischen Bewegung gezwungen, eine pseudo-demokratische Diskussion über die Fragen, die die russische Opposition aufwarf zuzulassen.
Der darauffolgende Ausschluss der Linken Opposition aus der Kommunistischen Partei Russlands im November 1927, war eine Niederlage für die wahren Kräfte des Leninismus innerhalb der kommunistischen Parteien weltweit. Dies öffnete den Weg für eine Zick-Zack Politik Stalins und die spätere Beseitigung der Rechten Opposition von Bukharin. Es war ein weiterer Schritt der Konsolidierung der Bürokratie in der Sowjetunion und der Beseitigung aller Oppositionselemente innerhalb der Kommunistischen Internationale. Nach dem Ausschluss der russischen Linken Opposition folgten ähnliche Säuberungen in jeder Sektion der Komintern.
Ein Mann gegen die Welt
Trotz allen Versuchen Stalins und seines mächtigen Apparats die Opposition zu zerstören, ließ Trotzki sich nicht zum Schweigen bringen. Von seinem Zwangsexil der kleinen türkischen Insel Prinkipo aus setzte Trotzki seinen sturen Kampf gegen den Stalinismus fort. Er begann den langsamen und beschwerlichen Prozess der Vereinigung aller Kommunisten, die bereit waren das wirkliche Programm und die Traditionen des Bolschewismus-Leninismus zu verteidigen.
Die Bedingungen unter denen Trotzki versuchte eine neue Internationale aufzubauen waren aber unvorstellbar schwierig. Die Welle der Reaktion, die mit eisernem Besen durch ganz Europa fegte, manifestierte sich in einer Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse und dem Aufstieg des Faschismus in Italien, Deutschland und Spanien. In Russland wurde in den monströsen Moskauer Prozesse ein einseitiger Bürgerkrieg der stalinistischen Bürokratie gegen den Bolschewismus geführt. Weit weg von Moskau in seinem mexikanischen Exil setzte Trotzki seinen mutigen, aber einsamen und fast aussichtslosen Kampf fort: ein Mann gegen die ganze Welt.
Unter diesen Umständen spiegelten die Kader der neuen Internationalen zwangsweise das Milieu der Niederlagen und Reaktion wieder: demoralisierte Elemente, die hauptsächlich aus dem Kleinbürgertum stammten. Es ist eine Tatsache, dass Trotzki nur auf sehr beschränkte personelle Ressourcen zählen konnte. Viele der Leute, die der Opposition beitraten taten dies nicht, weil sie überzeugte Bolschewisten-Leninisten waren, sondern rein als Reaktion gegen die Exzesse des Stalinismus. Einige waren müde und ausgebrannt und viele waren politisch desorientiert. In der Opposition sammelten sich Linksradikale, Quasi-Anarchisten, Syndikalisten, Bordighisten und Anhänger anderer sterile politische Verirrungen.
Trotzki war sich dieses Problems sehr bewusst. Das zeigt sich sehr gut in Trotzkis Schrift Die Krise der französischen Sektion die die Periode von 1935-36 behandelt. Am klarsten offenbart sich das im Transkript eines Interviews, das Trotzki Fred Zeller, einem führenden Linken der französischen Jungsozialisten gab. Hier konfrontiert Zeller Trotzki mit dem schlechten Verhalten seiner Genossen in Frankreich, Trotzki versuchte nicht sie zu verteidigen. All was er sagte, war:
„Du weißt, sagte er, es gibt keine große Wahl. Du musst mit den Leuten arbeiten, die man zur Hand hat. Das ist nicht immer angenehm.“
(zitiert nach: Rote Reihe 35: Textsammlung zu Grundfragen marxistischer Grundarbeit, s. 67)
Trotzkismus in Großbritannien
Trotzkis Bewertung der französischen Trotzkisten stimmte auch für die Leute, die sich in Großbritannien Trotzkisten nannten. Wie in Frankreich, bestanden sie hauptsächlich aus Kleinbürgern, Bohemiens, die völlig unfähig waren aus ihrer Kleinzirkelmentalität auszubrechen und einen Zugang zur Arbeiterklasse zu finden. Sie litten zudem an Sektierertum, einer Krankheit die die Bewegung von Anfang an plagte und Trotzki sehr oft kritisierte.
Um die Isolation der britischen Trotzkisten von der Arbeiterklasse zu brechen, versuchte Trotzki sie zu einem Beitritt in die Independent Labour Party zu überzeugen. Diese hatte sich in den frühen Dreißigerjahren mit der Unterstützung von vielen nach links drängenden Arbeitern von der Labour Party abgegespalten. Typischerweise hörten sie lange nicht auf Trotzkis Rat und nur eine kleine Gruppe von 15 oder 20 Leuten, die sich „The Marxist Group“ nannte, trat schlussendlich der ILP bei. Sie waren sehr unerfahren und traten der ILP erst zu einem Zeitpunkt bei, als sie bereits wieder an gesellschaftlicher Unterstützung verlor.
Mit der Ankunft von einigen enthusiastischen jungen Trotzkisten aus Südafrika begann sich die Situation zu verbessern. Einer von ihnen war Ted Grant. Die „Marxist Group“ erzielte zwar gewisse Erfolge, aber zu diesem Zeitpunkt waren die Möglichkeiten in der ILP fast völlig erschöpft. Trotzki sah, dass sich mehr Möglichkeiten in der Labour Partei öffneten, besonders in der Jugendorganisation, der Labour League of Youth. Er schrieb:
„Weil die ILP Jugend klein und verstreut ist, während die Labour Jugend die Massenjungendorganisation ist, würde ich sagen: Baut nicht nur Fraktionen auf – versucht beizutreten. Die Britische Sektion wird die ersten Kader aus den dreißig tausend jungen Arbeitern in der Labour League of Youth gewinnen.“ (übersetzt aus: Leon Trotzki, Writings, 1935-36, p. 203)
Ted Grant half beim Aufbau der Bolschewistisch-Leninistischen Gruppe in der Labour Party, die später in der Öffentlichkeit unter dem Namen Militant Group bekannt wurde, benannt nach der Zeitung der Gruppe. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Mehrheit der südafrikanischen Gruppe Grant angeschlossen, dazu gehörte auch Ralph Lee. Die Organisation bestand aber hauptsächlich aus Leuten aus dem Kleinbürgertum, was sich auch im internen Regime wiederspiegelte. Eine Brutstätte für Klatsch, Intrigen und Verrat. Es war genau jenes ungesunde Umfeld in dem kleinbürgerliche Elemente aufblühen.
