Interview mit Serge Goulart. Er ist Koordinator der besetzten Kunststofffabrik CIPLA in Joinville, Bundesstaat Santa Catarina, Sprecher des Netzwerks besetzter Betriebe in Brasilien und Vorstandsmitglied der Arbeiterpartei PT.
F.: 2002 wurde Luis Inácio Lula da Silva als Kandidat der Arbeiterpartei PT zum Staatspräsidenten Brasiliens gewählt. Was hat sich in den letzten vier Jahren im Interesse der Arbeiter verändert?
Als Ergebnis einer Massenbewegung wählten damals 53 Millionen Lula, um eine Landreform durchzusetzen, Arbeit zu schaffen und den Bildungs- und Gesundheitsbereich im Interesse der Mehrheit voranzubringen. Lula setzte jedoch die Politik der Vorgängerregierung fort. Dies löste großen Unmut aus. Zwar konnten durch Druck von unten weitere Projekte vorerst gestoppt werden – etwa geplante Angriffe auf Jahresurlaub, arbeitsfreies Wochenende, 13. Monatsgehalt und Mutterschaftsurlaub. Lula hat die Privatisierungen öffentlicher Betriebe vorangetrieben. Sozialleistungen für die Ärmsten wie etwa das Schulgeld wurden gekürzt, so dass die Betroffenen nun auf Almosen durch Kirchen und karitative Einrichtungen angewiesen sind.
F.: Lula hat nun im ersten Wahlgang a, 1. Oktober 2006 die absolute Mehrheit knapp verfehlt, gilt aber für den zweiten Wahlgang als der Favorit.
Lula wird vermutlich wiedergewählt werden, weil der wichtigste konservative Gegenkandidat mit der verhassten Vorgängerregierung in Verbindung gebracht wird. Andererseits hat die Kandidatin der Linken, Heloísa Helena, keine starke gewerkschaftliche Anbindung und auch nicht die Arbeitermassen hinter sich. Arbeiter in den Fabriken fragen sich: Was sollen wir wählen? Viele sagen sich dann: Wir wählen halt den Verräter Lula, denn er ist der Verräter, den wir kennen. Ohne Wahlpflicht gäbe es bis in den Arbeitervierteln bis zu 80 Prozent Wahlenthaltung.
F.: Was haben die Linken in der PT im Wahlkampf den arbeitenden Menschen gesagt?
Wenn Lula die Arbeiter und Armen in Stadt und Land zur Wiederwahl braucht, dann muss er endlich die Landreform, die Verstaatlichung der besetzten Fabriken und massive Verbesserungen bei Bildung und Gesundheit durchsetzen und die Auslandsschulden annullieren. Und zwar sofort, denn er ist schon Präsident. Er muss mit den bürgerlichen Parteien im Kabinett brechen, die als Vorwand für seine rechte Regierungspolitik dienen. Ich bin als Gründungsmitglied der PT seit 1979 dabei. Wir fordern ein, das zu verwirklichen, was im Gründungsprogramm steht.
F.: Wie soll es nach einer eventuellen Wiederwahl Lulas weitergehen?
Wenn die PT keine Lösung der Probleme bietet, dann muss und wird sich die Arbeiterbewegung ein anderes Instrument schaffen. Lula hat schon angekündigt, dass er gegen unsere Interessen nach seiner Wiederwahl massive Verschlechterungen beim Arbeitsrecht durchsetzen will. Sobald er dies wahr macht, wird er einen Generalstreik provozieren. Aus einer solchen Bewegung könnte eine Dynamik erwachsen, in der schließlich eine neue Massenpartei entsteht.
F.: Im Juli haben sich 2000 Arbeiter aus besetzten Betrieben an einer Solidaritätskarawane in die Bundeshautstadt Brasília beteiligt. Worum ging es dabei?
Unsere Bewegung fordert von der Regierung die Verstaatlichung der besetzten Fabriken. Es geht um die Verteidigung der Arbeitsplätze und Betriebe und unserer Zukunft. Jede Betriebsschließung bedeutet auch einen Friedhof der Arbeitsplätze. Eine Öffnung von Fabriken bedeutet ein Aufblühen. Wir sagen: Sie schließen die Betriebe, wir setzen sie wieder in Gang. Sie stehlen uns das Land und wir besetzen das Land. Sie führen Kriege, wir wollen den Frieden.
F.: Also über besetzte Betriebe und Genossenschaften zum Sozialismus?
Als wir bei CIPLA mit der Betriebsbesetzung begannen, empfahlen uns alle Linken und Kirchen, wir sollten eine Genossenschaft bilden. Dann wären wir unser eigener Arbeitgeber. Wir wollen aber keine Arbeiterchefs sein und Teil der Arbeiterklasse bleiben. Wir wollen zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten und die Ausbeutung insgesamt beenden, nicht nur unsere eigene Ausbeutung.
Eine Genossenschaft wäre in der Marktwirtschaft mit neuen Problemen konfrontiert und dem Druck der marktbeherrschenden multinationalen Konzerne ausgesetzt. Wenn dann nach 2-3 Jahren die Genossenschaft kaputt ginge, würde alle Welt sagen: Da seht ihr, die Arbeiter können es doch nicht – obwohl es eigentlich der kapitalistische Markt war, der den Betrieb vernichtet.
Daher die Forderung nach Verstaatlichung. Mit den jahrelangen Besetzungen haben wir gezeigt, dass wir Arbeiter den Betrieb leiten können und dazu keine Kapitalisten brauchen.
F.: Du hast im letzten Oktober in Caracas an einer lateinamerikanischen Konferenz von Vertretern besetzter Betriebe teilgenommen. Welche Bedeutung haben die erfolgten Verstaatlichungen in Venezuela für Ihr Engagement in Brasilien?
Als die venezolanische Regierung Chávez Anfang 2005 unter dem Druck der Belegschaft die Papierfabrik Venepal verstaatlichte, war dies für uns eine große Rückenstärkung. Wir haben 100.000 Flugblätter verteilt und gesagt: Lula, mach es wie Chávez! Die venezolanische Regierung hat inzwischen mit den besetzten Betriebe in Brasilien Verträge abgeschlossen. Demnach liefert Venezuela günstig Erdöl als Rohstoff für die Kunststoffproduktion und lässt uns zur Zahlung ein Jahr Zeit. Als Gegenleistung helfen wir Venezuela beim Aufbau eines Betriebs, der preisgünstige Fertighäuser aus Kunststoffelementen produziert. Damit kann ein Beitrag zur Behebung der Wohnungsnot geleistet werden. Lula und Argentiniens Präsident Nestor Kirchner sind gegen diese Programme und üben auf Chávez Druck aus, damit er dies stoppt. Denn das wäre ein Vorbild für Argentinien und Brasilien und sie würden damit in den eigenen Ländern unter Druck geraten. Auch in Brasilien ist die Wohnungsnot sehr groß. Ihre Behebung im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung ist nur unter staatlicher Regie möglich.