Männern und Frauen werden aufgrund biologischer Merkmale auch soziale Rollen zugeschrieben. Elka Xharo zeigt, wie der Biologismus zur Begründung von Geschlechterrollen und Frauenunterdrückung dient.
Ein Kind wird geboren. Eine der ersten Fragen, die frisch gebackene Eltern gestellt bekommen, ist „Mädchen oder Bub?“. Mit der Frage nach dem Geschlecht verbinden wir jedoch viel mehr als nur anatomischen Unterschiede. Die Vorstellung, was eine Frau und einen Mann ausmacht, erstreckt sich bis hin zu unterschiedlichen Charakterzügen und Vorlieben. Wir haben gelernt, in diesen scheinbar entgegengesetzten und scharf abgetrennten Kategorien zu denken. Logisches Denken, technische Fähigkeiten und Führungsqualitäten sind eher männlich besetzte Eigenschaften, wohingegen Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Schönheit eher als weibliche Attribute bezeichnet werden. Das Weibliche stellt hierbei meistens eine Negation des Männlichen dar, wodurch zwei scheinbar völlig konträre Pole konstruiert werden: Mars und Venus, Mann und Frau. Immer wieder wurde versucht diese sozialen Unterschiede als biologisch determiniert und somit unveränderbar darzustellen. Doch diese Einteilung ist keineswegs naturgegeben, sondern entspringt den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Verdeutlicht wird dies, wenn man einen Blick auf die unterschiedlichen Geschlechtermodelle der Vergangenheit wirft.
Ein-Geschlecht-Modell
Aufsehen erregten in diesem Zusammenhang die Untersuchungsergebnisse des Historikers Thomas Laqueur. Sie belegen, dass erst im 18. Jahrhundert das bis dahin vorherrschende „Ein-Geschlecht-Modell“ durch unser „Zwei-Geschlecht-Modell“ abgelöst wurde. Ihren Ursprung findet das „Ein-Geschlecht-Modell“ in der Antike, wo Aristoteles postulierte, dass es grundsätzlich nur ein Geschlecht gibt, natürlich das männliche. Frauen waren in diesem Zusammenhang lediglich eine unvollkommene und unterentwickelte Version des männlichen Geschlechts. Die weiblichen Geschlechtsteile wurden als „nach innen gestülpter Penis“ gedeutet. Frauen besäßen genau die gleichen Geschlechtsorgane wie Männer, jedoch seien sie am falschen Platz und dadurch weniger vollkommen. Im Mittelalter wurde keine weitere Geschlechterforschung betrieben, die Theorien von Aristoteles wurden einfach übernommen.
Erst im 18. Jahrhundert wurde dieses Modell völlig umgewälzt. Die Frau wurde nicht mehr als Variation des männlichen Standards gesehen. Die Idee von einem radikalen Dualismus und einer biologischen Unvergleichbarkeit der Geschlechter gewann stattdessen Überhand. In jedem noch so kleinen Detail wurde jetzt versucht die Verschiedenheit und dadurch natürlich die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts zu beweisen. Dieser Umschwung fand in einer Zeit voller politischer Revolution statt, in der auch erstmals die Frauen ihren Platz in der Gesellschaft und die Versprechungen von „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ einforderten. Diesen Bestrebungen galt es mit den Waffen der bürgerlichen Wissenschaft entgegenzuwirken. Dazu eignete sich das neue Modell sehr gut: Die Frauen „bekamen“ nun ein eigenes Geschlecht, aber gleichzeitig konnte man durch die „neuesten Untersuchungen“ behaupten, dass nicht die Menschen, sondern die Natur die Ungleichheit geschaffen habe.
Die Entwicklung dieser Modelle ist nur vor dem Hintergrund konkreter historischer Umstände zu verstehen. Sie hatten immer das Ziel, die Biologie als Instrument für die Rechtfertigungen der gesellschaftlich existierenden Frauenunterdrückung zu missbrauchen. In diesem Punkt können gewisse Parallelen zur Entstehung rassistischer Ideologien beobachtet werden. Schon lange vor den Nazis wurden abstruse Versuche gestartet, um einen biologischen Unterschied zwischen den Ethnien zu konstruieren. Die Biologie hat sich in dem Zusammenhang als gutes Hilfsmittel erwiesen, um die Interessen der herrschenden Klasse durchzusetzen.
Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich dieser Ansatz fort, als von anerkannten Neurologen zu viel Gehirnaktivität bei Frauen als gesundheitsschädlich attestiert wurde. Die Diktion von der „weiblichen Krankheit des Schwachsinns“ war weit verbreitet. Die Hauptaufgabe der Frau sei es zu gebären, Ausbildung sei deshalb eine Verschwendung und führe außerdem zu weniger Kindern. Hier wird der Einfluss von Klasseninteressen in der Wissenschaft besonders deutlich. Für die bürgerliche Klasse ist es natürlich ökonomisch von großem Vorteil, wenn die Reproduktionsarbeit (Hausarbeit, Kinder gebären/erziehen,…) von den Frauen ohne Entlohnung durchgeführt wird. Da ist es umso hilfreicher, wenn man eine biologische Vorbestimmung der Frauen für ein Leben als aufopfernde Mutter ohne Ausbildung und Selbstbestimmung konstruieren kann.
Die Geschlechterlüge
Doch auch heutzutage werden (populär)wissenschaftliche Studien benutzt, um die herrschenden Geschlechterrollen zu verfestigen. Neben nicht wirklich ernstzunehmenden pseudo-wissenschaftlichen Büchern, wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“, gibt es seit einiger Zeit immer mehr Studien, die versuchen Geschlechterunterschiede in der Gesellschaft auf eine neuronale Ebene abzuschieben. Dabei werden oft lediglich die altbekannten Vorurteile in einem fragwürdigen wissenschaftlichen Gewand präsentiert. Wie die australische Psychologin Cordelia Fine in ihrem Buch „Die Geschlechterlüge“ zeigt, werden oft viel zu geringe Stichproben untersucht und Studien, die keine signifikanten Geschlechterdifferenzen aufweisen, wandern zumeist direkt in die Schublade. Nur solche, die einen unterschiedliche Hirnaktivität von Mann und Frau suggerieren, bekommen öffentliches Interesse und werden veröffentlicht.
Aber selbst wenn solche Studien wissenschaftlich korrekt durchgeführt werden, gibt es zwei Faktoren, die die wirkliche Aussagekraft stark relativieren. Zum einem ist bekannt, dass die Gehirnaktivität sich durch Einfluss von außen verändern kann. Das bedeutet, dass bei einem Menschen, der viel kommuniziert, die dafür zuständigen Bereiche im Laufe seines Lebens stärker ausgebaut werden. Somit handelt es sich bei den neuronalen Unterschieden eher um Auswirkungen der gesellschaftlichen Rollen und nicht umgekehrt.
Zum anderen spielt die Selbsterwartung eine große Rolle. Der Psychologe Markus Appel spricht in dem Zusammenhang vom „Stereotyp Threat“. Es zeige sich, dass Menschen durch negative Stereotypen unter Druck geraten und dadurch schlechtere Leistungen liefern. Bei sozialwissenschaftlichen Experimenten ließ er ein und denselben Leistungstest von zwei Gruppen lösen. Der einen Gruppe wurde im Vorfeld gesagt, dass bei diesem Test Mädchen normalerweise schlechter abschneiden. In dieser Gruppe war die Leistung der Mädchen erkennbar schlechter. In der anderen Gruppe, wo nur gesagt wurde, dass es sich um keine mathematischen Aufgaben, sondern nur um Problemlösungen handle, konnte man diese Unterschiede nicht beobachten.
Übrigens wurde auch beim leidigen Thema des Einparkens festgestellt, dass Frauen nicht schlechter einparken, sondern nur aufgrund von Unsicherheit in ihre Fähigkeiten öfters nachkorrigieren.