Die alten Führer reagierten mit Neid und Ablehnung auf die enthusiastischen jungen Genossen, die als Bedrohung für ihre Positionen und Autorität sahen. Wie immer in solchen Gruppen, ersetzen Skandale und persönliche Attacken die politische Debatte. Unfähig ihre politische Position zu verteidigen, organisierten die Führer eine Reihe von skandalösen Angriffen und Verleumdungen gegen Ralph Lee. Die Vorwürfe waren falsch und wurden später widerlegt.
Doch die giftige Atmosphäre führte unweigerlich zu einem Zusammenbruch der Beziehungen innerhalb der Organisation. Die Krise endete mit dem Ausschluss der Genossen aus der Militant Group.
Die ausgeschlossenen Genossen entschieden sich, dass ein Neuanfang nötig sei und gründeten die Workers’ International League (WIL). Die erste Ausgabe der Workers’ International News erschien im Januar 1938. Sie waren zwar nur eine Handvoll Leute, ihre geringe Größe und sehr begrenzten Ressourcen kompensierten sie aber mit jugendlichem Elan und revolutionärem Enthusiasmus. Ted erinnerte sich später:
„Wir hatten acht Mitglieder. Wir waren sehr aktiv, verkauften im Hyde Park, am Piccadilly und in der Tottenham Court Road. Wenn es Streiks gab, intervenierten wir und gewannen so Leute, wir gewannen Arbeiter. Wir in dem Sinne die einzige Arbeitergruppe. Wir wollten Arbeiter, wir wollten nicht den Müll, der sich es in anderen Gruppen sammelte.“
Kurz nach der Gründung der WIL, schrieb Ralph Lee am 12. Februar 1938 einen Brief an Trotzki (Leon Trotzki exile papers, Harvard, bms Russ 13.1, 2625). Er schickte ihm außerdem zwei Ausgaben der Workers International News (WIN), eine davon war die erste Ausgabe der WIN, die im Januar produziert wurde und einen Artikel von Trotzki beinhaltete. Trotzki las den Brief und markierte Teile mit roter und blauer Farbe. Am Rand, neben der Stelle in der Ralph mitteilt, dass die Kopien der WIN und ein Pamphlet getrennt gesendet wurde, setzte Trotzki ein Fragezeichen. Das könnte einerseits bedeuten, dass er sie nicht erhielt oder andererseits, dass er mehr über die Gruppe herausfinden wollten, vielleicht auch beides.
Kurz vor Kriegsbeginn legt sich die Workers’ International League die erste Druckmaschine zu: eine defekte alte Maschine, die vom handwerklich sehr begabten Lee repariert wurde. Auf dieser Maschine produzierten sie in Folge ihr theoretisches Magazin Workers’ International News und eine Zeitung namens Youth for Socialism.
Ralph erklärte Trotzki weiter, dass die Gruppe eine Druckpresse, mit der die neue WIN produziert wurde, erworben habe. „Bis jetzt haben wir zwei Ausgaben der Workers International News und eine Broschüre mit dem Titel Zusammenfassung des finalen Berichts der Untersuchungskommission über die Anklagepunkte der Moskauprozesse gegen Leo Trotzki. Kopien wurden dir getrennt gesendet.“ Dieser Satz wurde rot unterstrichen.
Ralph beendet seinen Brief mit den Worten: „Bis jetzt waren wir von der Initiative und Energie unserer amerikanischen Genossen abhängig. Das bedeutete unter anderem untragbare Preise für unsere Publikationen, die einer weiten Verteilung im Weg standen. Wir hoffen, dass du unserem Versuch diese Abhängigkeit von einer externen Sektion der vierten Internationale zu beenden deinen Segen gibst.“ Den letzten Satz unterstrich Trotzki wieder mit roter Farbe. Es war etwas, worüber er mehr nachdenken musste und auch mehr Informationen benötigte, möglicherweise von Charles Sumner.
Im Trotzki Archiv findet sich noch ein weiterer Brief von Ralph Lee. Er wurde am 14. Dezember 1938 gesendet und beinhaltete die Erklärung der Generalversammlung der WIL, die am 27. November 1938 gehalten wurde. (bms Russ 13.1, 1111-1115)
In einer Debatte mit der Führung der amerikanischen SWP am 23. Juli 1938 tadelte Trotzki diese für ihre fehlende revolutionäre Opferbereitschaft und ihrem Unvermögen eine Druckerpresse zu einzurichten. Er erwähnte das Beispiel der WIL:
„Wir brauchen Druckereien, wenn wir sonst nichts haben. Die britischen Genossen, zum Beispiel, haben eine eigene Druckerei. Wenn wir eine solche Druckerei mit zwei oder drei engagierten Genossen hätten, könnten wir nicht nur den Socialist Appeal mindestens zwei Mal pro Woche publizieren, sondern auch noch weitere Broschüren, Flugblätter etc. Das Problem ist, dass die Parteiarbeit zu sehr auf kleinbürgerlichen Auffassungen basiert.“
„Wir müssen unsere Jugend viel mehr Opferbereitschaft beibringen. Wir haben schon so viele junge Bürokraten in unserer Bewegung.“ (übersetzt aus: Trotzki, Writings, 1937-38, p.394.)
Die Kritik muss Cannon getroffen haben. Sie waren ein Schlag gegen sein aufgeblasenes Ego – und sie kam direkt von Trotzki, auf den sich Cannons Autorität stützte. Sein Ansehen wurde untergraben, für Cannon war das ein unverzeihbares Vergehen. Das erklärt seine bittere und unablässige Feindschaft gegenüber der WIL, gegen die er fortan einen unerbittlichen Kampf führt und Methoden benutzte, die Trotzki zweifelsfrei verurteilt hätte.
Interessanterweise wurden andere ausführliche Kommentare Trotzkis wortwörtlich in den internen Bulletins der SWP veröffentlicht, jene die scharfe Kritik gegen die SWP beinhalteten wurden aber weggelassen.
Wie man sich nicht vereinigen sollte
Mit der nahenden Gefahr eines neuen Weltkriegs entschied Trotzki, die Vorbereitungen zur Gründung einer neuen Internationalen zu beschleunigen. Im August 1938, kurz vor der Gründungskonferenz der Vierten Internationalen, kam James P. Cannon von der US Socialist Workers’ Party nach London mit dem Ziel, die verschiedenen Gruppen von britischen Trotzkisten zu einer Organisation zu vereinigen.
Wegen ihrer besonderen Beziehung zu Trotzki dachten die Führer der SWP, sie hätten eine privilegierte Position in der internationalen trotzkistischen Bewegung. Dies galt insbesondere für Cannon, der wie selbstverständlich davon ausging, dass die britischen Trotzkisten in allen Fragen seinen Weisungen folgen würden.
