Wo steht der Kampf um Regime-Change in Israel?

Die Todesopfer des Krieges in Gaza haben die unerhörte Anzahl von 57.000 überschritten (de.statista.com). Dazu kommen die Opfer, die durch Hunger, Wassermangel und fehlende Grundversorgung verursacht werden. Dem nicht genug hat Netanjahu seine Militärmacht gleichzeitig im Libanon, Syrien, Jemen und Iran eingesetzt. Hybris ohne Ende – bisher erfolgreich. Temporäre militärische Erfolge werden nur noch blutigere Konflikte und Kriege vorbereiten. Wie ist es möglich, dass ein Mann eine solch unbegrenzte Macht haben kann? Von Sonia Previato.
Israel ist der wesentliche Verbündete und Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten. Dafür muss eine sehr vielschichtige und komplizierte Gesellschaft zusammengehalten werden. Die inneren Widersprüche Israels sind letztlich unlösbar und unüberwindlich. Eigentlich sitzt Netanjahu auf einem Vulkan, dessen Explosion sich nur verzögert, weil die Opposition komplett unfähig ist, eine Alternative aufzubauen.
Der Traum des Begründers des Zionismus „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ hat sich als Alptraum und Falle nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Juden selbst erwiesen. Es hat dieses Land ohne Volk nie gegeben. 1948 wurde es erst durch das Vertreiben von 650.000 Palästinensern geschaffen. Inzwischen ist ihre Anzahl auf über 5 Millionen angewachsen. Jetzt sind sie das Volk ohne Land, das um seine Existenz kämpft. Mit dieser unlösbaren Situation konfrontiert, sind die Regierungen aller Welt schon 1948 zur naiven Idee einer Zweistaatenlösung gekommen. Aber erst als die Palästinenser durch ihren revolutionären Kampf der 1980er Intifada die israelische Jugend und Arbeiterklasse ansteckte, wurde die Zweistaatenlösung in Umsetzung gebracht, festgehalten im Oslo-Abkommen (1993-95). Obwohl in der palästinensischen Befreiungs- und Solidaritäts-Bewegung riesige Euphorie herrschte, haben die Marxisten schon damals davor gewarnt, dass dies keine Lösung war.
Die Palästinenser wurden in unterschiedlichen Enklaven eingesperrt und durch die neue „Palästinensische Autonomiebehörde“ (PA) verwaltet und kontrolliert. Dies zeigt: Auf kapitalistischer Basis bedeutet die Zweistaatenlösung keine Befreiung für Palästina. Die Palästinenser können sich nicht frei bewegen, müssen durch viele Check-Points, an denen sie von palästinensischen und israelischen Streitkräften kontrolliert werden. 2024 mussten noch fast 150.000 Palästinenser jeden Tag stundenlange Wartezeiten für kurze Arbeitswege nach Israel aufwenden. Dazu steht die Wasserversorgung unter strenger Kontrolle Israels.
Die palästinensischen Massen wurden ausgehungert, während eine kleine Schicht der Palästinenser, die internationale Hilfe aber auch israelische Arbeitsaufträge verwaltet hat, davon profitiert und sich bereichert hat. Der Unmut unter den Palästinensern ist gewachsen. Die linken Reformisten rund um Fatah (der Mehrheitsfraktion der PLO), die die Oslo-Abkommen unterschrieben haben und zur PA wurden, verloren gesellschaftliche Unterstützung. In Ermangelung einer revolutionären Alternative haben erstmals in der Geschichte der palästinensischen Befreiungsbewegung die Islamisten der Hamas breite Unterstützung bekommen und die Wahl 2006 gewonnen. Die Verzweiflung ob des Verrats der Führung der Befreiungsbewegung hat viele jugendliche Palästinenser in die Sackgasse der Selbstmordangriffe gegen die jüdische Bevölkerung geleitet, was wiederum die Kluft zwischen Arabern und Juden vergrößert hat.
Das Scheitern der Oslo-Abkommen hatte auch in Israel schwere Folgen. Die sozialdemokratische israelische Arbeitspartei (Avoda), die die dominante politische Kraft des Landes seit seiner Gründung war, hat mit der Etablierung der Autonomiebehörde eine neue Ära von Frieden, Aufschwung und sozialer Stabilisierung versprochen. Die israelische Bevölkerung hat jedoch das genaue Gegenteil erfahren: wachsender Unmut der Palästinenser, eine Zuspitzung der nationalen Frage und ein Anstieg terroristischer Attacken. Schon von 1996 bis 1999 haben die Konservativen der Likud unter Netanjahu die Oberhand gewonnen, indem sie das Scheitern der Oslo-Abkommen bloßgestellt haben und das Wachstum der Islamisten nutzten, um eine antizionistische Achse des Bösen (Iran-Hamas-Hisbollah) darzustellen und den Hass gegen die Araber zu schüren.