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Dieses Phänomen der Unsicherheit spielt auch in vielen anderen Bereichen der Geschlechterrollen eine große Rolle. Wenn wir zum Beispiel die unterschiedliche Berufswahl von Frauen und Männer betrachten. In Berufsorientierungsgesprächen mit Schülerinnen kann man feststellen, dass viele von ihnen ihre technischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten unterschätzen und deshalb davor zurückschrecken eine Ausbildung in diesen Bereichen einzuschlagen. Wohingegen man bei vielen Schülern, die weitaus schlechtere Leistungen erbringen, keinerlei Bedenken oder Unsicherheit bemerken kann.
Das Bild, welches die Gesellschaft von Frauen oder Männern zeichnet, hat einen massiven, uns oft nicht bewussten Einfluss auf unser Selbstbild.
Geschlechterrollen haben in diesem Zusammenhang somit auch den Charakter von selbsterfüllenden Prophezeiungen, also Vorhersagen, die sich deshalb erfüllen, weil wir an sie glauben und uns – meist unbewusst – aufgrund der Vorhersage so verhalten, dass sie sich erfüllt. Dieser gesellschaftliche Einfluss fängt schon im Kleinkindalter an. Eltern, Verwandte, SpielkameradInnen und Medien „helfen“ dabei, unsere Geschlechterrolle schon sehr früh zu entwickeln. Gerade der Einfluss der Medien ist enorm, wenn man bedenkt, dass in Deutschland Kinder bis vor ihrem Schuleintritt durchschnittlich 1000 h vor dem Fernseher verbringen.
Welche negativen Konsequenzen das hat, sieht man z.B. am zuvor erwähnten Beispiel der unterschiedlichen Berufswahl. Flächendeckend lässt sich beobachten, dass die „Frauenbranchen“ (Soziales, Einzelhandel, Pflege,…) ein viel niedrigeres Durchschnittseinkommen haben, während Männer meist in Branchen arbeiten, die ein hohes Einkommen versprechen und vor allem einen hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad aufweisen. Die Stärke der Gewerkschaft manifestiert sich natürlich in besseren Arbeitsbedingungen und besseren Kollektivverträgen.
Nicht nur Schwarz und Weiß
Von einem biologischen Standpunkt muss man sehen, dass es viele Ebenen der Geschlechterdifferenzierung gibt, die nicht immer übereinstimmen müssen. Zum Beispiel können die Chromosomen etwas anderes anzeigen als der Hormonhaushalt oder die Geschlechtsorgane. Sich auf diese Erkenntnis stützend stellen liberale Kreise die Forderung auf, dass alle Menschen frei über ihr (rechtliches) Geschlecht bestimmen können oder dass ein „drittes Geschlecht“ eingeführt werden soll, um zu betonen, dass es zwischen Mann und Frau noch unzählige Schattierungen gibt (in Deutschland betrifft dies zur Zeit circa 100.000 Personen). In Argentinien wurde die Forderung nach einer freien Wahl des rechtlichen Geschlechts sogar vor einigen Wochen durchgesetzt und erspart somit vielen Transgender-Personen langwierige Prozesse und Nachweise über chirurgische Eingriffe.
Diese Relativierungen der herrschenden Vorstellung von den Geschlechtern können das persönliche Schicksal von betroffenen Personen also durchaus verbessern. Aber dennoch müssen wir sehen, dass die real existierenden Unterdrückungsformen in unserer Gesellschaft dadurch noch lange nicht beseitigt werden. Frauenunterdrückung wird so lange bestehen bleiben, solange die herrschende Klasse ein Interesse daran hat. Dieses wird mit der Einführung eines “dritten Geschlechts” oder durch Judith Butlers Philosophieren über die Nicht-Existenz von unterschiedlichen biologischen Geschlechtern nicht verpuffen, gerade weil Frauenunterdrückung ihre Wurzeln nicht in der tatsächlichen biologischen Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts hat, sondern untrennbar mit der Entwicklung der Klassengesellschaft verbunden ist. Um die Grundlage für wirkliche Frauenbefreiung schaffen zu können, ist es deshalb unbedingt notwendig, dass wir nicht nur den ideologischen Kampf gegen Sexismus und Frauenunterdrückung führen, sondern auch gegen die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, die auf der Ungleichheit in der Gesellschaft aufbauen.