Cannon versuchte seine Autorität zu nutzen, um auf die Genossen Druck für eine Vereinigung mit anderen Gruppen aufzubauen. Sie erwiderten ihm, sie seien für Einheit, aber nur auf einer klaren politischen Basis hinsichtlich Strategie und Taktik. Sollte Cannon eine prinzipienlose Vereinigung vorantreiben, würde er drei Gruppen zu zehn fusionieren. Dennoch lud er sie zur Vereinigungskonferenz ein, und sie nahmen die Einladung an, um ihre Position darzulegen.
Die Mitglieder der WIL waren verständlicherweise zurückhaltend. Nach ihrer schlechten Erfahrung mit der Militant-Gruppe waren sie unsicher, inwieweit eine sinnvolle Einheit überhaupt erreicht werden konnte. Aber sie nahmen pflichtbewusst an der Konferenz teil. Sie befürworteten die Vierte Internationale natürlich voll und ganz und schätzten Cannon sehr, doch als sie auf der Konferenz erschienen, waren sie tief schockiert von dem, was sich ihnen darbot.
Die ganze Geschichte kann in The History of Britisch Trotskyism nachgelesen werden:
„Im Vorfeld des Gründungskongress der Vierten Internationale in Paris kam James Cannon, der führende Kopf der amerikanischen Trotzkisten und Delegierter zum Weltkongress, aus den Vereinigten Staaten, um den Boden für eine vereinigte trotzkistische Organisation in Großbritannien zu legen. Er hatte die Vorstellung, dass er alle Uneinigkeiten mit einem Wisch beiseite fegen und die Bewegung in einem Streich vereinen könnte. Zu dieser Zeit existierten drei separate Gruppen in London und Umgebung, sowie eine in Schottland, die sich als trotzkistisch verstanden: die Militant-Gruppe, die Revolutionary Socialist League, die Revolutionary Socialist Party und wir selbst, die WIL. Die RSP war eine Abspaltung der Socialist Labour Party, einer größtenteils sektiererischen Organisation in Schottland mit Sektionen in Glasgow, Edinburgh und vereinzelten Genossen in Yorkshire, die sich dem Trotzkismus angenähert hatten.
Das war der Stand der Dinge als Cannon eintraf. Cannon war für uns ein Vorbild mit einer langen revolutionären Geschichte in der Bewegung. Er war der führende Genosse der SWP und stand in regelmäßigem Kontakt mit Trotzki in Mexiko. Die Genossen hatten eine hohe Meinung von ihm. Als wir Cannon trafen, sagte er uns, seine Aufgabe sei es, die verschiedenen britischen Gruppen vor dem Gründungskongress der Vierten Internationalen im September zu vereinen. Das wäre die Deadline und wir könnten nicht warten, bis für jeden und jede alles stimmig war. Wir sagten unsererseits, wir seien auch für Einheit, aber diese müsse auf dem Boden einer korrekten prinzipiellen Basis vollzogen werden. Angesichts der grundlegenden Differenzen zwischen den Gruppen musste man sich zu jener Zeit den unmittelbaren Problemen für die Ausrichtung der Arbeit stellen: entristisch oder nicht entristisch, unabhängige Arbeit oder Arbeit in der Labour Party. Wir sagten Cannon, dass wir uns vor der Fusionierung auf eine klare Linie einigen sollten. Eine vereinigte Organisation würde sich auf eine Strategie von entweder Entrismus oder unabhängiger Arbeit einigen müssen. Dazu kam natürlich das Recht der Minderheit, ihre Position komplett frei und offen darzulegen und die Mehrheit innerhalb des Rahmens der Organisation zu überzeugen.
Cannon sagte: ‚Ja, aber die RSP-Strömung und die James-Strömung würden diese Bedingung nie akzeptieren.’ Also entgegneten wir: ‚Wenn sie dazu nicht bereit sind, dann wird es aus unserer Sicht natürlich auch keine Vereinigung geben.‘“
Die schlimmsten Befürchtungen der WIL-Genossen wurden sofort bestätigt. Das ganze Verfahren auf der „Vereinigungs“-Konferenz war eine Farce. Als Ralph Lee sah, was passierte – Türen öffneten und schlossen sich, Leute gingen umher, warben für sich und betrieben Lobbying während diverse Teilnehmer in Hinterzimmerdeals und Kuhhandel verstrickt waren – verglich er es mit einer französischen Schlafzimmerkomödie. Die einzigen Leute, um die nicht geworben oder die nicht konsultiert wurden, waren die Mitglieder der WIL.
Schlussendich war das Problem die Unmöglichkeit, Gruppen mit grundlegend verschiedenen Strategien, Taktiken und Orientierungen zu vereinen. Die Genossen der WIL versuchten, diesen Punkt Cannon zu erklären, doch dieser zeigte sich nicht beeindruckt. Er verlangte Einheit und das war alles, was dazu zu sagen war. Schlussendlich weigerte sich die WIL, der vereinigten Organisation beizutreten, indem sie argumentierten, dass die Vereinigungsabmachung, welches jenen Trotzkisten, die den Entrismus ablehnten, erlaubte, weiterhin offene Arbeit zu betreiben, zum Scheitern verdammt war.
Cannons Antwort entsprach ganz seinem Charakter. Er sagte: „Wir zerdrücken Spalter wie Käfer.“ Lee antwortete ihm mit der gleichen Schärfe und sagte, dass Einheit auf einer solchen Basis unmöglich sei. Henry Sara, der Vorsitzende der Konferenz, sagte zu Lee „du kannst mit einem Gast nicht so reden“. Ted stand protestierend auf und erwiderte: „Auch wenn Genosse Trotzki anwesend wäre, hätten wir das Recht, jegliche Position vorzubringen. Das ist die Demokratie unserer Bewegung. Egal, wer anwesend ist.“
Lees Warnung bestätigte sich innerhalb einer Woche. Maitland, der für die RSP teilnahm, wurde von seiner eigenen Gruppe verstoßen und sie verweigerten sich der Einigung. Andere Spaltungen folgten bald darauf. Nach sechs Wochen lag die ganze Einigung bereits in Scherben. Cannon war nicht erfreut. Er war es gewohnt, dass alles nach seinem Willen ging. Er beschuldigte die WIL für seine Probleme. Die daraus resultierende Feindseligkeit gegen die „komische Truppe“ von Lee, Jock Haston und Ted Grant hegte, hielt jahrelang an. Dies erklärt das Mysterium des verschollenen Briefs.