Im Laufe der Jahrzehnte haben unter der Behauptung, die Sicherheit Israels zu gewährleisten, Regierungen aller Farben immer mehr Siedlungen in Westjordanland und Ostjerusalem genehmigt. Seit dem Oslo-Abkommen ist die Anzahl der Siedler von 250.000 auf fast 670.000 angewachsen, obwohl dies laut Völkerrecht illegal ist. Den Palästinensern wurde zusätzliches Land gestohlen und ihre Bewegungsfreiheit immer mehr eingeschränkt. Ihr Kampf gegen die Besatzung kann kein Ende haben.
Die Avoda, die sich die Zweistaatenlösung verschrieben hat und das Oslo-Abkommen als größte historische Wende seit 1948 dargestellt hat, hat jede Autorität in der israelischen Bevölkerung verloren, genauso wie ihr Gegenüber Fatah unter den Palästinensern. Durch Spaltungen und Fusionierungen ist die Avoda von 44 Sitzen im Parlament (1992) auf jetzt 4 mit dem neuen Namen „Demokraten“ geschrumpft. Der israelische Kapitalismus hat so seine historische politische Tragsäule verloren. Ihre Politik der Unterdrückung der Palästinenser bei gleichzeitiger Stabilisierung durch die Schaffung eines „palästinensischen Staats“ hat sie fast ihre Existenz gekostet. Alle Befürworter der Zweistaatlösung haben an Glaubwürdigkeit verloren und damit Raum für die Rechtextremisten geschaffen, die behaupten, dass die einzige Lösung die komplette Vertreibung und Eliminierung der palästinensischen Bevölkerung sei.
Der Zionismus ist eine Ideologie, die die Ausbeutung und Unterdrückung der arabischen und der jüdischen Arbeiterklasse vertuscht. Trotzdem bleibt Israel eine kapitalistische Klassengesellschaft, in der diese Unterdrückung die materielle Basis für einen gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistischen Unterdrücker ständig neu erzeugt.
Und dies zeigte sich in der Geschichte Israel-Palästina oft: Während der 1. Intifada, als die Palästinenser mit bloßen Händen und Steinen gegen die bestausgerüstete Armee gekämpft haben, hat dies die israelische Gesellschaft tief erschüttert. Als 2011 eine vom arabischen Frühling inspirierte Bewegung gegen die israelische Regierung ausbrach, die hunderttausende Menschen für zwei Monate auf die Straße gegen Teuerung und für soziale Gerechtigkeit gebracht hat, haben Juden und Araber gemeinsam gekämpft. Die arabische Linke Israels hat daraufhin einen großen parlamentarischen Erfolg erlebt (15 Sitze für die „Vereinte Liste“, die von der Linken dominiert war, in der Knesset 2020).
Diese Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfs aller Unterdrückten zur Abschaffung des Kapitalismus wurde aber nicht wahrgenommen. Stattdessen verfolgte sie die Politik des kleineren Übels. Um Netanjahu zu verhindern, hat die Linke die „linkeren“ und „liberaleren“ Zionisten unterstützt. Das hat zu ihrer Zersplitterung geführt und in Folge einen weiteren Rechtruck der Regierung ermöglicht. Heute sitzen in der Netanjahu-Regierung Kräfte wie Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich selbst Faschist nennt oder der Minister für die nationale Sicherheit Ben-Gvir, der von einem israelischen Gericht wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde.
Nicht wenige Juden schämen sich, eine solche Regierung zu haben. Es ist kein Zufall, dass die Justizreform Netanjahus, die die Justiz unter die Kontrolle der Regierung bringt, 2023 eine monatelange Massenbewegung mit über 500.000 Demonstranten ausgelöst hat. Diese Bewegung hat die tiefe Spaltung der Gesellschaft und des Staatsapparates selbst gezeigt. Der ehemalige stellvertretende Generalstabschef der Israelischen Armee, Yair Golan, rief die Demonstranten zum zivilen Ungehorsam auf. Gewerkschaft und Unternehmerorganisation haben gemeinsam einen Streik organisiert, der das Land komplett gelähmt hat.
Die Bürgerlichen haben diesen Kampf gegen die Regierung mit ihrem Slogan „für Demokratie“ dominiert und zur palästinensischen Frage geschwiegen, weil sie von deren Ausbeutung profitieren. Aber die Hunderttausenden auf den Straßen zeigen den großen Unmut, der in der israelischen Gesellschaft herrscht. Und genau in diesen Widersprüchen kann eine revolutionäre Politik ansetzen und den israelischen Burgfrieden entlang Klassenlinien spalten. Netanjahu und seine Rechtsextremisten sind unfähig, demokratische Rechte, Sicherheit und Wohlstand für die israelische Gesellschaft zu garantieren. Diese Wahrheit wird immer offensichtlicher.
Die Brutalität des Genozids in Gaza und die Verbreitung der weltweiten Solidaritätsbewegung findet langsam offene Ohren in kleinen, aber signifikanten Teilen der jüdischen Bevölkerung Israels.