Der Grund, aus dem Cannon die britischen Trotzkisten nicht ausstehen konnte, war, dass sie nicht bereit waren, seine Führung bedingungslos und ohne Kritik hinzunehmen. Er betrachtete sie immer als eine Belästigung. Es ist bezeichnend, dass er die „offizielle“ britische Sektion (die alte RSP) in seiner Kritik beschuldigte, sie seien zu „höflich“ und unzureichend „brutal“ gegenüber der WIL. Die Tatsache, dass er Bolschewismus mit Brutalität gleichsetzte, ist ein Anzeichen dafür, wie weit Cannon sich von den wirklichen Ideen von Lenin und Trotzki entfernt hatte.
Es stimmt, dass Unnachgiebigkeit ein wichtiges Element in der bolschewistischen Geisteshaltung war. Es war kein Zufall, dass in der Aufteilung in Bolschewiki und Menschewiki 1903, erstere die „Harten“, „Unnachgiebigen“ genannt wurden und die letzteren die „Weichen“. Doch Trotzki erklärte, dass Härte kein Monopol des Bolschewismus war. Unter den Menschewiki gab es ebenfalls viele unnachgiebige Genossen und Genossinnen, die sich der Sache hingaben und gewillt waren, für sie zu kämpfen und Opfer zu bringen. Gleichfalls gab es im bolschewistischen Lager nicht wenige Kompromissler, wie man in entscheidenden Momenten der Revolution sehen konnte.
Letztlich aber müssen Unnachgiebigkeit und Nachgiebigkeit in revolutionären Strömungen eine politische Grundlage haben. Die organisatorische Formlosigkeit des Menschewismus war nur eine Wiederspiegelung ihres politischen Opportunismus – ihre Bereitschaft, Kompromisse in prinzipiellen Fragen einzugehen, Übereinkünfte mit feindlichen Klassen und schließlich auch ihre Willigkeit, ins Lager der Bourgeoisie überzugehen.
Lenin selbst war immer hart und unversöhnlich (man könnte sogar sagen „brutal“) in Fragen der theoretischen und praktischen Prinzipien. Das war die wirkliche Grundlage für seinen Zentralismus. Aber das war nur die eine Seite der Gleichung. Die andere war seine äußerst flexible Herangehensweise in Fragen der Organisation und der Taktik. Und in seinem Verhalten gegenüber seinen Genossen, fern davon, irgendein Zeichen von „Brutalität“ zu zeigen, legte er immer große Rücksicht, Taktgefühl und Menschlichkeit an den Tag.
Für Lenin wie Trotzki war es undenkbar, je politische Dispute mit administrativen Methoden zu lösen versuchen. Mobbing, Drohungen, Beleidigungen und Verfälschungen waren ihnen vollkommen fremd. Sie behandelten ihre politischen Gegner mit Respekt und beantworteten deren Argumente Punkt für Punkt. Es genügt, sich die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale in Erinnerung zu rufen. Die Schule von Cannon war nicht jene des Bolschewismus, sondern des Sinowjewismus, welcher wiederum den Weg bereitete für den Stalinismus.
Die Gründungskonferenz
Auf der „Vereinigungs“konferenz wollte Cannon mit Ted und Jock Haston reden. Er bat sie, einen Delegierten zur Gründungskonferenz der Vierten Internationale zu schicken und den Status einer sympathisierenden Organisation zu beantragen. Sie stimmten zu, auch wenn sie möglicherweise nicht in der Lage wären, die finanziellen Mittel aufzubringen, um einen Genossen zur Gründungskonferenz zu schicken. Darauf antwortete Cannon: „Tut, was ihr könnt. Wenn ihr es nicht schafft, schreibt einen Brief.“
Sie diskutierten die Frage und verfassten einen Brief, in dem sie ihre Unterstützung für die Vierte Internationale zum Ausdruck brachten und um die Anerkennung als sympathisierende Organisation baten. Der französische Delegierte beantragte, dass die WIL als sympathisierende Organisation akzeptiert werden sollte. Das wäre mit ziemlicher Sicherheit angenommen worden, aber Cannon rächte sich auf kleinlichste und boshafteste Weise an den Genossen.
Der Brief der WIL wurde nicht vorgelesen. Stattdessen hielt Cannon eine Hetzrede gegen die WIL, weil sie sich angeblich aus rein persönlichen Gründen abgespalten hätten. Cannon lieferte eine bösartige und von Lügen durchzogene Hetzrede gegen die WIL, welche er dem „sektiererischen Nationalismus“ beschuldigte. Wie Cannon selbst sehr gut wusste, war das völlig falsch.
Abschließend befürwortete Cannon die Anerkennung der RSL als offizielle britische Sektion. Dieser Vorschlag wurde natürlich angenommen und da den Delegierten eine ganze Reihe von Lügen vorgetragen worden waren, wurde der Antrag der WIL auf Sympathisantenstatus abgelehnt. Als Ergebnis dieser Manöver wurde die WIL zu Unrecht verurteilt. „Alle nationalistischen Gruppierungen“, heißt es in der offiziellen Erklärung, „all jene, die die internationale Organisation, Kontrolle und Disziplin ablehnen, sind im Wesentlichen reaktionär.“
Als Cannon einen Bericht für Trotzki über die Gründungskonferenz der Vierten Internationale schrieb, gab er eine unehrliche und verzerrte Version seines Besuchs in Großbritannien und der Gründungskonferenz ab und bewertete die WIL wie folgt:
„Die Militant Gruppe hatte in den letzten sechs Monaten eine unglückliche Spaltung, angeführt von Lee, erlitten, die ohne prinzipielle Gründe für die Spaltung zur Gründung einer weiteren Gruppe (The Workers‘ International News) führte. Dies konnte nur zu Verwirrung und Demoralisierung führen, zumal beide Gruppen ausschließlich in der Labour Party arbeiten. Gleichzeitig hatte sich die Sektion in Liverpool aus opportunistischen Gründen aus der Militant Gruppe zurückgezogen. (…)
Auf der Londoner Konferenz eine Woche später hatte ich von Anfang an ihre Unterstützung [von der Edinburgh-Gruppe] für eine allgemeine Vereinigung. Dies übte zweifellos erheblichen Druck auf die [CLR] James-Gruppe aus.
Die für die Vereinigung als Grundlage akzeptierte politische Resolution sah vor, dass der Schwerpunkt auf die Arbeit in der Labour Party gelegt werden sollte, ohne die Mitgliedschaft in der Labour Party für diejenigen Genossen verbindlich zu machen die bisher nicht Mitglied waren. Das liefert der vereinigten Gruppe zumindest eine klare Orientierung. Das war das Maximum, was wir erreichen konnten. Wenn wir wenigstens eine korrekte Orientierung erreichen könnten, erschien es mir als das Wichtigste, alle Genossen zusammenzubringen und sie daran zu gewöhnen, als eine Organisation zu arbeiten, welche fest mit der Vierten Internationalen verbunden ist. Wir zogen stark gegen unverantwortliche Spaltungen ins Feld und wir machten deutlich, dass die internationale Konferenz die Möglichkeit einer Vielzahl von Gruppen abschaffen und nur eine Sektion in jedem Land anerkennen würde. (…)
Die Lee-Gruppe besteht aus etwa dreißig, überwiegend Jugendlichen, welche durch ihren persönlichen Antagonismus gegenüber der Führung der Militant Gruppe politisch tiefgreifend vergiftet wurden. Sie versuchten die Vereinigung zu verhindern, wurden aber auf der Vereinigungskonferenz gnadenlos geschlagen und ihre Reihen stark erschüttert. Ihre Haltung wurde von der internationalen Konferenz verurteilt.
Shachtman hatte während seines Besuchs in England auch eine Sitzung mit dieser Gruppe. Seine Meinung ist die gleiche wie meine, dass sie sich der internationalen Entscheidung fügen und der britische Sektion beitreten, oder eine Spaltung erleiden müssen. Es ist nur notwendig, dass die britische Sektion in Bezug auf diese Gruppe eine feste und entschlossene Haltung einnimmt und in keinem Fall ihre Legitimität anerkennt. Leider ist das leichter gesagt als getan. Die englischen Genossen sind leider Gentlemen. Sie sind nicht an unseren ‚brutalen‘ (d.h. bolschewistischen) Umgang mit Gruppen gewöhnt, welche mit Spaltungen spielen.“(James P. Cannon, Impressions of the Founding Conference, October 12, 1938, in Joseph Hansen, James P. Cannon – The Internationalist, July 1980, eigen Übersetzung.)
Cannons sinowjewistische Methoden
Lenin sagte, dass Bosheit die abscheulichste Rolle in der Politik spielt. Er bezog sich in seinem Testament auf Stalin – ein weiteres Dokument, das aus parteiischen Beweggründen gezielt unter Verschluss gehalten wurde. Aber Boshaftigkeit war auch ein Teil von Sinowjews Psychologie und Methode.
Es ist nicht allgemein bekannt, dass die bösartige Verleumdungskampagne gegen Trotzki nach Lenins Tod nicht von Stalin, sondern von Sinowjew ausging, dessen Motivation allein persönliches Prestige war. Er war überzeugt, dass er selbst der rechtmässige Nachfolger Lenins wäre, und er beneidete Trotzki und missgönnte ihm sein enormes Prestige innerhalb der bolschewistischen Partei und der Arbeiterklasse, das er durch seine entscheidende Rolle in der Oktoberrevolution und dem darauf folgenden Bürgerkrieg gewonnen hatte.
Später brachen Sinowjew und Kamenew mit Stalin und gingen zu Trotzkis Linker Opposition über. Sinowjew ließ seine prinzipienlosen Methoden jedoch nie hinter sich. Statt einem ehrlichen Kampf um politische Ideen agierte er mit organisatorischen Intrigen. Seine völlige Prinzipienlosigkeit wurde schlussendlich entlarvt, als er vor Stalin kapitulierte, nachdem die Linke Opposition 1927 ausgeschlossen worden war.
James Cannon spielte eine wichtige Rolle im Aufbau der Linken Opposition, nachdem er 1928 mit Stalin gebrochen hatte. Er war schon lange Teil der Arbeiterbewegung und ein talentierter Agitator wie auch Organisator. Von all den frühen Führungsfiguren der Vierten Internationalen war er wohl der Fähigste. Aber Cannon, genau wie Sinowjew und Stalin, war nie ein Theoretiker.
Er gab das nicht nur zu, sondern war auch noch stolz darauf. Er sagte: „Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, wann immer jemand mich einen Theoretiker nannte. Ich nannte mich einen Agitator.“ (Cannon, Writings, 1940-43, Seite 360, eigene Übersetzung). Cannon übersah das kleine Detail, dass Lenin und Trotzki, die Führung der Bolschewistischen Partei, zuallererst Theoretiker waren.
Cannon gehört zu einer langen Liste selbsternannter „proletarischer“ Revolutionäre, die ihre theoretische Ignoranz hinter einer falschen Fassade eines „Workerismus“ versteckt. Statt Theorie hausieren sie mit schlechter Agitation. Hinter ihrer aufgesetzten Verachtung für die Theorie und die Intellektuellen schlummert ein tiefsitzendes Gefühl der Minderwertigkeit, hinter dem sich der brennende Wunsch verbirgt, nicht nur ein Meister der Intrigen und Manöver zu sein, sondern auch der Theorie – etwas, das sich ihnen leider immer wieder als unerreichbar erweist. Es gibt in der revolutionären Bewegung kein gefährlicheres Tier als den Menschen, der kein Theoretiker ist, aber glaubt, einer sein zu müssen.
Cannon war ein Sinowjewist, und in seinen organisatorischen Methoden blieb er sein ganzes Leben lang ein Sinowjewist. Im Grunde gab er das in seiner Autobiographie zu: „Die Schriften der Linken Opposition unter Trotzki wurden unter Verschluss gehalten. Wir erhielten nur ab und zu ein paar Ausschnitte, und man konnte mich, genau wie die gesamte Führung der amerikanischen Partei damals, als Sinowjewist bezeichnen. Wir wurden von der Kampagne der Troika [gegen Trotzki] vereinnahmt.“
Und nochmals:
„Man kann mit Sicherheit sagen, dass ich zu der Zeit Sinowjewist war, in dem Sinne, wie es auch der ganze Rest der Führung war, in dem Sinne, dass wir die ganze Linie aus Moskau für bare Münze nahmen und uns nicht allzu kritisch mit ihr auseinandersetzten.“ (Cannon, Writing 1945-47, Seite 187, meine Hervorhebung, AW, eigene Übersetzung)
Sinowjewismus ist eine krude Karikatur des Bolschewismus, die eine Seite der Ideen Lenins überhöht (die Notwendigkeit einer starken, disziplinierten und zentralistischen revolutionären Organisation), während er die Wichtigkeit von Theorien und Ideen ignoriert oder herunterspielt. Sinowjewistische Tendenzen sind leider in vielen Gruppen präsent, die heute vorgeben unter dem Banner des Trotzkismus zu stehen. Diese Tendenzen spielten eine ausgesprochen schädliche Rolle in der Degeneration der Vierten Internationale und seiner letztendlichen kompletten Auflösung.