Im November 2023 fand eine erste Demonstration gegen den Krieg in Gaza in Tel Aviv statt. Einige dutzend Menschen (80% davon Juden) haben sich getraut, zur Demo zu gehen, trotz der Bedrohungen der Polizei, die die Palästina-Flagge und Slogans wie „Nein zu Apartheid“ verboten hat. Der Minister für nationale Sicherheit Ben-Gvir unterstützt und finanziert eine Menge an rechten Milzen, die nicht nur Palästinenser in den besetzten Gebieten, sondern auch Gegner der Regierung jeder Herkunft einschüchtern und töten. Trotzdem war die Demo Ende Mai 2025 in Haifa viel größer. Laut Haaretz waren es 2000 Menschen, die der Einschüchterung der Polizei getrotzt haben – viele davon Araber, aber auch Juden, die mit den Symbolen Palästinas durch die Straßen der Stadt marschiert sind und offen gegen den Völkermord protestiert haben.
Ayman Odeh von der Chadasch-Partei (eine Fusion der kommunistischen Partei mit anderen linken Organisationen) hat den jüdischen Protestierenden, die noch wöchentlich in Tel Aviv gegen die Justizreform auf die Straße gehen und oft inhaftiert werden, dabei gratuliert und ihnen gesagt: „Aber ihr müsst das Kernproblem erkennen. Die Justizreform ist das Ergebnis der Besatzung. Es gibt keine Demokratie mit Besatzung.“ Einfacher und klarer kann man es nicht sagen. Für Aussagen wie dieser wird er damit „belohnt“, dass ein Komitee aus Regierungs- und Oppositionsparlamentariern empfiehlt, ihn aus dem Parlament zu schmeißen.
Trotz der schrecklichen Umfragen, die sagen, dass 80% der jüdischen Bevölkerung das Vertreiben aller Araber unterstützt, ist das der Weg vorwärts: Die Kluft zwischen den jüdischen Herrschenden und den Arbeitern ausnutzen, um die Kernfrage zu stellen und einen gemeinsamen Kampf gegen den Zionismus zu profilieren. Der Kampf gegen Zionismus kann nicht vom Kampf gegen Kapitalismus getrennt werden.
Der Zionismus ist von einer Ideologie eines kleinen Teils des Judentums mit unterschiedlichen Schattierungen zu einem wesentlichen Instrument des Kapitalismus zur Unterdrückung der Völker des ganzen Nahen Ostens geworden. Die Unterstützung des Westens hat Israel zu einem der reichsten Länder der Welt gemacht, und die zionistische Ideologie wird genutzt, um die Klassenunterschiede zu verschleiern. Aber auch in Israel wachsen Armut und Ungleichheit. Laut dem Bericht der israelischen Hilfsorganisation Latet leben 2.75 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, das sind 28,7 % der Bevölkerung, 2014 waren es noch 20,7 %. 2014 waren schon 13,1% aller Arbeiterfamilien in dieser Lage, besonders betroffen sind arabische und ultraorthodoxe Familien, zunehmend aber auch die Mittelschichten der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass die Emigration aus dem Land zunimmt, der aktuelle Krieg hat die Lage verschärft.
Das ist der Brennstoff, der den Unmut der israelischen Arbeiterklasse gegen die Regierung anfeuert. Um Odeh zu ergänzen: es gibt keine Demokratie mit Besatzung – aber es gibt auch weder Demokratie noch Befreiung im Kapitalismus.
Alle Parteien und politische Kräfte, die die Zweistaatenlösung unterstützt haben, sind politisch bankrott. Aber auch Israel an sich steckt in einer sozialen und institutionellen Krise. Damit die Befreiungsbewegung davon profitieren kann, reicht die Politik des Israel-Boykotts nicht. Auch die Idee eines demokratischen palästinensischen Staates mit gleichen Rechten für alle Völker ist im Kapitalismus eine Utopie.
Das Leiden der Palästinenser muss enden und dafür müssen wir jede Bewegung in der israelischen Gesellschaft unterstützen, die den gemeinsamen Kampf der Juden und Araber auf Klassenbasis fördert – obwohl es aktuell so utopisch erscheint. Aber nach dem Scheitern der Zweistaatenlösung bleibt nichts übrig, als eine soziale Revolution, die die Basis des Systems infrage stellt: Wer kontrolliert die materiellen und finanziellen Ressourcen in Israel und in der ganzen Region? Eine solche Bewegung, die nicht nur die Regierung(en) stürzt, sondern die zentrale Frage der Macht stellt, ist in der ganzen Region angelegt, wie es schon mit dem arabischen Frühling der Fall war. Der einzige Weg vorwärts ist der Sturz des Kapitalismus und die Bildung einer Sozialistischen Föderation des Nahen Ostens. Nur ein solcher Ausgang könnte eine Zukunft ermöglichen, in der Besatzung, Unterdrückung und Ausbeutung beendet sind und Israelis und Palästinenser friedlich nebeneinander leben können.
(Funke Nr. 235/09.07.2025)