James Cannons sinowjewistische Methoden waren von Anfang an ersichtlich – ein Fakt, der Trotzki wohl bekannt war. Trotzki wies diese Methoden mehr als einmal scharf zurück. Cannons Verhalten hinsichtlich der britischen Trotzkisten war ein klassischen Beispiel dieser Methoden. Sein Ziel war es, die komplette Vorherrschaft zu erringen. Wer es wagte, ihm zu widersprechen, wurde wie ein Feind behandelt und aus der Bewegung vertrieben. Selbst die Sprache, die er benutzte, ist voll giftiger Bosheit. Das Folgende ist ein ausgewähltes Beispiel:
„All die Verbrechen und Fehler der bis aufs Mark verrotteten Haston-Fraktion waren direkt auf ihren Ursprung als eine prinzipienlose Clique aus dem Jahr 1938 zurückzuführen. Als ich im selben Jahr ein wenig später nach England kam, am Vorabend des Ersten Weltkongresses, denunzierte ich die Lee-Haston-Fraktion dafür, dass sie schon bei ihrer Geburt von Prinzipienlosigkeit befleckt war. Ich hatte während ihrer ganzen darauf folgenden Entwicklung niemals Vertrauen in sie, egal welche Thesen sie schrieben oder für welche sie gerade stimmten.“ (Cannon, Speeches to the Party, Seiten 296-297, 6. April 1953, eigene Übersetzung)
Über die Spaltung in Grossbritannien schrieb er:
„Die Spaltung in der englischen Bewegung [1938] war nicht auf politischer Grundlage zu erklären. Sie fügte der Bewegung unsagbaren Schaden zu und ließ sie in einer geschwächten Position zurück bis zum heutigen Tag, nach der Vereinigung, welche endlich aufgrund der Intervention und dem Druck der internationalen Bewegung erfolgte.“ (Cannon, Writings and Speeches 1945-47, Seite 61, eigene Übersetzung)
Das ist ganz offensichtlich eine Lüge. Cannon war sich der politischen Differenzen bewusst, die die WIL von den anderen Gruppen trennten, welche er zu einer vorzeitigen und prinzipienlosen Vereinigung drängte. Die Genossen der WIL warnten ihn, wie wir gesehen haben, dass eine solche „Einheit“ keine fünf Minuten dauern würde, und es erwies sich, dass sie recht hatten. Während des Zweiten Weltkrieges zog Cannon in einem ebenso prinzipienlosen Manöver willkürlich seine Anerkennung der „offiziellen“ Sektion (der RSL) zurück und erkannte die WILL an, weil diese im Krieg viel erfolgreicher gewachsen war.
Trotz allem verbreitete die SWP jahrelang die Legende, dass es „keine politischen Unterschiede“ zwischen der RSL und der WIL gebe. In den Anmerkungen zu Trotzkis Writings, 1938-39, Seite 405, Anmerkung 238, lesen wir Folgendes:
„Die Lee Group entstand 1938 als Ergebnis rein persönlicher Konflikte und hatte kein erkennbares politisches Programm. Millie Lee war eine Südafrikanerin und ehemaliges Mitglied der CP. ”
Es ist schwer zu sagen, was an dieser Anmerkung schlimmer ist: politische Verzerrung oder schiere Ignoranz. Der Autor dieser bedauerlichen Notiz weiß nicht einmal, dass der Anführer der WIL nicht Millie Lee war, sondern ihr Mann, Ralph Lee, obwohl Millie zweifellos eine sehr aktive Rolle in der Gruppe spielte.
Eine Notiz in Cannon’s Writings and Speeches lautet wie folgt: „Cannon ging 1938, vor der Gründungskonferenz der Vierten Internationale, als Vertreter des Internationalen Sekretariats nach England, mit dem Ziel, eine Fusion der vier damals bestehenden trotzkistischen Gruppen voranzubringen. Es gelang ihm, drei davon zur Revolutionary Socialist League zusammenzuführen (das waren die Revolutionary Socialist Party; die Marxist Group unter der Leitung von C.L.R. James; und die Militant Gruppe). Die RSL war auf der Gründungskonferenz des FI vertreten und wurde als britische Sektion anerkannt. Die Workers International League, geführt von Ralph Lee und Jock Haston, weigerte sich, der vereinigten Bewegung beizutreten und boykottierte den Gründungskongress der FI. Unter dem Druck der weltweiten Bewegung fusionierten die RSL und WIL 1944 zur Revolutionary Communist Party.“ (Eigene Hervorhebung, AW)
Auch das ist eine Lüge. Wie wir gesehen haben, hat die WIL den Gründungskongress der Vierten Internationale nicht boykottiert. Obwohl die WIL formell außerhalb der Vierten Internationale stand, sahen sie sich selbst als Teil der internationalen trotzkistischen Bewegung. Sie waren in vollkommener Übereinstimmung mit dem Programm und den Prinzipien der Vierten Internationale, wie sie von Trotzki dargelegt wurden.
Trotzkis Haltung gegenüber dem WIL
Trotz Cannons systematischer Kampagne der Verfälschung ist klar, dass Trotzki eine ganz andere Haltung einnahm. Er war bereit, geduldig zu sein und abzuwarten, welche Gruppe in Großbritannien wirklich die Zukunft der Vierten Internationale repräsentieren würde. Zu seinen Lebzeiten behielt er sich das Urteil vor. Aber die wenigen Male, die er auf die WIL hinwies, vermied er sorgsam jede Kritik.
Wäre Trotzki überzeugt gewesen, dass sie tatsächlich „sektiererische Nationalisten“ seien, hätte er sie zweifellos in härtester Sprache angegriffen. Anfang 1939 gab CLR James Trotzki einen Bericht über die britischen trotzkistischen Gruppen. Nachdem er die Probleme in der offiziellen Gruppe beschrieben hatte, kommentierte er anschließend die Gruppe, die er „Lees Gruppe in der Labour Party“ nannte (d.h. die WIL):
„Es gibt auch eine andere Gruppe – Lees Gruppe in der Labour Party – die sich weigerte, irgendetwas mit der Fusion zu tun zu haben, weil sie ihnen zufolge zwangsläufig scheitern würde. Die Lee-Gruppe ist sehr aktiv.“ Siehe Trotzkis Writings, 1938-39, S. 250.
Trotzki hörte aufmerksam zu, machte aber keinen Kommentar. Er verurteilte die Lee-Gruppe nicht, sondern nahm eine abwartende Haltung ein. Schließlich hatte er im Vorjahr ihre Bemühungen um die Veröffentlichung seiner Broschüre über Spanien und die Anschaffung einer Druckmaschine mit Begeisterung gewürdigt. In einem Interview mit Sam Bornstein wies Ted Grant darauf hin:
„Das Wichtigste, was man im Kopf behalten soll, ist, dass Trotzki die WIL in all seinen Schriften nie angegriffen hat. Er wartete darauf, zu sehen, was passieren würde. Er wusste, [wie] Cannon und diese Leute sich benahmen. Er hatte Erfahrung mit ihnen, und deshalb hat Trotzki uns nie angegriffen. (….) Er schrieb lobend über uns, lobte unsere Anschaffung einer Druckmaschine, lobte die Einführung, die Lee und ich zur Broschüre Lessons of Spain geschrieben haben.”
Ted erinnerte sich an ihre Freude, als sie einen Brief von Trotzki lasen – ebenjenen Brief, den wir jetzt gefunden haben – und gratulierte ihnen zur Veröffentlichung dieser Broschüre, in der er betonte, wie wichtig es für eine revolutionäre Organisation sei, eine eigene Druckpresse zu haben, die unabhängig von kapitalistischen Einrichtungen ist. Daraus wird ersichtlich, dass Trotzki die Arbeit des WIL mit Interesse verfolgte und regelmäßig Material von ihnen erhielt.
Obwohl sie formell außerhalb der Internationale standen, sahen sich Ted und die anderen immer noch als Teil davon. „Wir sahen uns als das verleugnete uneheliche Kind der Internationale“, erklärte er. Sie waren zuversichtlich, dass sie früher oder später als die rechtmäßige britische Sektion anerkannt werden würden. Die Geschichte gab ihnen Recht. Wie wir gesehen haben, begann die „vereinigte“ Gruppe zu zerfallen, sobald die Konferenz vorüber war.
In der Zwischenzeit machte die WIL weiter stetig Fortschritte und gewann Arbeiter, Mitglieder der ILP, der Kommunistischen Partei und der Labour Party und sogar der RSL, die auf einen unbedeutenden Haufen reduziert wurde. Wie wir gesehen haben, sah sich Cannon am Ende gezwungen, die todgeweihte RSL aufzugeben und die WIL als offizielle britische Sektion der Vierten Internationale anzuerkennen. Jedoch auch danach gab er seine destruktiven Intrigen und Manöver gegen die Führung der britischen Sektion nicht auf, was schließlich zu einer neuen Spaltung und zur Zerstörung der Sektion nach dem Zweiten Weltkrieg führte.
Wir sollten hinzufügen, dass Cannon nicht der einzige war, der für den Schiffbruch der Vierten verantwortlich war. Er war nicht der schlimmste der sogenannten Führer, die nach dem Tod Trotzkis in den Vordergrund traten. Die anderen waren nicht besser, die meisten von ihnen waren viel schlimmer. Pablo, Mandel, Pierre Frank, Livio Maitan teilten alle Schwächen Cannons und keine seiner Tugenden. Nicht einer von ihnen waren der Aufgabe gewachsen, die die Geschichte ihnen stellte. Gemeinsam reduzierten sie die Internationale zu Staub.
Fälschung ist ein Verbrechen
Briefe können bei der Post verloren gehen, zerstört, verlegt oder sogar in einer Kiste auf einem Dachboden vergessen werden. Aber in diesem Fall war das Verschwinden von Trotzkis Brief kein Missgeschick, sondern ein bewusster Akt politischer Fälschung. Dies ist natürlich ein schwerwiegender Vorwurf. Leo Trotzki führte einen unerbittlichen Kampf gegen historische Verfälschung, die eine stalinistische und sinowjewistische Methode und der bolschewistischen Tradition fremd ist. Sie ist, in einem Wort, ein Verbrechen.
Welche Beweise haben wir für diese Behauptung? In der Ermittlung jedes Verbrechens ist es notwendig, ein Motiv und eine Gelegenheit ausfindig zu machen. Cannons Motivation in dieser Angelegenheit lässt sich sehr einfach darstellen. Er wurde in erster Linie durch seine Besessenheit mit seinem persönlichen Prestige getrieben. Er sah sich selbst als den Hauptführenden der weltweiten trotzkistischen Bewegung über dem bloß Trotzki selbst steht. Er war bekannt für seine Arroganz und Intoleranz gegenüber jeglicher Opposition oder Kritik. Dies sind schwerwiegende Fehler in einer Person, die so tut als ob sie ein revolutionärer Führer wäre.
Während Trotzki Cannons unbestrittene Talente anerkannte, insbesondere im organisatorischen Bereich, billigte er Cannons organisatorische Methoden nie. Zu der Zeit der Spaltung in der SWP wegen der Frage nach der Haltung zur Sowjetunion, als Shachtman und andere sich dem Druck des Kleinbürgertums beugte und die falsche Theorie des Staatskapitalismus akzeptierten, trat Cannon in Verteidigung von Trotzkis Ideen auf, was zweifelsfrei richtig war. Aber Trotzki warnte Cannon davor, administrative Maßnahmen gegen die Minderheit zu ergreifen oder zu versuchen, Shachtman aus der Organisation zu drängen. Trotzdem war es genau das, was er tat.
Cannon hatte jede Menge Gelegenheiten dazu, einen Brief oder jegliches andere Dokument oder Artikel zurückzuhalten, die er von seinem Standpunkt aus als unangenehm empfand. Der Umstand, dass der fehlende Brief nicht in Trotzkis Archiven in der Harvard Universität gefunden werden kann, ist ein weiterer Hinweis dafür, wie weit Cannon und Hansen bereit waren, bei der Fälschung der historischen Aufzeichnung zu gehen. Es gibt jeden Grund Sam Bornstein und Al Richardson zu glauben, wenn sie klagen, dass viele Dokumente von Trotzki aus genau diesem Grund fehlen.
Die Tatsache, dass Bornstein und Richardson sicherlich Ted Grant und WIL gegenüber nicht wohlwollend gestimmt waren, bedeutet, dass sie als zuverlässige Zeugen dafür zitiert werden können, dass Cannon und seine Unterstützer den Brief, in dem Trotzki die Arbeit der WIL lobte, aus fraktionellen Gründen bewusst zurückgehalten haben. In ihrem Buch War and the International. A History of the Trotskyist Movement in Britain 1937-1949, lesen wir:
„Besonders krass sind die Lücken in den Schriften L.D. Trotzkis, die zeigen, dass sogar die umfassenderen Sammlungen seiner Werke über Großbritannien nur von sich behaupten können, eine karge Auswahl zu sein. Zumindest in einem Fall sind wir wahrscheinlich berechtigt in der Behauptung, dass ein Dokument im Interesse fraktioneller Überlegungen zurückgehalten wurde.” (War and the International S. xi, meine Hervorhebung, AW, eigene Übersetzung)
Auf welchen Brief beziehen sie sich? Sie erklären:
„Unter den Briefen, die Trotzki Sumner zu dieser Zeit schrieb war einer, der der WIL für das Vorwort in ihrer Herausgabe seines The Lessons of Spain: The Last Warning beglückwünschte. Aus offensichtlichen fraktionellen Gründen muss es erst noch in der ‚Pionier’ Edition der gesammelten Werke Trotzkis aus seinem letzten Exil veröffentlicht werden. Vgl. J. Haston, Brief an Pablo (M. Raptis), 19. Juli 1947, im Internal Bulletin der RCP, S. 1.” (Sam Bornstein and Al Richardson, War and the International. A History of the Trotskyist Movement in Britain, 1937-1949, p.46, note 5, meine Hervorhebung, AW, eigene Übersetzung)
Die Fäden der Geschichte werden wieder verknüpft
Ich kann verstehen, dass es für viele Menschen außerhalb unserer Bewegung seltsam anmuten mag, dass das Erscheinen eines kurzen Briefes, der nur aus einigen wenigen Absätzen besteht, eine solche Aufregung hervorrufen sollte. Aber die Veröffentlichung eines jeden Briefes geschrieben von Trotzki ist immer ein Grund zum Feiern für diejenigen von uns, die sich weiterhin fest an die Ideen halten, für die er stand und für die er sein ganzes Leben hingegeben hat.
Aber für die Mitglieder der International Marxist Tendency bedeutet dieser Brief weit mehr als das. Er ist ein lebendiger Beweis dafür, was Ted Grant, der Gründer unserer Bewegung, als den Roten Raden bezeichnete, der uns mit den wahren Ursprüngen des revolutionären internationalen Marxismus verbindet. Er ist, wie ich auf dem Weltkongress der IMT 2018 sagte, unsere Geburtsurkunde. Er verbindet uns direkt mit Leo Trotzki und ist eine eindrucksvolle Bestätigung dafür, dass die Ideen und Methoden, die wir verteidigen, die Zustimmung dieser großartigen Persönlichkeit fanden.
Ich war vor kurzem in New York, wo ich eine sehr erfolgreiche Schulung der nordöstlichen Gruppen der US-Sektion der IMT besuchte. Die Nachricht von den Briefen war den US-Genossen erst kurz davor übermittelt worden, bei denen sie einen tiefen Eindruck hinterließ. Ein langjähriger Genosse der Sektion sagte zu mir: „Wenn Religion etwas abgewinnen könnte, würde ich es als ein kleines Wunder betrachten, dass dieser Brief erhalten geblieben ist.“
Diese Worte enthalten keine Spur der Übertreibung. Man kann sich Dutzende von Gründen vorstellen, warum dieser Brief nie das Licht der Welt erblickt haben könnte. Er ist von Coyoacan in Mexiko nach London, von London nach Istanbul, von der türkischen Hauptstadt nach New York gereist, wo er viele Jahre lag vergessen in einer Kiste auf einem Dachboden lag, und schließlich, nach einer so unglaublichen Odyssee, fand er mit einer Verzögerung von genau 80 Jahren den Weg zum richtigen Ziel. In der Geschichte der weltweiten Postdienste muss dies zu den außergewöhnlichsten Sendungen gehören, die je verzeichnet wurden.
Ted Grant sagte mir einmal, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg einen Genossen in unseren Reihen gab, der Mitglied des Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Internationalen war. Leider habe ich diesen Genossen nie getroffen. Er starb lange bevor ich mich 1960 dieser Strömung anschloss. Aber wir sind sehr stolz, dass wir unsere politischen Wurzeln zurückverfolgen können, über Trotzki im Übergangsprogramm, die Internationale Linke Opposition, Lenin und die bolschewistische Partei, bis hin zu den Ideen von Marx und Engels, der Ersten Internationale und dem Kommunistischen Manifest, das bis heute das wichtigste und zeitgemäße Schriftstück der Welt bleibt.
Für diejenigen von uns, die das Privileg und die Ehre hatten, für den Aufbau einer genuin trotzkistischen Internationale zu arbeiten und zu kämpfen, war die Entdeckung des fehlenden Briefes eine sehr bewegende und inspirierende Erfahrung. Es war, als würde man das letzte Stück des riesigen Puzzles finden, wo dann endlich alles seinen Platz findet. Aber dieser Moment des Triumphes war gleichzeitig ein Moment, der von einer tragischen Erkenntnis begleitet war.
Ted Grant, Zeit seines Lebens, bestand stets auf die Notwendigkeit zu verstehen, wer wir sind und woher wir kommen. Er sprach oft über die Geschichte der Strömung (obwohl es ihm aus Zeitgründen nie gelungen war, weiter als 1949 zu gehen). Und wenn Ted zu diesem Thema sprach, versäumte er es kein einziges Mal, diesen Brief zu erwähnen. Wenn Ted nur lange genug gelebt hätte, um ihn sehen zu können. Er wäre überglücklich gewesen. Leider sollte es nicht sein.
Die Räder der Geschichte drehen sich so langsam, während die biologische Uhr, die das Leben von Menschen bestimmt, unerbittlich tickt. Wir werden geboren, wir leben und wir sterben. Aber die Sache der Arbeiterklasse ist unsterblich, und sie ist grösser als das Leben eines jeden Einzelnen. Der Kampf geht weiter und wird bis zu dem Moment andauern, in dem wir schließlich gewinnen. Dieser Sache widmen wir uns im vollen und absoluten Vertrauen, dass sie triumphieren wird.
Heute, 80 Jahre nach ihrer Gründung, existiert die Vierte Internationale nicht mehr als Organisation. Die unzähligen streitenden Sekten, die sich auf ihren Namen berufen, tun nichts anderes, als den Namen des Trotzkismus in den Augen der fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen zu diskreditieren, die den Weg zur sozialistischen Revolution suchen. Trotzki übergab uns damals ein sauberes Banner. Die kleinbürgerlichen Sinowjewisten haben es beschmutzt und diskreditiert. Wir haben ihnen entschlossen den Rücken gekehrt.
Aber die Internationale existiert auch heute noch. Ihre Flamme brennt heller denn je, und sie bleibt heute notwendiger denn je. Sie existiert in den Ideen, dem Programm und den Prinzipien, die von Leo Trotzki festgelegt wurden, die im Wesentlichen dieselben Ideen sind, die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest verkündet wurden, dieselben Ideen wie die von Lenin und der bolschewistischen Partei, dieselben Ideen, welche die russischen Arbeiter 1917 zum Sieg führten, dieselben Ideen, die in den Dokumenten der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale verankert waren.
Heute werden diese Ideen von der International Marxist Tendency verteidigt, die stolz darauf ist, ihre Wurzeln direkt zu den Anfängen Trotzkis zurückverfolgen zu können. Das gibt uns das Recht, der ganzen Welt zu sagen: Das ist unser Banner, unser Erbe und unsere Tradition. Und das ist es, was uns mit dem Vertrauen erfüllt, das wir brauchen, um den Kampf bis zum Ende zu führen.
London, 17. Dezember 2018